"Tatort" mit Ulrich Tukur: Tarantino in Wiesbaden
Und jetzt noch schnell die Kinder ins Bett schicken: Zwischen Kill Bill und dem Lied vom Tod – der „Tatort“ mit Ulrich Tukur kommt als Rachewestern daher.
Diesen genialen „Tatort“ wird man so schnell nicht vergessen, so wie Autor Michael Proehl und Regisseur Florian Schwarz die Theater-, Musik- und Filmgeschichte nicht vergessen haben. Gleich zu Beginn lungern drei abgerissene Typen in der Mittagshitze an den Bahngleisen herum, spielen mit ihren Pistolen und ärgern sich über aufdringliche Fliegen, während sie auf den Zug warten, genauer: auf den Passagier, der gleich in Erscheinung treten wird. Der Reisende steigt aus dem Zug, bleibt vor den drei Killern stehen, setzt seelenruhig seinen Koffer ab – und zieht unbeschadet von dannen. Zurück bleiben drei Leichen.
Die berühmte Szene aus Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ ist nur eines der zahlreichen Filmzitate aus dem Hessen-„Tatort“, den die ARD an diesem Sonntag zeigt. Statt Charles Bronson steigt allerdings Ulrich Matthes aus dem Regionalzug der Deutschen Bundesbahn, und natürlich sind die Bösewichter nicht mit unförmigen Trommelrevolvern, sondern mit modernen Automatikpistolen bewaffnet. Und noch etwas ist anders: Eine Überwachungskamera auf dem Bahnsteig hat das Bild des Reisenden eingefangen. Und obwohl es dreißig Jahre her ist seit ihrer letzten Begegnung, erkennt LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) in Richard Harloff sofort den früheren Jugendfreund, mit dem er einst zusammen die Polizeischule besucht hatte – bis Harloff rausgeworfen wurde, weil er ein Pfund Haschisch unterschlagen hatte. Doch warum kehrt der gefürchtete Drogenbaron aus Bolivien zurück? Und wie starben die drei Männer auf dem Bahnsteig, obwohl Harloff nicht einmal mit der Wimper gezuckt hat?
Die Toten vom Bahnsteig sind nur der Auftakt zu einer ästhetisch durchkomponierten Gewaltorgie, wie sie selbst der Hamburger „Tatort“ mit Til Schweiger noch nicht gesehen hat, und die man sonst von einem Quentin Tarantino erwarten darf. Mehrere Dutzend Leichen pflastern den Weg von Harloff und Murot in dieser „Tatort“-Folge. Einen solchen Sonntagabend-Krimi hat man im deutschen Fernsehen noch nicht gesehen, nicht einmal aus Hessen. Anders wäre es auch schwer zu erklären, dass „Im Schmerz geboren“ bereits vor der Ausstrahlung zwei Preise beim Münchner Filmfest und in Ludwigshafen eingeheimst hat. Für das Duo Schwarz/Proehl ist es nicht die erste Auszeichnung für einen HR-„Tatort“. 2010 wurden sie für „Weil sie böse sind“ mit einem Deutschen Fernsehpreis geehrt.
Die Geliebte wird geteilt
Bei der Auswahl der Musik hat Schwarz ganz auf Klassik gesetzt. Der Soundtrack enthält Stücke von Bach, Beethoven, Brahms, Chopin, Grieg, Händel, Sibelius, Tschaikowski, Verdi und Vivaldi. Neun der insgesamt 23 Stücke wurden vom Sinfonie-Orchester des Hessischen Rundfunks unter Leitung von Frank Strobel neu aufgenommen.
Harloff und Murot hatten einst alles geteilt, wie im Truffaut-Film „Jules et Jim“ sogar die Geliebte. Jetzt ist Harloff wieder zurück, will Rache nehmen für einen lange zurückliegenden Verrat. Er kommt nicht allein, sein Sohn David setzt die Rachegelüste des Vaters in die Tat um. Der Hessen-„Tatort“ spielt dabei mit Zitaten aus nahezu dem kompletten Kulturbetrieb. Wie im shakespeareschen Theater führt ein Erzähler – Alexander Held hat eine Doppelrolle, er steht zugleich als örtlicher Autoschieber Alexander „Don“ Bosco auf der schwarzen Liste von Richard Harloff – in die Handlung ein. „Genug der Worte, lasst uns sehen, was dieses Spiel uns zeigen will“, ruft er aus.
„Tatort“-Folgen, in denen Kommissare von ihrer Vergangenheit eingeholt werden, gibt es im Dutzend. Besonders Schimanski hatte fast ausschließlich mit Kriminellen zu tun, mit denen er in seiner Jugend Pferde gestohlen hatte. Von den aktuellen Kommissaren kämpft vor allem Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) mit den Schatten aus der Vergangenheit.
Das sprengt den Rahmen
Eine derart verspielte, aber zugleich hoch konzentrierte Umsetzung eines Stoffes kann sich das Fernsehen – wenn überhaupt – nur alle Jubeljahre leisten. Dabei haben die Fälle von Felix Murot vom Zuschauer von Beginn an höchste Bereitschaft gefordert, sich auf unkonventionelle Ermittlungsmethoden einzulassen. Von Visionen wird der LKA-Mann zwar nun nicht mehr geplagt. Der Tumor im Kopf macht ihm nicht mehr zu schaffen. Doch mit Allerweltsfällen gibt sich ein Felix Murot nach wie vor nicht ab. Dieser Fall sprengt allerdings den Rahmen vollends. Als Zuschauer sollte man sich zurücklehnen und genießen: die Musik, den Plot, die Bilder, die Zitate. Und natürlich die Darsteller. Ulrich Matthes verleiht Ex-Drogenboss Harloff etwas durch und durch Diabolisches. Noch schwerer ist es allerdings, hinter die Fassade seines Sohn David (Golo Euler) zu blicken, diesem offenherzigen, sympathischen Mann und Profikiller.
Erzähler Held fordert das Publikum noch auf, die „Kinder schnell zu Bette“ zu schicken. Da ist der Theaterdonner lauter als das Gewitter. An einigen besonders blutigen Stellen wurde vorsorglich zum Mittel der grafischen Verfremdung gegriffen – sonst hätte der Jugendschutzbeauftrage des Senders beim Shootout vor dem Wiesbadener Casino womöglich nicht mitgespielt.
„Tatort: Im Schmerz geboren“, ARD, Sonntag, 20 Uhr 15