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Bei Netflix können Nutzer auf Abobasis Filme und Serien für PC, Tablet und Fernsehgerät streamen. Wann sie wollen, wo sie wollen, so oft sie wollen.
© dpa

Zukunft des Fernsehens: Netflix und Co.: Freiheit statt Sozialismus

Netflix kommt im September nach Deutschland. Das Streaming-Portal bietet den Kunden Serien und Filme, wann sie wollen, wo sie wollen, wie oft sie wollen. Damit gerät das lineare Fernsehen unter Druck - und der Zuschauer wird sein eigener Programmdirektor. Ein Kommentar.

Das Fernsehen frisst uns auf. Jeder Deutsche hat 2013 das Medium 217 Minuten pro Tag genutzt. Das sind drei Stunden und 37 Minuten. Ein Durchschnittswert, klar, der überhaupt nichts aussagt, wer welches Programm nur nebenbei oder sehr intensiv gesehen hat. Das Fernsehen ist ein Alltagsbegleiter, für manche der Lebensmittel-, für andere nur der Kontrapunkt.

Zur Fernsehnutzung gehört der Ärger über das Fernsehen. Immer läuft die falsche Sendung, gerade wurde der neue „Tatort“ verpasst, und der Auftritt von Ex-Bundespräsident Christian Wulff bei „Maybrit Illner“ brachte die Nackenhaare in Habachtstellung. Die Vision, dass Fernsehzuschauer im Vergleich mit Fernsehverweigerern generell glücklichere Menschen sind, existiert nur in den Köpfen weniger Fernsehmacher.

Sender-Interesse bleibt das linear ausgestrahlte Programm

Das gibt Netflix seine ganz große Chance. 1997 in den USA gegründet als Versanddienst von DVDs, ist Netflix heute ein expandierendes Streaming-Portal, das auf mehr als 40 Auslandsmärkten floriert und für September seinen Deutschland-Start ankündigt. Auf Abobasis können Nutzer jenen Film und diese Serie für PC, Tablet und Connected-TV-Geräte streamen. Wann sie wollen, wo sie wollen, so oft sie wollen.

High sein, frei sein, Streaming muss dabei sein! Eine Studie des Forschungsinstituts Goldmedia nennt ein Potenzial von 18 Millionen Online-Nutzern, die sich für Video-on-Demand-Angebote interessieren. 2014 werden die rund 50 VoD-Plattformen in Deutschland rund 275 Millionen Euro Umsatz erzielen, bis 2019 werden 750 Millionen prognostiziert.

Logo der Firma Netflix
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© Reuters

Kommt sie jetzt, die große individuelle Libertinage, erklärt jeder seine audiovisuelle Unabhängigkeitserklärung? Der Fernsehzuschauer wandelt sich. Noch akzeptiert er das Programm, das linear ausgestrahlt wird: also sonntags 19 Uhr 30 die „Abendschau“ im RRB, um 20 Uhr die „Tagesschau“ und um 20 Uhr 15 der „Tatort“ in der ARD. Die alteingesessenen Fernsehsender haben nichts dagegen, wenn das gelernte Einschaltverhalten des Publikums auch künftig Gewohnheit bleibt. Aber genau die schwächt sich mit den Mediatheken, mit Streaming und Download ab. Jüngere Zuschauer gehen voran. Ihr Stammplatz ist nicht mehr die Couch vor dem Fernseher, sie liegen, stehen und fahren mit ihrem Screen durch Zeit und Raum und Sendungen. Die TV-Lieferhelden reagieren – zögerlich. ARD und ZDF streamen längst nicht alle Programme, ihre Mediatheken exemplifizieren mit ihrer Sieben-Tage-Fristenregelung ein Such-und-Frust-Spiel. Die Privatstationen betreiben werbefinanzierte Mediatheken wie Myvideo, teils kostenpflichtige Abo-Portale à la RTLnow, Mischformen aus Abo und Pay-per-View wie Maxdome. Die Sender haben Interessen, und diese richten sich unverändert auf die linear ausgestrahlten Programme. Weil Zuschauer leichter kleben bleiben.

Fernsehen und Zuschauer werden sich aus den Augen verlieren

Netflix wird da zum Symbol. Der Fernsehzuschauer wird Kunde und zum eigenen Programmdirektor. Youtube mit allem für alle, das ist noch ein freches Schlagwort und vielleicht schon morgen Realität. Aufbruch schafft Abbruch, sicher. Wenn die Sender nicht länger Fernsehsender sind, sondern Inhaltelieferanten, was wird dann aus dem Integrationsfaktor Fernsehen, aus der Zwangsabgabe des Rundfunkbeitrages, aus dem Gemeinschaftserlebnis „Tatort“? Werden die Kreativen, der Quellcode aller guten Inhalte, so behandelt, dass sie beste Fiktion liefern können, wird die Information im reinen Marktbetrieb des audiovisuellen Entertainments – formerly known as TV – an den Rand gedrängt?

Das Fernsehen und der Fernsehzuschauer, sie werden sich aus den Augen verlieren. Alte Interessen werden neu bedient, neue Bindungsformen entstehen, neue Arten von Angebot und Nachfrage. Aber es kann nicht länger sein, dass die Sehnsucht nach „meinem“ Medium von der Sucht der Sender nach einem Publikumskollektiv gegängelt wird. Neues Fernsehen braucht neue Freiheit – und keinen Programmsozialismus.

Joachim Huber

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