Der Mai 1968 in aller Welt: Gibt es 50 Jahre nach 1968 eine neue Generation des Protests?
Ein Arte-Themenabend ergründet die Vielstimmigkeit im Mai 1968. Und geht der Frage nach, ob es auch 2018 eine Protestgeneration gibt.
1968 lebte die Utopie einer besseren Gesellschaft. Heute bricht das Fernsehen die Studentenunruhen meist auf wenige ikonisch gewordene Momente herunter: der Besuch des Schahs in Berlin, Rudi Dutschkes Fernsehauftritte und der Bombenhagel auf vietnamesische Reisfelder. Ein Arte-Themenabend am Dienstag sprengt diesen kanonisierten Bilderfundus.
Mit seiner akribischen Spurensuche „1968 – Die globale Revolte“ erinnert Don Kent daran, dass die Protestbewegung ein weltweites Phänomen war. Der schottische Dokumentarist montiert unverbrauchte Archivfilme und Statements weniger prominenter Zeitzeugen aus den USA, Brasilien, Chile, Deutschland, Japan, England und Italien zu einem atemberaubenden Kaleidoskop. Der scheinbar homogene Grundgedanke der studentischen Proteste wird in einer nie gesehenen lokalen Vielstimmigkeit durchdekliniert.
Die chronologisch in Jahresschritte gegliederte Dokumentation spannt einen Bogen von 1965 bis 1975, vom Beginn bis zum Ende des Vietnamkriegs. Ein geistiges Zentrum der gesamten Aufbruchsstimmung lokalisiert Don Kent an der kalifornischen Universität Berkeley. Studenten demonstrierten für Redefreiheit, während Gouverneur Ronald Reagan die studentischen Bestrebungen nach Liberalisierung des Lehrbetriebs zu unterdrücken versuchte.
Bilder von niedergeknüppelten Studenten befeuerten andere Befreiungsbewegungen innerhalb und außerhalb der USA: die der Schwarzen, die Schwulen- und Lesben- sowie die Frauenbewegung.
Revolte in Lateinamerika, Mitteleuropa und in Fernost
Mit einem bereit gefächerten Bilderfundus führt die Doku jene unterschiedlichen politischen Voraussetzungen der 68er-Revolte in Lateinamerika, Mitteleuropa und in Fernost vor Augen. Deutlich wird dabei eines: Der Traum von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Veränderung wurde von Menschen mit sehr unterschiedlichem Temperament geträumt. In Italien rekapituliert Erri de Luca, ein ehemaliges Mitglied der Bewegung Lotta continua (ständiger Kampf), die Revolte in einem bürokratischen Tonfall. Gedämpft waren Studentenunruhen in Tokio. Wenn die japanische Feministin Mitsu Tanaka über die „Befreiung vom Samenklo“ spricht, dann tut sie dies mit japanischer Höflichkeit.
Der zweiteilige Film ist eine audiovisuelle Tour de Force. Aufstieg und Zerfall der 68er-Bewegung werden mit einer überbordenden Fülle von Randbeobachtungen nachgezeichnet. Aufschlussreich sind die Erzählungen des militanten japanischen Filmemachers Masao Adachi. In einem palästinensischen Ausbildungscamp traf der heute 78-Jährige damals auf Genossen von der RAF und der IRA. „Das ist der Moment, in dem der Terrorismus international wurde.“
Und heute? Gibt es 50 Jahre später eine Protestgeneration 2018 – ein 1968 2.0? Dieser Frage gehen Sabine Jainski und Ilona Kalmbach in ihrer anschließenden Dokumentation „Rebellisch oder unpolitisch?“ (23 Uhr 20) nach. Den Abschluss des Arte-Themenabends bildet ein sehenswerter Dokumentarfilm über die Universität von Vincennes (0 Uhr 10). 1969 am Pariser Stadtrand errichtet, hielten charismatische Denker wie Michael Foucault und Jacques Lacan Vorlesungen. Den Lehrbetrieb strukturierten Studenten in Selbstverwaltung. Nirgendwo sonst kam der Geist von 1968 so vollkommen zu sich selbst.
„Mai 68“, Arte, Dienstag, ab 20 Uhr 15
Manfred Riepe
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