Streaming-TV: Die Qual der Wahl muss zum Vergnügen der Auswahl werden
Mehr Streaming-TV bedeutet mehr Freiheit bei der Auswahl. Was mehr Kreativität voraussetzt - auch beim Zuschauer. Ein Kommentar.
Brauchen wir noch mehr Programme, noch mehr Streaming, noch mehr Inhalte? Wer ehrlich ist, muss zugeben, dass er von Serien und Filmen, die Amazon und Netflix Tag für Tag in den Aufmerksamkeitsmarkt pumpen, überwältigt ist. Und trotzdem: Mehr Anbieter sichern den Kern, ja die Freiheit einer echten Auswahl. Deswegen ein lautes Hurra, dass Apple, Disney und Time Warner eigene Streaming-Plattformen ankündigen. Apple TV+ wird die Fantasy-Serie „Unglaubliche Geschichten“ von Steven Spielberg wiederbeleben. Disney hat als Mighty Mouse auch die Superhelden des Marvel-Universums im Sortiment.
Deutschland ist der wichtigste Markt nach den USA, hier wollen die Plattformen hin – vor allem mit ihren „Originals“. Das schürt den Kampf um den besten exklusiven Inhalt, der in kreativen Branchen nicht vom Band rollt. Sie brauchen all die Talente von Autoren über Regisseure bis zu Schauspielern und Schnittvirtuosen. Mit Routine geht da einiges, jedenfalls bis zum Allerlei, aber das Superbe, das Einzigartige, das nicht bei Staffel eins versandet, sondern fortgesetzte Dynamik entfaltet, das ist allzeit mehr gesucht als gefunden.
Die Streamingdienste wollen mit deutschen Stoffen deutsche Kundschaft an sich binden. „Dark“ bei Netflix, „You are wanted“ bei Amazon sind Hits, wie sie auch das Pay-TV Sky mit „Das Boot“, Sky und ARD mit „Babylon Berlin“ oder das ZDF durch „Bad Banks“ geschafft haben. TV-Deutschland braucht mehr davon – was neue Kreativität verlangt.
Kreativität und Kapital - geht das zusammen?
Und Kapital. Gerade hat sich der Finanzinvestor KKR ein kleines Medienimperium zusammengekauft. Das kann die mittelständisch geprägte Produzentenlandschaft durchschütteln. Kapital und Kreativität, geht das wirklich zusammen, kommt da mehr als Rendite raus?
Geld kauft keine Kreativität, Geld ermöglicht Kreativität. Die Kreativen sind am Zug; als Individualisten tun sie sich unverändert schwer, gemeinsame Interessen zu formulieren. Es braucht Plattformen zum orchestrierten Eigennutz, noch keine Kunst ist an der Organisation von Kunst zugrunde gegangen.
Und der Konsument, wo bleibt der? Auch er wird in Lage versetzt, selbst kreativ zu werden. Das nach wie vor sehr starke lineare Fernsehen ist gelernte Gewohnheit, so alltäglich und reflexhaft wie Lichteinschalten. Doch das (Bezahl-)Fernsehen ist eine neue Herausforderung, Abos provozieren die Entscheidung, wofür Geld ausgegeben werden soll. Was interessiert, was fasziniert wirklich? Das braucht die Emanzipation von der Methode Glotzen. Die Qual der Wahl muss zum Vergnügen der Auswahl werden. Dann wird der TV-Konsument zum kreativen Zuschauer, gewissermaßen selbst zum Produzenten. Wie aufregend ist das denn.