"Tatort": Nur der Tod bleibt analog
„Odyssee: 2001 im Weltraum“ gibt es jetzt auch als „Tatort“. Der Supercomputer HAL heißt jetzt Bluesky. Die Kommissare müssen einen Fall zwischen virtueller und realer Welt lösen.
Die Cineasten unter den „Tatort“-Fans werden gleich hellwach sein. Damals, es war im Jahr 1968, kam Stanley Kubricks faszinierend-verstörender Sciencefiction-Film „2001: Odyssee im Weltraum“ in die Kinos. Niki Stein, Autor und Regisseur des Stuttgarter „Tatorts: HAL“, nimmt Thema und Motive des Meisterwerks auf. Ein Mädchen läuft am Neckar entlang und sieht etwas Großes im Wasser treiben. Sie nimmt ein Stück Holz nach dem anderen, wirft es nach dem Treibgut. Das letzte Stück Holz fliegt und dreht sich und fliegt und dreht sich ...
Das Treibgut ist eine Tote, Elena Stemmle (Sophie Penningstorf), Schauspielschülerin mit Nebenjobs bei einem Escort-Service und bei der Softwarefirma Bluesky. Dort war sie Probandin für das Social-Analysis-Programm, dem Stolz von Geschäftsführerin Mea Welsch (Karoline Eichhorn) und Entwickler David Bogmann (Ken Duken). Bogmann war Kunde von Elena, es taucht ein Snuff-Video im Netz auf, das von seiner IP-Adresse stammt und den mutmaßlichen Erstickungstod von Escort-Elena zeigt.
Kommissare agieren analog
Die Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) ermitteln bei Bluesky. Sie sind – der jüngere Bootz noch weit mehr als Lannert – im Analogen zu Hause. Sie stellen sich, wahrscheinlich im Auftrag des unwissenden Zuschauers, bei fast allen Fragen zu Digital, Big Data und Darknet als Gegenpole zu den Bluesky-Nerds heraus. Skepsis, Misstrauen und die Warum-Wieso-Weshalb-Fragen durchziehen ihre Fahndung. Es darf angenommen werden, dass auch Niki Stein von der Sorge beseelt ist, dass Daten unser Leben nicht nur überwachen, sondern beherrschen und lenken werden. Dabei soll Bluesky nur Gutes bewirken, dass das Analyseprogramm nämlich zukünftiges Gewaltverhalten von Menschen wird prognostizieren können. Deswegen gehört auch das LKA zu den Kunden.
David Bogmann glaubt zu erkennen, dass das selbst lernende Bluesky-Programm außer Kontrolle geraten ist: Er fühlt sich von seiner Erfindung verfolgt, er fürchtet, dass Bluesky Geschehnisse und Personen manipuliert, dabei ein Narrativ erstellt, wonach nur er der Mörder von Elena Stemmle sein kann. Würde Bogmann verhaftet, wäre der einzig ebenbürtige Feind von Bluesky verschwunden.
Auch der Supercomputer HAL 9000 beginnt bei „2001: Odyssee im Weltraum“ ein Eigenleben. Astronaut Bowman muss ihn abschalten, wenn er überleben will. Bowman? Bogmann? Niki Stein kennt die SF-Saga aus dem EffEff, aber er transferiert und transportiert sie nach Stuttgart, wo ein sehr irdischer Mord nach seiner analogen Aufklärung verlangt.
Krimi verschränkt Irdisches und Künstliches
Der „Tatort: HAL“ ist interessant in seiner Anlage, in seiner Verschränkung aus Irdischem – Liebe, Eifersucht bis hin zum Mord – und Künstlichem – Ego-Shooter, Darknet, Gesichtserkennung. Wenn Bluesky-Chefin Mea Welsch die Kommissare fragt: „Was ist echt?“, dann fragen sich die Zuschauer das auch. Es steckt Raffinesse im Plot, es steckt Ehrgeiz in den visuellen Effekten (Martin Winkler), die Vernetzung der Ebenen funktioniert im Szenenbild (Joachim Schäfer), in den cineastischen und in den literarischen Bezügen: Die Kapitelüberschriften spielen auf Werke von Franz Kafka an. Das müsste nicht sein, zeugt von Angeberei und Bedeutungshuberei, behindert das Filmverständnis aber nicht. Gut so, dieser „Tatort“ benötigt im Kleinen wie im Großen hohe Konzentration.
Der Krimi, und trotz aller Verweise und Verzweigungen ist es ein Krimi, transportiert die Warnung, dass sich die Menschen via Big Data und Deep Learning an die Maschine verlieren werden, ihre eigene Intelligenz ohne Not, ohne Sinn, ohne Verstand an die künstliche Intelligenz überantworten. Sehr gefährlich, Bluesky besitzt keinen Kompass von Gut und Böse, kein Gefühl für menschliche Gefühle, sondern nur die Gier zur Macht. Da kommt der Zeigefinger in die gestreckte Haltung und bleibt dabei.
Mühsam fügen sich die Puzzlestücke zusammen
Die Figuren geraten darüber zu Thesenträgern. Noch mal und unterstrichen: Ein interessanter Krimi, aber diese Qualität reicht nicht soweit, dass dieser „Tatort“ sehr gut ist. Die Exposition schleppt sich, zahlreiche Dialoge haben Erklär- und Aufsagecharakter, bescheidene Männer-und-Frauen-Witze kommen hinzu, der Referendar hat was mit der Staatsanwältin, im Nebenberuf ist er Gigolo, das Gesicht von Bluesky ist eine Schimpansen-Fratze („Odyssee“!). Regisseur Stein hat erkennbare Mühe, mit dem Drehbuch von Autor Niki Stein Schritt zu halten. Jede weitere Inszenierungsanstrengung unterbleibt, zu mühsam müssen die Puzzlestücke zusammengesucht und -gefügt werden, auf dass nicht Handlung, Personen und Zuschauer aus der Kurve fliegen. Richy Müller bleibt als Fahnder Lannert der Ruhepol, da ist Konzentration, da ist Inspiration statt Transpiration.
„Tatort: HAL“, ARD, Sonntag, um 20 Uhr 15