EU-Gipfel mit der Türkei: Ein Treffen unter komplizierten Bedingungen
Die EU ist auf die Türkei angewiesen, um die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu reduzieren. Doch der jüngste Schlag gegen die freie Presse in der Türkei macht die heutigen Gespräche noch schwieriger.
Es wird wohl ein schwieriges Gipfeltreffen von Europäischer Union und Türkei an diesem Montag in Brüssel. Und der neue Schlag gegen die freie Presse macht die Verhandlungen sicherlich noch komplizierter. In Vorgesprächen mit Ankara hatten EU-Vertreter in den vergangenen Tagen Möglichkeiten für eine spürbare Reduzierung der Flüchtlingszahlen erörtert. Doch die Beschlagnahmung der regierungskritischen Zeitung „Zaman“ durch türkische Behörden wirft die Frage auf, wie die EU mit der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan generell umgehen sollte, die ja ein wichtiger Verbündeter in der Flüchtlingskrise sein soll.
Wie ist die Situation der Flüchtlinge in der Türkei?
Nach Regierungsangaben leben inzwischen rund 2,7 Millionen Schutzsuchende aus dem Bürgerkriegsland Syrien in der Türkei; hinzu kommen etwa 300.000 Iraker und mehrere zehntausend Afghanen. Da nur knapp 300.000 Flüchtlinge in Auffanglagern leben, wächst der Druck auf die türkische Regierung, mehr zur Unterstützung und zur Integration der großen Masse der Menschen zu tun. Im Januar beschloss Ankara, Arbeitsgenehmigungen für Syrer auszustellen, um sie von der Fahrt nach Europa abzuhalten.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Sicherung der Schulbildung für syrische Kinder. Hier will sich die EU besonders engagieren. Kurz vor dem Gipfel verkündete Brüssel das erste Projekt aus dem zugesagten Hilfsfonds von drei Milliarden Euro für Syrer in der Türkei: Mit 55 Millionen Euro sollen Schulplätze für rund 110.000 syrische Kinder geschaffen werden. Mit weiteren 40 Millionen Euro finanziert die EU Lebensmittelhilfe für mehr als 700.000 Syrer über das Welternährungsprogramm der UN.
Was erhofft sich die Türkei vom Treffen?
Ministerpräsident Ahmet Davutoglu wird bei seinem Treffen mit den EU-Regierungschefs nicht nur über die Flüchtlinge reden wollen. Die Türkei sieht die Flüchtlingskrise als Chance, die Europäer auf bereits länger vorgetragene, aber bisher vom Westen ignorierte Standpunkte aufmerksam zu machen. So war es kein Zufall, dass Erdogan wenige Tage vor dem Brüsseler Gipfel den Plan zur Errichtung einer Schutzzone innerhalb Syriens erneut auf die Tagesordnung brachte: Der Präsident regte den Bau einer neuen Stadt im Norden Syriens an, in der Flüchtlinge eine neue Heimat finden könnten.
Europa und die USA stehen dem Vorhaben sehr skeptisch gegenüber, weil die Regierung in Damaskus und ihr Verbündeter Russland kaum damit einverstanden wären. Außerdem ist unklar, woher die Bodentruppen kommen sollen, um die Schutzzone gegen den „Islamischen Staat“ (IS) oder andere Angreifer zu verteidigen. In Brüssel dürfte Davutoglu zudem alles daran setzen, der EU feste Zusagen in zwei Bereichen zu entlocken: Zum einen erwartet Ankara die baldige Eröffnung neuer Verhandlungskapitel in den türkischen EU-Beitrittsgesprächen, zum anderen pocht Davutoglu auf das Ende der Visapflicht für Türken im Schengen-Raum ab dem Herbst. Für den Fall, dass sich die EU nicht daran hält, droht Ankara mit einem Ende der Kooperation in der Flüchtlingsfrage.
Was will die EU beim Gipfel erreichen?
Davutoglus europäischen Gesprächspartnern läuft die Zeit davon. Politiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel stehen unter wachsendem innenpolitischen Druck und wollen ihren Wählern baldmöglichst konkrete Ergebnisse beim Thema Flüchtlinge vorweisen können. Deshalb steht für die EU eine rasche und spürbare Senkung der Flüchtlingszahlen im Vordergrund. Derzeit kommen immer noch jeden Tag knapp 2000 Flüchtlinge aus der Türkei in Griechenland an. Diese Zahl sei noch viel zu hoch, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk kurz vor dem Gipfel. Und EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos betonte, in Griechenland würden allein im März 100.000 weitere Flüchtlinge erwartet.
Das Land sieht sich schon jetzt mit rund 30.000 Flüchtlingen überfordert, die wegen der Schließung der Grenzen entlang der Balkanroute nicht nach Mazedonien weiterreisen können. Laut einer Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei soll die Nato beim Vorgehen gegen das Schlepperunwesen in der Ägäis helfen. Bisher verzögert sich der Einsatz, weil Griechenland und Türkei wegen eines nicht festgelegten Grenzverlaufs in der Ägäis künftige Gebietsansprüche des jeweils anderen befürchten. In türkischen Regierungskreisen wurde vor dem Gipfel jedoch betont, die Gespräche über die Einsatzmodalitäten für die Nato-Schiffe liefen gut. Die Nato-Operation sei wegen des Gebietsstreits nicht gefährdet.
