Polizeiruf: Rostock, New York
Der „Polizeiruf“ von der Ostseeküste zeigt die Keimzelle der Gesellschaft als mörderische Hölle - und inszeniert einen Veitstanz der Blaulichtautos.
Ach, wie war es ehedem in Krimi-Meck-Pomm so, na ja, nicht gerade bequem, aber doch, geerdet und nachvollziehbar. Der wunderbare Kommissar-Darsteller Kurt Böwe schnaufte – allzeit konsumbereit – mit dem Einkaufsbeutel durch die Straßen von Schwerin, als sei die DDR nicht schon untergegangen. Sein zum Aufpasser auf den Vorwende-Beamten bestellter Kollege (Uwe Steimle) musste von dem alten Ex-Vopo-Hasen lernen, dass zum Ermitteln nicht nur moderne Technik gehört, sondern Menschenkenntnis. Schmunzeln war nicht verboten.
Später, ohne Böwe, in Rostock spielend, wurde der Gedanke der kriminellen Provinzerkundung von den NDR-Verantwortlichen aufgegeben. Mit einem sächselnden Kauz wie Steimle wollte man nichts mehr anfangen. Aufbau Ost bedeutete jetzt für Meck-Pomm ästhetischer Anschluss an Geschichten, deren blutige Rasanz keine Zeit und keine Lust auf die Gemächlichkeit von Land und Leuten hat. Moderner TV-Krimi hieß das, der US-fixierte Teil der Kritik war begeistert, die Zuschauer nahmen es, wie es kam.
Seit 2010 jagt das Ermittlerteam Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und Alexander Bukow (Charly Hübner) durch Rostock und findet Fälle, die man dort eher nicht vermutet: Studentinnen-Huren etwa, die Professoren ruinieren oder Sado-Maso-Erotik mit abgeschnittener Zunge („Liebeswahn“). Aber Rostock als Rostock? Nö.
Veitstanz der Blaulichtautos
Wundern wir uns also nicht, dass wir im neuesten „Polizeiruf“ aufs Deutlichste dabei sind, wenn ein irre gewordener Vater in tödlicher Umarmung seine nichts ahnende Ehefrau abmessert. Anschließend erstickt er das Kleinste seiner drei Kinder und tötet später ein weiteres Geschwister. Dass es zu den Kindestötungen keine „Live“-Bilder gibt wie die vom Niederstechen der Frau – Filmemacher Eoin Moore (Buch& Regie) hat die schaurige Szene in einem Anflug von Poesie als „Liebestanz“ (Moore) inszeniert –, macht den Zuschauer dankbar.
Die Brutalität des Falles bleibt nicht ohne Wirkung auf die Fernsehpolizei. Diese bedient gleich in den ersten Szenen die Imagewünsche der NDR-Verantwortlichen: „Rau, hart, ehrlich, anstrengend.“ Als der Oberboss im Rostocker Polizeigebäude einer Kollegenfeier zustrebt, wird das Licht gelöscht, der Mann angegriffen, geschlagen und ihm ein Sack über den Kopf gezogen. Erst im Partyzimmer enthüllt sich das grobe Manöver als Kollegenscherz: „Überraschung!“ Diese rauen Bullen haben nicht alle, Einkaufsbeutel schon gar nicht.
Der biedere Familienvater entpuppt sich als rücksichtsloser Narzisst
Tempo treibt die Szenen. Blut ist ein eiliger Saft und jagt die Jäger, die ihm hinterherjagen. Die Hetzerei betäubt Gefühle. Hyperaktivität überspielt Schrecken und Mitleid. Rasen durch Rostock, es könnte auch Berlin sein. Prestissimo furioso für alle Handys, Veitstanz der Blaulichtautos, eine Stadtpolizei jagt M. M wie meschugge, hier K. wie „Keule“ Arne Kreuz, die männliche Medea, die ihre Kinder frisst.
