Warum lineares Fernsehen weiter gebraucht wird: Sehnsucht nach Stabilität
Altes Fernsehen in neuen Zeiten: Ein Hoch auf den „Tatort“, das „Traumschiff“ und „Inspector Barnaby“.
Die Prognose ist nicht so gut: Es heißt, das Fernsehen sterbe aus. So wie sein Publikum, das über sechzig ist und mit dem Internet nicht klarkommt. Die junge Generation glotzt Youtube und macht es auch selbst. Sie schaut keinesfalls mehr fern. Sie unterhält sich anders, sie informiert sich anders, sie guckt auf Smartphones, tummelt sich in den sozialen Netzwerken und braucht den großen Bildschirm nur für ihre Games. Oder dafür, sich Angebote der Streaming-Dienste reinzuziehen. Dass Fernsehen noch existiert, weiß sie gar nicht. „Tatort“? Altes Zeug. Arme Oma, die so was sehen muss.
Bei dieser Diagnose ist nicht ganz klar, was mit „Fernsehen“ gemeint ist. Man verwechselt gern Endgerät und Programm. Was das Fernsehen so sendet, kommt ja auch im Computer auf den Monitor und kann da zeitversetzt empfangen werden. Und der Fernsehapparat wird genutzt, um Serien von Netflix oder Amazon zu konsumieren. Also ist „das Fernsehen“, was immer man darunter versteht, doch noch dabei und gehört dazu. Wer „lineares Fernsehen“ sagt, meint allerdings das nach Stundenplan ablaufende TV-Programm, öffentlich-rechtlich oder kommerziell, so wie es in der „HörZu“ steht oder im Netz nachgeschlagen werden kann.
Verändertes Einschaltverhalten
Das sind Sendungen, die, obschon später zum Teil noch in den Mediatheken abrufbar, zu einer vorbestimmten Zeit anfangen und enden, und in dieser Hin-Sicht hat sich in der Tat etwas verändert: das so genannte Einschaltverhalten. Es löst sich von den Vorgaben. Den „Tatort“ kann man einen Tag später nach-gucken, und Fernsehkritiker können ihn vermittels eines Zugangscodes vorher sehen. Das TV-Zeitfenster also geht nicht mehr nur zu einer bestimmten Zeit auf und zu, der Nutzer kann es öffnen, wann er will. Aber auch das stimmt nicht ganz: Bei Live-Sendungen ist es wieder das pünktliche Einschaltverhalten, das sich durchsetzt. Niemand hat Lust, ein Fußballspiel am nächsten Abend zu gucken, und nur exzentrische Frömmler schauen den Gottesdienst am Montagmorgen. Wenn irgendwo die Erde bebt oder ein Terroranschlag passiert, muss es die „Tagesschau“ sein. Die alten Regeln gelten nicht mehr überall und immerzu, aber sie treten dann doch mal wieder in Kraft. Und es ist auch keineswegs so, dass „das Fernsehen“ dahinstirbt, während die Youtuber die Welt nötigen, sich ihre Angebote plus Schleichwerbung reinzuziehen. Es handelt sich lediglich um ein Mehr an Vielfalt, was Endgeräte und Programme und Einschaltverhalten betrifft, da existiert vieles nebeneinander. Man hat auch schon von Jugendlichen gehört, die „Tatort“ gucken, und im Übrigen verlangen sie als Follower von ihren Youtube-Kanälen unbedingt Regelmäßigkeit. Auf der anderen Seite gibt es Endsechziger, die ihre Silberhochzeit filmen und ins Netz stellen. Also: Immer langsam mit den fatalen Prognosen, „das Fernsehen“ wird es noch lange machen. Was allerdings richtig ist: Sein Monopol auf die audiovisuelle Infrastruktur, das Fernsehen als Medium noch vor der Jahrtausendwende innehatte, musste es aufgeben. Es ist nur noch ein Anbieter unter mehreren.
Aber was ist mit seinem Programm? Ist das nun nicht doch von gestern? Wie kann es sein, dass der Ostersonntag bei ARD und ZDF mit „Tatort“, „Traumschiff“ und „Inspector Barnaby“ daherkommt. Ist das zu fassen? Ostern haben die Leute frei, und die, die noch fernsehen, egal aus welcher Generation, möchten doch Spaß vor der Glotze haben, und dazu gehört ein „Event“, etwas Besonderes, Singuläres, etwas, das sein Publikum fasziniert, verstört, herausfordert. Sollte man denken. Ist aber gar nicht so. Die Bedürfnisse des Publikums sind vielfältig. Und es ist eines dabei, das in den Mediendiskursen regelmäßig unterschätzt wird: die Sehnsucht nach Stabilität, Konstanz und Wiederkehr des Gleichen. Ja, so ist es, und diese Sehnsucht gibt es sogar in der jungen Generation. Ohne sie erwürbe nämlich niemand, weder das Kind noch der Youngster noch die Oma, das, was man Medienkompetenz nennt – die wir alle brauchen, um mit den Angeboten aus dem Netz oder den StreamingDiensten oder den Social Media oder dem Fernsehen irgendetwas anzufangen.
Die neuen Zeiten machen Werbung für sich selbst. Sie feiern die Sensation, das Noch-nie-Dagewesene. Sollen sie. Die Nutzer aber müssen alles Unerhörte in ein Muster eintragen, das sie mit der Zeit und in ihrer Zeit ausgeprägt haben. Ihre Neugier richtet sich zwar auf die Show mit dem Einmaligkeitswert, ihr Verständnis aber braucht ein Raster, dessen Elemente aus Ablagerungen alter Sachen besteht. Das ist bei allen Altersstufen so, nicht nur bei Senioren. Die jungen Leute sind, während sie sich auf Neuigkeiten stürzen, immer auch damit beschäftigt, ihre Empfangsbereitschaft zu sichern, indem sie ihre Seherfahrungen sortieren und auf ihnen weiter aufbauen, und dabei hilft ihnen – genau wie den Alten – nichts so gut wie die Wiederholung.
Die neuere Begeisterung für Serien, die vor allem die Jugend ergriffen hat, knüpft hier an: Die Zuschauergemeinden sollen „dranbleiben“ und immer wieder dieselben Gesichter sehen wollen. Sigmund Freuds Mantra für die Psychoanalyse hieß: „Erinnern – wiederholen – durcharbeiten“. Dieser Dreiklang spielt genauso seine Rolle für die Publika beim Aufbau von Orientierung und Interpretationsfähigkeit in der Welt der Medien. Die Wiederholung ist keine schlechte Angewohnheit der Alten und die Lust auf Überraschung kein Privileg der Jugend. Erst in der Kombi wird ein Paar Schuhe draus. Man kann noch einen Gewährsmann weiter zurück in die Geschichte gehen. Sokrates war es, der gesagt hat: „Alles lernen ist erinnern.“
Das in Zielgruppen zerflatterte Netz- und Fernsehpublikum ist treulos, unzuverlässig und flüchtig geworden, so heißt es, aber jeder weiß, dass es immer noch die anhänglichen Glotzer gibt, die „ihre“ Serie, freitags die „heute-show“ oder sonntags den „Tatort“ gucken, denn sie wollen in der volatilen Medienwelt auch ein Zuhause haben, einen Anker, einen Platz, den sie kennen und von dem aus sie aufbrechen, aber ebenso wieder zurückkommen können. Es ist wie auch sonst im Leben: Wo nichts Vertrautes mehr lockt, macht schließlich der ganze Laden nur noch Angst und führt zu Frust. Das wissen die Programmmacher, die uns im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an Ostern mit neuen Sachen nicht überraschen, ziemlich gut.
Was wäre denn los, wenn die „Tatort“-Produktion morgen eingestellt würde? Das möchte man sich gar nicht ausmalen. Die jungen Leute haben auch ihre heiligen Kühe, die niemand schlachten darf, sonst setzt es Shitstorms. Im Übrigen schauen viele von ihnen auf den privaten Fernsehkanälen die Castingshows. Das Format hat eine unglaubliche Karriere gemacht und wird von fast sämtlichen Anbietern kopiert. Es hat Anker-Qualitäten, indem es in den Köpfen der jungen User den Rahmen bildet, in dem sie ihre Vorstellungen und Sehnsüchte von Spannung und Erfolg eintragen. Es ist zum Klassiker geworden. Für das „Traumschiff“, den „Tatort“ und die anderen Krimis gilt das Gleiche. Wobei insbesondere der „Tatort“ wohl auch deshalb so langlebig ist, weil er das Althergebrachte glückhaft mit dem Experiment verknüpft. Es gibt ja sogar komplett surreale „Tatorte“. Und bei den realistischen ist neben den KommissarInnen nur der Trailer von früher. Die Verbrechen sind brandaktuell.
„Tatort“, ARD, Ostersonntag und Ostermontag, jeweils 20 Uhr 15; „Das Traumschiff“, ZDF, Ostersonntag um 20 Uhr 15; „Inspector Barnaby“, ZDF, Ostersonntag, 22 Uhr 50