Ein weiteres wichtiges Thema beim Gipfel wird die Rückführung abgelehnter Asylbewerber in die Türkei sein. Laut Medienberichten sagte Davutoglu bei seinem Treffen mit Tusk zu, dass die Türkei viele Menschen aus Europa wieder zurücknehmen will. Dabei geht es vor allem um Flüchtlinge aus Afghanistan, die inzwischen ein Viertel aller in Griechenland ankommenden Menschen ausmachen. Zudem soll die Türkei an ihrer eigenen Ägäisküste mehr gegen die Schlepper unternehmen, weil nach wie vor viele Flüchtlingsboote ungestört von türkischen Buchten aus ablegen können; Ankara verweist auf die Bildung einer Sondereinheit des Innenministeriums mit rund 3000 Polizisten.
Wie wirkt sich das Vorgehen gegen regierungskritische Medien in der Türkei aus?
Als wären diese unterschiedlichen Erwartungen für sich allein nicht kompliziert genug, wird der Gipfel nun auch noch durch das Vorgehen der türkischen Behörden gegen die Zeitung „Zaman“ belastet. Das Blatt, bis zur Übernahme durch staatliche Zwangsverwalter am Freitag ein führendes Sprachrohr von Erdogan-Gegnern, verwandelte sich am Sonntag nach einer an einen Orwell-Roman erinnernden 180-Grad-Wende in eine extrem regierungsfreundliche Publikation.
Zwar betonte Premier Davutoglu, die Beschlagnahmung sei Teil eines juristischen Verfahrens und habe nichts mit Politik zu tun. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, durch ihre Nähe zur Bewegung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen habe „Zaman“ staatsfeindliche Aktivitäten unterstützt. Doch die USA, die EU und Kritiker der Regierung in der Türkei selbst sehen das Vorgehen gegen die Zeitung als weiteren Schritt bei der Gleichschaltung der Medien. Der Raum für politischen Dissens im EU-Bewerberland wird damit immer enger. Erdogan-Anhänger sagen bereits die Übernahmen weiterer kritischer Medien voraus.
Die EU steht angesichts der Entwicklung vor einem schwierigen Balanceakt. Auf der einen Seite braucht Brüssel die Mitarbeit der Türkei in der Flüchtlingsfrage; Erdogan hatte der EU bereits im vergangenen November damit gedroht, die Schutzsuchenden in Busse zu setzen und nach Europa zu schicken, wenn die EU nicht auf die Forderungen seines Landes eingehen sollte. Auf der anderen Seite betonen EU-Politiker, die Grundprinzipien der Union seien nicht verhandelbar. Regierungsgegner in der Türkei, die sich von Europa im Stich gelassen fühlen, werfen der EU dagegen vor, wegen Ankaras Bedeutung beim Flüchtlingsthema die Augen vor dem fortschreitenden Abbau der Demokratie zu verschließen.
Welche Lösung ist möglich?
In Brüssel dürften EU und Türkei versuchen, eine scharfe Konfrontation zu vermeiden. Schließlich ist eine engere Kooperation für beide Seiten von Vorteil. Einige EU-Vertreter betonen, dass Fortschritte bei den Beitrittsgesprächen – etwa Verhandlungen über die Bereiche Justiz und Grundrechte – einen gewissen Reformdruck in der Türkei entfalten könnten. Allerdings könnten sich Merkel und andere Regierungschefs den Vorwurf der Leisetreterei einhandeln, wenn sie die rechtstaatlichen Defizite in der Türkei nicht klar ansprechen. Am Sonntag, dem Tag vor dem Gipfel, lieferten die türkischen Behörden weiteren Stoff für warnende Worte an Davutoglu: In Istanbul ging die Polizei mit Tränengas und Gewalt gegen eine Demonstration zum bevorstehenden Weltfrauentag am 8. März vor.
Was steht für Kanzlerin Angela Merkel auf dem Spiel?
Merkel muss mittelfristig einen Weg finden, der verhindert, dass Deutschland automatisch zum bevorzugten Zielland für die Flüchtlinge wird. Eine knappe Woche vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ist der Druck auf die Kanzlerin, eine Senkung der Flüchtlingszahlen in Deutschland vorzuweisen, derweil gesunken – weil eine Ländergruppe um Österreich mit der weitgehenden Schließung der Balkanroute derzeit die Debatte um den Andrang der Migranten in Deutschland faktisch entschärft hat. Der Druck in der Krise lastet momentan daher nicht nur auf Deutschland als dem Wunschziel vieler Flüchtlinge, sondern mindestens genauso stark auch auf Griechenland.