TV-Kritik "Anne Will": Talk-Chaos vor dem schwierigen Flüchtlingsgipfel
Der Titel reißerisch, die Gäste kaum zu bändigen. Immerhin blieb die Gastgeberin souverän - und bescherte Justizminister Maas den peinlichsten Moment des Abends.
Die Talkshow von Anne Will brachte am Sonntag den Streit um die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union erneut zur Aufführung. Was blieb der Redaktion anderes übrig am Vorabend des EU-Sondergipfels mit der Türkei, auf dem so viel Erwartungsdruck liegt? Der Titel der Sendung war alarmistisch: „Ist Europa noch zu retten?“, das Unterfangen undankbar: Alles schien bereits gesagt.
Immerhin war die Runde mit zwei Bundesministern prominent besetzt: Österreichs blutjunger Außenminister Sebastian Kurz und Deutschlands Justizminister Heiko Maas saßen im Studio. Sebastian Kurz präsentierte sich kalt und gewieft. „Wenn ich Flüchtling wäre, würde ich auch nach Deutschland oder Österreich kommen wollen“, sagte er.
Doch diese Empathiebekundung war nur der Einstieg, um seine Kernaussage zu verbrämen. Die lautet, dass viele Flüchtlinge in Europa nur „ein besseres Leben“ suchten. Drei Mal brachte er den Satz in der gestrigen Sendung unter. Indem er den an der mazedonischen Grenze Gestrandeten die existentielle Bedrohung abspricht, schafft er eine Rechtfertigung dafür, sie dort aufzuhalten.
Es kämen ohnehin nur die Starken nach Europa, sagte Kurz. Die Schwachen müssten in ihren Heimatländern ausharren. Denen müsse man helfen. Wie genau er sich das vorstellte, sagte er nicht. Keiner hakte nach. Die Diskussion brandete weiter. Das ist es, was Talkrunden so unbefriedigend macht.
Gestern waren die Rollen klar verteilt. Die Pole reichten von Katja Kipping von der Linkspartei, die so lange alle Flüchtlinge nach Deutschland lassen will, bis sich die Lebensbedingungen auf der Welt angeglichen haben, bis zu Richard Sulik, einem slowakischen Europa-Parlamentarier, der keine Flüchtlinge mehr in sein Land lassen will. Die Einladung von Sulik, der sich in anderen Talkshows bereits in der Rolle des Krawallmachers bewährt hatte und auch bei Anne Will zuverlässig den Populisten gab, war ärgerlich.
Der Erkenntniswert der gestrigen Sendung lag allein darin, dass sie einen Vorgeschmack darauf lieferte, wie schwierig der heutige Gipfel wird. Im Studio entspann sich eine chaotische Diskussion. Gäste fielen einander ins Wort, sie hielten die Position des jeweils anderen kaum aus, waren nicht zu bändigen.
Aber das versuchte Anne Will auch nicht groß. Sie agierte zurückgenommen, aber souverän. Die Strenge, mit der Moderatoren mit ihren Gästen oft umgehen, ist mittlerweile zur Pose geronnen. Stattdessen trieb Will mit klugen Fragen die Debatte voran.
Als Heiko Maas beispielsweise auf die Kooperation mit der Türkei abhob, fragte sie ihn: „Ist es moralisch hochwertiger, wenn Flüchtlinge außerhalb der EU abgehalten werden?“ Sie bescherte Maas außerdem den peinlichsten Moment der Sendung. Einen Applaus, der auf einen Debattenbeitrag des Justizministers folgte, kommentierte sie lachend. „Wir begrüßen auch den Sprecher von Heiko Maas, der hier immer ganz besonders laut klatscht.“ Der Minister hatte einen Claqueur mitgebracht.