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Über Anekdoten und Tabus: Norbert Blüm und Ahmed Mansour in der "Maischberger"-Debatte.
© WDR/Grande

Antisemitismus-Doku in der ARD: Ein ernstes Problem - holterdipolter bearbeitet

Die ARD zeigt die umstrittene Arte-Dokumentation zum Antisemitismus in Europa in einer Fassung mit Schluckauf. Bei "Maischberger" dreht sich die Diskussion ums Problem selbst und journalistische Mängel.

Aufmerksamkeit in derartigem Ausmaß hätte die Sendung anders kaum erhalten. Dass seine Ausstrahlung zunächst verhindert wurde, verleiht dem Dokumentarfilm „Auserwählt und Ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa“ enorme und seltsam symptomatische Prominenz. Paradoxerweise hat das Debakel auch sein Gutes: Es wird intensiv diskutiert. Wie in der ARD am Mittwochabend bei Sandra Maischberger.

Vor der Diskussion brachte die ARD den Film und schickte, vermutlich beispiellos in ihrer Geschichte, ein Caveat und eine distanzierende Erklärung voraus. Zu lesen war weiß auf dem schwarzen Bildschirm, der Produzent habe die erste Fassung „inzwischen auch auf unsere ausdrückliche Bitte hin an insgesamt acht Stellen bearbeitet.“ Dann las man: „Diese Änderungen waren jedoch aus unserer Sicht nicht ausreichend.“ Aber man musste das Senden doch legitimieren. Also hieß es weiter: „Wir veröffentlichen die Dokumentation daher nun mit rechtlich notwendigen zusätzlichen Anmerkungen. Damit schützen wir die Rechte Dritter, die im Film angegriffen, aber nicht – wie auch journalistisch geboten – angehört werden.“

Parallel intervenierte eine Website zum Faktencheck und lieferte Argumente gegen die Darstellungen in der eigenen Sendung. Ein Beispiel zum Thema „NGOs auf dem evangelischen Kirchentag“. Die Redaktion merkt an: „Den angesprochenen Organisationen wurde von den Autoren keine Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Diese wurden erst durch den WDR eingeholt oder als Reaktion auf die Veröffentlichung auf Bild.de publiziert.“

Erst dann konnte es losgehen – Film ab. Und es war ein Film mit Schluckauf. Im Faktencheck präsentierte Einwände, Dementis, Distanzierungen und Korrekturen unterbrachen, eingeblendet als Text, alle paar Minuten die Sendung. Wo hat es Derartiges im öffentlich-rechtlichen Fernsehen schon gegeben? Der Antisemitismus machte es möglich, scheint es.

Der WDR-Redaktion des deutsch-französischen Senders Arte hat verursacht, was man Furore nennt: Lärm und Aufruhr, Zorn und Ärger. 2015 bestellt bei Filmproduzent Joachim Schröder und dessen Kollegin Sophie Hafner wurde die Dokumentation Ende 2016 abgenommen, Anfang 2017 senderintern beargwöhnt, und dann, ummunkelt von Gerüchten über Zensur, nicht ausgestrahlt. Schließlich, am 12. Juni, hieß es: „'Bild' zeigt die Doku, die Arte nicht zeigen will“, und der Film wurde 24 Stunden lang online gestreamt. Der Korken war aus der Flasche, der WDR, womöglich gar erleichtert, verzichtete auf Rechtsmittel gegen die digitale Piraterie.

Ein Live-Filmseminar in der ARD

Inzwischen konnten Hunderttausende die TV-Produktion sehen, auch auf Youtube, noch ehe sie jetzt im ARD-Fernsehen offiziell gesendet wurde, gefolgt von der Maischberger-Talkrunde. Teilnehmer daran waren der Historiker Michael Wolffsohn, der CDU-Politiker Norbert Blüm, der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour, die Journalisten Gemma Pörzgen, Jörg Schönenborn, der als Fernsehdirektor den WDR vertrat, und Rolf Verleger, ehemals Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, Professor für Psychologie und israelkritischer Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Angekündigt worden war eine Debatte, in der es auch um die professionellen Mängel gehen sollte, quasi als Live-Filmseminar. Die ganze Causa samt Zagen und Zaudern ist in sich Symptom dafür, wie schwer der Umgang mit dem Thema Antisemitismus noch und wieder fällt – zumal die Basis derzeit so grotesk wie breit ist. Christliche und islamistische, rechte und linke Antisemiten sind sich darin einig, dass „Israel“ ein Unrechtsstaat sei.

Für viele von ihnen hat der Staat, wie für den Iran oder die Hamas, nicht einmal ein Existenzrecht. „Selbst wenn's 'ne Fälschung wäre, dann hat sich da jemand ziemlich coole Gedanken gemacht“, freut sich ein junger, anti-israelischer deutscher Demonstrant über das antisemitische Pamphlet „Die Weisen von Zion“. Es habe sich doch vieles darin bewahrheitet.

Niemand protestierte gegen die Legende von den Brunnenvergiftern

Unbeirrt fahndeten die Filmemacher nach Orten und Szenen, in denen sich aktueller Antisemitismus akut zu erkennen gibt. Anfangs ist Palästinenserpräsident Mahmud Abbas zu sehen, wie er am 23. Juni 2016 vor dem EU-Parlament behauptete, ein „israelischer Rabbiner“ wolle das Wasser der Palästinenser vergiften. Abbas versprach dann, sei erst die Besetzung palästinensischer Gebiete vorüber, würden Terror und Gewalt „von der ganzen Welt verschwinden“. In Brüssel gab es Applaus. Kein Abgeordneter protestierte gegen die alte, neue Legende von brunnenvergiftenden Juden. Später zeigt ein Ausschnitt aus dem palästinensischen Fernsehen einen etwa Siebenjährigen in Camouflage, der davon träumt, viele „Juden in die Luft zu jagen“.   

Aufnahmen von NS-Propaganda zur „Endlösung der Judenfrage“ werden eingeblendet, judenfeindliche Zitate von Luther über Richard Wagner bis Heidegger - und abstruse Thesen aus der Gegenwart. So bringt eine bekümmerte, ältere Dame auf dem Stuttgarter Kirchentag im Juni 2015 vor, „ganz gezielt“ habe Israel „die Wasserversorgung in Gaza kaputtgemacht“, weshalb „toxisches Material“ ins Mittelmeer ströme.

Die Frau, die hier eine Wanderausstellung zur „Nakba“, Vertreibung der Palästinenser mitvertrat, ist die Linken-Abgeordnete Annette Groth. Fotos der „Free Palestine“-Aktion präsentiert sie auf ihrer Website. Insbesondere die Passagen zu kirchlichen Organisationen wie Misereor oder Brot für die Welt, die NGOs für Palästinenser finanzieren, sollen ein Stein des Anstoßes in der Redaktion gewesen sein.

Auf der Website der ARD ist unter anderem die Stellungnahme von Ingrid Rumpf zu lesen, Vorsitzende des Vereins "Flüchtlingskinder im Libanon", der die Nakba-Ausstellung 2008 entwarf. „Nachdem ich erfahren hatte, dass das Filmteam Annette Groth als Israel-Hasserin bezeichnet haben soll, kamen mir Zweifel an der Seriosität (…)“, klagt Rumpf, die sich im Vorfeld über das Filmprojekt nicht hinreichend informiert fand.

Ähnliche Klänge wie bei Teilen der Linken und der Kirchen sind bei der Neuen Rechten zu hören, wo einer wie Jürgen Elsässer gegen das „internationale Finanzkapital“ wettert, gegen „Islamisierung, Israelisierung und Amerikanisierung“. Lügenpresse, Geldmafia und Zionismus: Dieses Dreigestirn malt die antisemitische Szene an ihren Himmel. Junge Deutsche wie Franzosen demonstrieren in Solidarität mit Palästinensern gegen einen „Imperialismus“, allesamt fixiert auf, besessen von Israel. Während des Gaza-Krieges im Sommer 2014 grölten Protestierende in Berlin Slogans wie: „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ oder: „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“. Da gibt es selbst im Faktencheck keine Dementis.

Antisemitismus folgt der Bedarfslage für Sündenböcke

Nur konsequent war es, dass sich die Filmemacher auf den Weg ins reale Israel begaben, zum realen Gazastreifen. Zwischen überfüllten Universitäten, maroden Wohntürmen und Luxushotels am Meer, ahnt man die Schatten ubiquitärer Korruption, die selbst mutige arabische Studenten der Hamas attestieren. Milliarden Hilfsgelder der Uno-Organisation UNRWA, der EU, der Kirchen versanden in Gaza im Ungewissen. „Where is the money?“ bohren die Rechercheure bei verantwortlichen Palästinensern nach, um Ausflüchte – „Ja, das ist eine große Frage“ – zu hören zu bekommen. Von solcher Realität sind die PLO-Freunde in Europa Lichtjahre entfernt.

Antisemitismus, das schildert der Film trotz mancher Mängel gut, kennt Konjunkturen, je nach Bedarfslage für Sündenböcke. Einst waren „die Juden“ schuld an der Kreuzigung Christi, am Ausbruch der Pest. Später waren sie, mit Bankiers wie Rothschild, schuld am Kapitalismus, mit Marx oder Trotzki schuld am Kommunismus. In der Diaspora lebend, galten „wurzellose Juden“ als vaterlandslose Kosmopoliten, denen „Nation“ nichts bedeutet. Seit der Gründung des Staates Israel verfestigt sich das antisemitisch getönte Narrativ von Israel als postkolonialer Besatzungsmacht. Jedes dieser paranoiden Stereotype verhandelt Ängste und Abspaltungen in Mehrheitsgesellschaften. Und noch jedes hat Gewalt entfesselt, bis zum Menschheitsverbrechen der Shoah.

Genug Stoff für ein Dutzend Filme über 90 Minuten

Heute wird das habituelle antijüdische Ressentiment wieder vehement in vielen ideologischen Währungen gehandelt. Besonders schockierend, gegen Ende der Dokumentation, sind die aggressiven Videos und Texte von arabischen, deutschen, niederländischen Rappern und HipHop-Songs, die unverhohlen Aufrufe zur Gewalt enthalten. Das alles ist Realität, und so vieles gäbe es noch aufzuzeigen, aufzudecken.

Daher rührt, indirekt, der Hauptmangel des Films. Er presst in 90 Minuten, wofür ein Dutzend Mal 90 Minuten gebraucht würden. Nahezu jeder Abschnitt der Dokumentation wäre einen eigenen Film wert, auch das lehrt dieser Fernsehabend: Die Hamas und ihre Korruption, die aktuelle Flucht französischer Juden nach Israel, die Rolle der Kirchen und der NGOs beim Thema Nahost, die neuen Rechten, die neuen Linken, die brutalisierte antizionistische Rap-Szene.

Zum deutschen Antisemitismus hat das American Jewish Committee in Berlin vor zehn Jahren einen Sammelband mit einem Titel herausgegeben, der auch die aktuelle Debatte präzise in zwei Worte fasst: „Aber Israel!“ (hier das Buch vollständig als PDF). Für den vertiefenden Hintergrund sei das zweibändige „Handbook of Israel: Major Debates“ empfohlen, herausgegeben von Eliezer Ben-Rafael, Julius H. Schoeps, Yitzhak Sternberg und Olaf Glöckner. Es ist in München 2016 erschienen – und hat 1304 Seiten.

Michael Wolffsohn lobt die Courage des Films

Den Beginn der Maischberger-Debatte – angesetzt um 23:45 Uhr – machten zehn Minuten Streitgespräch zwischen Michael Wolffsohn und Jörg Schönenborn, der den Sender vertreten, verteidigen sollte. Nicht dabei waren übrigens die vorgeführten Filmemacher, deren Stimme man gern vernommen hätte.

Wolffsohn hatte, wie Götz Aly und andere, seit Wochen für die Ausstrahlung plädiert, und vertrat sein Votum für „die mit Abstand beste und klügste Dokumentation zum Thema“. Schönenborn erklärte eingangs, das Thema sei zweifellos wichtig in einem Land, wo zum Beispiel jüdische Schüler an Schulen gemobbt werden. Doch es habe „gravierende“ Mängel gegeben, Verletzungen von Persönlichkeitsrechten, sachliche Fehler.

„Monatelang“ wandte Wolffsohn ein, hatte der Sender Zeit, die Mängel zu klären, die Fehler zu korrigieren, nun sei es „holterdipolter“ gegangen, initiiert allein durch die "Bild"-Zeitung. Schönenborn entgegnete, „es passiert, dass ein Film nicht gelingt“, man sei ständig in Kontakt mit den Regisseuren gewesen – Wolffsohn hatte offenkundig anderes gehört, und bekam keine Antwort auf seine Frage, warum die Autoren nicht eingeladen wurden.

Bei anderen Dokumentationen, daran erinnerte Wolffsohn irritiert, etwa bei der ZDF-Doku über die Bank Goldman Sachs Doku mit dem irreführenden Titel „Eine Bank regiert die Welt“ gab es keine parallelen Dementis und Kommentierungen wie hier, ebenso wenig bei explizit israelfeindlichen Filmen. Wolffsohn lobte die Courage des Films, linken wie rechten neben dem tabuisierten muslimischen Antisemitismus zu zeigen, sowie „Europa als Nebenschauplatz des Nahen Ostens“.

Norbert Blüm erzählt Anekdoten von Besuchen in Israel

Einspruch erhob Rolf Verleger, der den Film „propagandistisch“, sogar „unmoralisch“ findet und Israel massive Diskriminierung der Palästinenser vorwirft. Kritik daran werde zu Unrecht als antisemitisch denunziert. Wie Wolffsohn begrüßte Ahmad Mansour, geboren als israelischer Palästinenser, dass endlich ein Film den erschreckenden Antisemitismus der muslimischen Communities in Europa zeige. Am Flughafen von Tel Aviv sehe er immer häufiger Juden aus Frankreich, die ihr Land verlassen, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen.

Der Film folge „der Logik der Rache“, beschwerte sich Norbert Blüm, der den „Terror beider Seiten“ kritisiere, um im nächsten Halbsatz auf die Massaker an Palästinensern zu sprechen zu kommen, und erzählte mehrere Anekdoten von Besuchen in Israel, bei denen er persönlich im Alltag entwürdigende Behandlung von Palästinensern erlebt habe.

Antijüdische Vorurteile, zitierte Wolffsohn eine Studie von 2015, hegen in der deutschen Bevölkerung 16 Prozent der Bevölkerung, doch 56 Prozent der Muslime in Deutschland. Man dürfe doch, so der Einwand von Rolf Verleger wie von Norbert Blüm und Gemma Pörzgen, Israelkritik nicht mit Antisemitismus vermengen. Fast verzweifelt war bei dieser Position der Versuch zu spüren, einen Befund des Films, nämlich die Verquickung der antisemitischen Szenen und Milieus, abzustreiten. Gemma Pörzgen hatte dem Film vorab im Deutschlandfunk „eine sehr klare propagandistische Linie“ unterstellt, die sie „erschreckt“ habe.

Wolffsohn gab sich Mühe, den drei Mitdiskutanten die antijüdische Schnittmenge der Milieus aufzuzeigen, die sich in den drei Elementen des Antisemitismus einig sind: in der Dämonisierung von Juden, der Delegitimierung von Juden und Israel, und in doppelten Standards für Juden, also einer besonderen Obsession mit Israels echten oder vermeintlichen Vergehen.

„Jesus ist ein Semit“, erklärte rechtfertigend Norbert Blüm, und es habe „dunkle Seiten der Christenheit“ gegeben. Er, Blüm, sei aber kein Antisemit, wenn er Israel oder das Finanzkapital kritisiere, „das verbitte ich mir!“

Jugendliche angeln sich Verschwörungstheorien

Das zentrale, tabuisierte Problem, mahnte Mansour mehrfach an, sei die Haltung muslimischer Jugendlicher aus judenfeindlichen Familien. