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Ilja Zaslawski (rechts) mit Michail Gorbatschow, Moskau 1991.
© Foto: Privatarchiv IZ

Lokales und Weltgeschichtliches: Wie war das mit Gorbatschow, wie war das mit Reagan?

Zwei russische Berliner, zwei jüdische Migranten: Der Historiker Dmitrij Belkin trifft den Perestrojka-Politiker Ilja Zaslawski, der jetzt im Berliner Südwesten lebt, zum Gespräch über Lokales und Weltgeschichtliches.

1989, Dnjepropetrowsk, UdSSR, später Ukraine. Ich bin 17 Jahre alt, Student der Geschichtswissenschaften, und verfolge leidenschaftlich am Schwarz-Weiß-Fernseher den ersten freien Kongress der Volksabgeordneten der Perestrojka-Sowjetunion. Ein Volksabgeordneter, nicht sehr hoch gewachsen und sehr schlank, interessiert mich ganz besonders. Er redet radikal antikommunistisch, formuliert glänzend und sachlich, auf den Protestlärm der kommunistischen Mehrheit reagiert er ruhig, denkt politisch, wirtschaftlich und vor allem absolut selbstständig. Der Abgeordnete heißt Ilja Zaslawski, er ist elf Jahre älter als ich und wurde bald zu einer der wichtigsten demokratischen Stimmen Russlands. Später wurde Zaslawski ein wichtiger Politiker, unter anderem stellvertretender Vorsitzender eines Komitees im sowjetischen Parlament und Berater des Reformpremierministers Russlands, Jegor Gaidar. Noch später war Zaslawski als gefragter Wirtschaftsexperte und als Businessberater tätig.

Nach einem ganzen Leben, einigen Epochen und Zeitbrüchen, einer erneuten Feststellung, wie klein diese Welt sei (ich hätte nie denken können, dass meine Frau Ljudmila je mit Zaslawski zusammenarbeiten würde), treffen sich der ehemalige Student der Geschichtswissenschaften und der Star der Perestrojka, inzwischen beide Berliner, im Wiener Café auf der Grenze zwischen Dahlem und Grunewald. Kein schlechter Ort für solche Begegnungen! Pläne kann man bei einem vorläufigen Fazitziehen, bei einem guten Kaffee schmieden.

Historie im Kaffeehaus. Ilja Zaslawski (57, links), russischer Perestrojka-Politiker, Businessberater und Experte, im Gespräch mit Dmitrij Belkin (46), Geschichtswissenschaftler, Ausstellungsmacher und Referent beim jüdischen Begabtenförderungswerk ELES.
Historie im Kaffeehaus. Ilja Zaslawski (57, links), russischer Perestrojka-Politiker, Businessberater und Experte, im Gespräch mit Dmitrij Belkin (46), Geschichtswissenschaftler, Ausstellungsmacher und Referent beim jüdischen Begabtenförderungswerk ELES.
© Thilo Rückeis

Herr Zaslawski, warum leben Sie im Südwesten Berlins, diesem bürgerlichen „einstöckigen Amerika“ – und warum jetzt?

Die Wahl des Wohnortes wird durch die Psychologie, die Bedürfnisse und die materiellen Möglichkeiten bedingt. Meine Moskauer Generation wuchs in einer furchtbar engen Wohnsituation, nicht selten in den Kommunalwohnungen, auf. Als Kleinkind verbrachte ich viele Tage auf einem Schrank im Wohnzimmer, in einer Emaillebabywanne. Deswegen neige ich, wie sehr viele Bewohner Moskaus aus meiner Generation auch, zu den Großräumen, nach Möglichkeit ohne Nachbarn. Das ist eine Art Klaustrophobie. Zu Business kam ich zu Beginn der Perestrojka, kehrte 2003 in die Geschäftswelt zurück, was mir erlaubt, dieser oben beschriebenen Psychologie des neuen Wohnens weiter zu folgen. In Dahlem und Grunewald gibt es Deutsche, viele Russen, einmal traf ich dort einen Franzosen. Es ist interessant anzumerken, dass zahlreiche Deutsche, die in den Einzelhäusern aufgewachsen sind, es vorziehen, in Wohnungen in den belebten Vierteln, mit viel Lärm, zu wohnen – das betrifft im Übrigen auch die Generation der Moskauer aus wohlhabenden Familien.

Der Südwesten war der amerikanische Sektor von Berlin. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren wichtig für Sie. Worin bestand diese Wichtigkeit? Hatten Sie und Ihre Perestrojka-Mitstreiter vor, im postsowjetischen Russland eine Art „Amerika 2.0“ aufzubauen?

Ich kann mit Sicherheit behaupten, dass keiner der Perestrojka-Gestalter vorhatte, aus der UdSSR eine Art „Amerika 2.0“ zu machen. Nach vielen Jahrzehnten Eisernen Vorhangs kannten sich sowohl die Jüngeren als auch die ältere Generation nicht übermäßig gut mit Besonderheiten nationaler und politischer Modelle aus. Im Wesentlichen waren einige gesellschaftliche Eigenschaften, darunter das Konkurrenzprinzip in Politik und Wirtschaft und die Menschenrechte, wichtig. Ihr ergebener Diener wurde schon 1989 ein harter Antikommunist und predigte den Antikommunismus offen – in den Medien mit einer Millionenauflage. Aber Gedanken über ein „Amerika 2.0“ hatte ich natürlich nicht. Schauen Sie, es ist schlicht unmöglich: Amerika ist Amerika, Russland ist Russland, Deutschland ist Deutschland.

Ilja Zaslawski mit Boris Jelzin, 1989, in Moskau beim gesamtsowjetischen Kongress der Volksabgeordneten.
Ilja Zaslawski mit Boris Jelzin, 1989, in Moskau beim gesamtsowjetischen Kongress der Volksabgeordneten.
© Privatarchiv IZ

Als ein bewusster Antikommunist gerieten Sie politisch zwischen Reagan und Gorbatschow. Wer ist Ihnen näher: ein Kämpfer gegen den Kommunismus oder ein Reformator des Kommunismus?

Die Familie Gorbatschow wohnte in meinem Wahlkreis in Moskau. So geriet ich, als einer von zwei Kandidaten dort, in das Blickfeld Michail Sergejewitschs. Später, als wir uns beim Kongress der Volksabgeordneten der UdSSR begegneten, gab er zu, mich damals gewählt zu haben. Also stellen wir fest: Der letzte Generalsekretär der KPDSU wählte einen parteilosen Kandidaten, der sich von einem Behindertenverband aufstellen ließ. Dank dieser unerwarteten prominenten Sympathie geriet ich in den Kreis der quasi offiziell erlaubten politisch wichtigen Nichtkommunisten. Wir, damalige stilvolle politische Fronde, um einen Unterschied zu den offiziellen Anzugsträgern zu markieren, besuchten die Kongresssitzungen in unseren Pullovern und Sweatshirts. Ich hatte einen karierten, handgenähten Pullover an und trug noch zusätzlich stolz eine Schultertasche. Den Pullover konnte Gorbatschow noch irgendwie ertragen, die Sporttasche ging aber gar nicht und irgendwann fragte er mich höflich: „Warum trägst du diese Tasche? Willst du damit betteln gehen?“ „Nein, dort gibt es analytische Materialien, die ich mit Ihnen gern besprechen möchte.“ Gorbatschow hat einen Termin versprochen. So öffneten sich für mich durch die Sympathien des Parteiführers glänzende Perspektiven auf eine weitere Integration in die sowjetische Elite. Aber ich hatte andere Pläne, nämlich: die Diktatur der Kommunistischen Partei und der kommunistischen Ideologie zu beenden. In einem meiner Artikel verglich ich die Kommunistische Partei mit dem Teufel, mit dem man keine Kompromisse macht, denn ein Kompromiss ist immer ein Geschäft und der Preis für ein Geschäft mit dem Teufel ist die menschliche Seele. Später wurde diese Aussage meine internationale Visitenkarte. Und damals, gleich nach der Veröffentlichung, wurde sie von der Kongresstribüne von einem wütenden Kommunisten zitiert. Gorbatschow war zwar ein Reformator, doch seinem Amt nach leitete er die Kommunistische Partei. Er musste sich dazu äußern und gab öffentlich zu, tief enttäuscht zu sein. Die versprochene Begegnung fand nicht mehr statt, die analytischen Materialien habe ich Boris Jelzin gegeben.

Und wie war das mit Ronald Reagan?

Ich kam in die sowjetische Politik im Jahr 1989, als Reagan die großpolitische Bühne der USA verließ. Doch wir kamen einmal zusammen. Im Frühjahr 1990 war ich als sowjetischer Volksabgeordneter in den USA und traf einige Male den damaligen Vizepräsidenten Dan Quayle. Er war ein großer Anhänger Reagans und mein ungespielter Respekt vor dem ehemaligen Präsidenten und seiner historischen Rolle beeindruckte ihn. So fragte Quayle ziemlich unerwartet: „Wollen Sie Reagan begegnen?“ So saß ich in Kürze in einem Flugzeug von New York nach Los Angeles. Mich begleitete ein schweigsamer Marineinfanterist. Er war gewiss nicht ängstlich, wirkte aber so, als er erfuhr, dass die Person, die zum Präsidententermin fliegt, kein Sakko besitzt. Nach Ankunft kauften wir in L. A. ein Sakko und ich habe es angezogen, rebellierte aber, als es noch um eine Krawatte ging. Im schlimmsten Fall war ich mit einem Halstuch einverstanden. Der Begleiter war empört: „Ein Halstuch tragen nur die Gays“, sagte er, „der Präsident wird es gewiss nicht mögen!“ Der Marineinfanterist war gewiss homophob und konnte das damals noch so äußern! Im Endergebnis erschien ich zum Termin mit Reagan ohne Halstuch, ohne Krawatte und ohne ein Sakko. Der Präsident war in einem Anzug und – trug ein Halstuch … Wir hatten eine halbe Stunde Zeit. Natürlich sprachen wir über die „Reaganomics“ und die Rolle meines Gesprächspartners dabei. Ich wunderte mich sehr, als ich viele Jahre später einen meiner Sätze (und dazu noch mit einem Verweis auf mich!) in einem Nachruf auf Reagan in der „Los Angeles Times“ fand. Als unser Gespräch zu Ende war und wir zurück nach NYC fliegen sollten, sagte ich meinem Begleiter leicht süffisant: „Und Reagan selbst trägt doch Halstuch.“ „Das ist doch Reagan“, war seine Antwort. Bis zu unserer Ankunft im Flughafen New York schwiegen wir.

Ilja Zaslawski mit Ronald Reagan, Washington DC 1990. Zum offiziellen Fototermin band sich der frühere US-Präsident dann doch eine Krawatte um.
Ilja Zaslawski mit Ronald Reagan, Washington DC 1990. Zum offiziellen Fototermin band sich der frühere US-Präsident dann doch eine Krawatte um.
© Privatarchiv IZ

Na gut: Sie waren ein technisch begabter junger Mann. Nehmen wir auch an, Sie waren damals mehrmals ein richtiger Mann am richtigen Ort zu richtiger Zeit. Doch woher kommt Ihre Motivation in der Politik und im Business? Und vor allem: Woher kam/kommt der Erfolg?

Im Jahr 1986 habe ich mein erstes wissenschaftliches Buch zum Druck freigegeben. So hätte ich mich weiter als Wissenschaftler entwickelt, wenn sich das Schicksal nicht eingemischt hätte. Einmal fragte ich meine erste Frau: „Warum guckt mich deine Mama immer von oben herab an?“ „Weil dein Gehalt nur 120 Rubel ist, während sie 300 verdient.“ Ich kam daraufhin auf den Gedanken, falls ich 300 Rubel verdienen sollte, würde mich meine Schwiegermutter respektieren. Einige Tage später las ich in der Zeitung „Iswestija“ einen Perestrojka-Erlass, laut dem Wissenschaftler und Ingenieure in den speziellen Zentren, einer Art Inkubatoren für Business, geschäftlich aktiv sein durften. Dabei blieb das private Business mit wenigen Ausnahmen immer noch ein Staatsverbrechen, für welches die Todesstrafe drohte. Ich schuf ein solches unternehmerisches wissenschaftliches Zentrum und brachte in ein Paar Monaten die besagten 300 Rubel nach Hause. Doch das half leider nicht – meine Schwiegermutter lehnte mich nach wie vor ab. Naiv, wie ich war, dachte ich, ich müsse mehr verdienen, damit sie von der Zahl beeindruckt würde. Der entstehende Markt, auf dem es noch praktisch keine Konkurrenz gab, erlaubte solche Pläne. Mein Einkommen wuchs und wuchs, doch die Schwiegermutter reagierte nicht! Dafür reagierte die Uni-Leitung. Ich bekam deutlich zu verstehen, dass die Unternehmer keinen Platz in der sowjetischen Wissenschaft hätten. Es begann eine Jagd auf mich. Doch dann erschien in der Zeitung „Iswestija“ ein neues Gorbatschow-Gesetz: Die Volksabgeordneten konnten auf einer demokratischen Konkurrenzbasis gewählt werden. Ich wollte es wieder probieren. ich war seit meiner Kindheit stark körperlich eingeschränkt, war ein Unternehmer und hatte vor, die Rechte der Behinderten und die Freiheit der Marktwirtschaft zu verteidigen. Und zwar in der ganzen UdSSR.

Und wenn der junge, erfolgreiche Politiker und Geschäftsmann Zaslawski dazu noch ein Jude ist – wohin mit dieser Frage, zumal in einem Land des staatlichen Antisemitismus?

Ja, in der Sowjetunion gab es tatsächlich staatlichen Antisemitismus. Er zeigte sich vor allem bei Schwierigkeiten für Juden, Arbeit in einer Reihe von Institutionen zu bekommen, sowie bei der Aufnahme in die besten Universitäten. Es hatte klare Auswirkungen auch auf mein Leben. Zum Beispiel habe ich, nach einem Abitur mit Eins, mein Studium nicht in einem sowjetischen Analogon der Humboldt-Uni oder der Freien Uni aufgenommen, sondern absolvierte die Technische Textil-Universität. Gab es dort die nationale Problematik? Gewiss! Trotzdem habe ich die Universität mit Auszeichnung abgeschlossen, veröffentlichte wissenschaftliche Beiträge, verteidigte meine Doktorarbeit. Die Systemanalyse, die ich für meine wissenschaftliche Tätigkeit brauchte, habe ich selbstständig erlernt. Doch das erlaubte mir, meine Bücher frei auszuwählen, und half mir später bei der Analyse wirtschaftlicher und politischer Probleme. Schließlich wurde ich dadurch ein Mensch, der ich auch heute bin. „Das Judentum“ der Breschnew-Zeit und der Zeit danach wurde in der UdSSR durch den sogenannten „Paragraf 5“ im Personalausweis sichtlich. Bist du der Sohn oder die Tochter jüdischer Eltern, steht in deinem Personalausweis „evrej“ (Jude), sei bitte so lieb, akzeptiere die obligatorischen Beschränkungen. Natürlich versuchten die antisemitischen Kräfte 1989 die Wahlen in meinem Bezirk als eine Auseinandersetzung zwischen dem bodenständigen slawischen Patrioten und einem Kosmopoliten zu stilisieren, der schlicht ein Jude ist. Ja, ich habe bei den Wahldemos zahlreiche Nazis mit ihren Slogans erlebt. Doch ich habe gewonnen - und zwar: ganz klar gewonnen. Das bedeutet, dass Faschisten und Antisemiten während der Perestrojka in den Augen von vielen ein negatives Image hatten und meine Wähler zweifelsohne slawische Anwohner des Bezirks waren, die einfach andere – keine antisemitischen – Überzeugungen hatten.

Wie sehen Sie die Tatsache einer jüdischen Massenmigration nach Deutschland, ins „Land der Schoah“? Halten Sie sich selbst für einen „jüdischen Einwanderer“?

Diejenigen Juden, die sich in Deutschland psychologisch unwohl fühlen, reisen nicht nach Deutschland aus. Es gibt hauptsächlich – so meine Erfahrung – zwei Gruppen der jüdischen Migranten aus der ehemaligen UdSSR. Erstens Menschen, die Aufnahmeprogramme und die berühmt-berüchtigte Sozialhilfe als eine Art Kompensation oder sogar Reparationszahlung wahrnehmen: „Die Deutschen sind schuld am Holocaust, so sollen sie zahlen. Und wir haben den Anspruch auf jegliche Hilfe.“ Ich hoffe, das ist die Minderheit. Zweitens Menschen, die überzeugt sind, dass weder die jetzige Generation der Deutschen noch der heutige deutsche Staat für die Verbrechen der Nazis verantwortlich seien. Sie denken, dass die aufnehmende Seite ihnen a priori nichts schuldet außer einer juristischen Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Diese Gruppe betrachtet das Aufnahmeprogramm als eine Möglichkeit, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und eigene Pläne im Business, in der Kreativität und in eigener Arbeit oder Bildung zu verwirklichen. Die Dauer des Erhalts der Sozialhilfe wollen die Vertreter dieser zweiten Gruppe maximal reduzieren, nach Möglichkeit verzichten sie vollständig auf die staatliche Unterstützung, da sie diese als etwas moralisch und lebenstechnisch eher Unangenehmes betrachten. Sie wollen so schnell wie möglich anfangen, zu einer Weiterentwicklung der deutschen Gesellschaft beizutragen. Was mich angeht … Natürlich wäre es überflüssig zu betonen, dass ich mich zu der zweiten Gruppe zähle. Seit 2007 habe ich angefangen, Deutschland regelmäßig zu besuchen, und zwar aus einem konkreten Grund. Meine Behinderung bereitete mir seit meiner Kindheit deutlich ernsthaftere Probleme, als der sowjetische Antisemitismus es tat. Diese Probleme wurden mit der Zeit nur schlimmer. Deswegen habe ich mich in Deutschland regelmäßig in einer Klinik in Eppendorf in Hamburg behandeln lassen. 2014 kam es zu einer Situation, in der ich nur wenige Tage ohne medizinische Hilfe auskommen konnte. Zwei Jahre systematischer Behandlung erlaubten mir eine Rückkehr zu einem aktiven Leben. Ich habe nach wie vor meine Geschäfte in Russland, fliege geschäftlich sehr viel in der Welt rum, kreiere in Deutschland gerade eine Firma, die sich auf die Produktion von medizinischem Textil spezialisiert – die Ideen kommen von meinen Familienpatenten und Know-how.

Wir bei der Leo Baeck Foundation und dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk haben vor, eine erste jüdische Denkfabrik in Deutschland zu entwickeln. Zu den politischen und zivilgesellschaftlichen Stimmen in Deutschland soll eine starke und bewusste plurale jüdische Stimme dazukommen. Wie sieht der erfahrene Politiker Ilja Zaslawski Perspektiven eines solchen Projekts?

„Der erfahrene Politiker“ hat zwar der Politik seit der Mitte der 1990er Jahre den Rücken gekehrt. Doch eine große Erfahrung mit Thinktanks habe ich in der Tat. Als Abgeordneter habe ich solche „Denkzentren“ in vielen Ländern kennenlernen dürfen. Darunter auch in Deutschland. Später als Analytiker und Geschäftsmann arbeitete ich mit den zahlreichen Expertengesellschaften in Russland zusammen. Solche intellektuellen Gruppen sind per se Generatoren des modernen gesellschaftlichen und bildungspolitischen Denkens, dort werden Ideen geboren und analysiert, die später Programme von Parteien und Bewegungen prägen können, oder von Ministerien, Parlamentsausschüssen oder Landesbehörden produktiv benutzt werden. Mir scheint, dass im Fall einer jüdischen Denkfabrik, von der Sie sprechen, es angebracht wäre, einen Thinktank zu schaffen, der sich mit den Themenbereichen rund um eine bestimmte Gruppe, in diesem Fall die Juden, ihren Platz in der deutschen und europäischen Gesellschaft und allgemein: mit ihrer Lage „auf dieser Erde“ befassen sollte. Und hier gibt es tatsächlich sehr viel nachzudenken und zu tun.

Dmitrij Belkin

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