Wir erfahren über den Verrückten, dass er ein Vollversager ist, aus allen Jobs geflogen, ein hochverschuldeter Lügner, den die Frau für einen anderen verlässt, weil sie erkannt hat, dass nichts als der rücksichtslose Narzissmus eines hilflos-brutalen Kindes hinter seiner familienliebenden Biedermeierfassade steckt.
Andreas Schmidt als Loser Arne – er beherrscht die Kunst der Verstellung. Mit seinem linkischen Charme will er in die Herzen seiner Mitspieler und der Zuschauer. Aber keiner traut ihm, weil jede seiner Gesten seine Verzweiflung verrät. Er und seine zornige Frau (Laura Tonke) spielen das mörderische Finale ihrer Beziehung zunächst nachvollziehbar. Aber wie soll man vom unbegreiflichen Wahnsinn erzählen, dass Arne entschlossen ist, die Ehefrau und die gesamte Familie mit in den Tod zu nehmen, in den „erweiterten Selbstmord“, wie das die Psychiater etwas fühllos nennen?
"Hauptsache Bewegung" - das Manna des modernen TV-Krimis
Der durch und durch auf realistische Härte getrimmte Film hat Mühe, in die innere Hölle des Täters vorzudringen, und erlaubt sich nur mit dem Liebestanz eine fantastisch-poetische Metapher, von der man nicht weiß, was sie eigentlich sagen soll. Dann rast die verfolgende Polizeimaschinerie los. Wenn man die Auslöschung einer Familie filmisch nicht erklären kann, so kann man sich ausführlich mit der Fahndung nach dem Täter beschäftigen. Hauptsache Bewegung, das Manna des modernen TV-Krimis.
Eine endlose Suchaktion nach dem Mördervater läuft an, so verworren und chaotisch, als wäre Rostock New York. Es gilt die Täterschwester, Schwiegereltern, den Freund der Mutter und Bekannte zu befragen, damit das Leben von Jonas, dem dritten Kind, vor dem wahnsinnigen Vater gerettet werde. Da es zur dramaturgischen Grundausstattung der „Polizeirufe“ aus Rostock gehört, dass sich auf der Ermittlerebene in abgemilderter Form zuträgt, was draußen in der Katastrophe endet, muss Kommissar Bukow (Hübner) die Brüchigkeit der Familie durchleben. Ein junger Kollege (Josef Heynert) hat ein Verhältnis mit Bukows Frau Vivian (Fanny Staffa). Alles fliegt auf. Der Gehörnte frisst während der Fahndungsaktion den Zorn in sich hinein, bis er explodiert, den Hahnrei als Kameradenschwein bloßstellt, dann aber das Herz der untreuen Frau mit seinem tollpatschigen Charme wiedergewinnt.
"Ich bin doch nur der arme Bulle, der die Scheiße wegräumt"
So laufen normale Konflikte ab, soll das heißen, rau, hart, ehrlich, anstrengend. Aber erweiterter Selbstmord? Bukow wundert sich im Polizeiauto über den Mörder: „Was ist bei diesem Andreas Kreuz bloß falsch verkabelt? Man sticht doch nicht seine Familie ab, bloß weil die Frau mit einem anderen vögelt.“ Und Sarnau, sie spielt die eigentlich auf Ursachenforschung spezialisierte Kollegin, sagt resigniert: „Wo hat das alles angefangen? Ich bin doch nur der arme Bulle, der die Scheiße wegräumt.“
Der moderne hyperaktive Krimi erzählt nicht gerne von Ursachen für Verbrechen, irgendwie zu unspannend. Er erzählt lieber vom Rasen hinter den Tätern her. Das entlastet den Kopf. Gut, dass Günter Jauch im Anschluss über erweiterten Selbstmord diskutiert. Da hat man hoffentlich mehr Zeit für Erkenntnisse.
„Polizeiruf 110 – Familiensache“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15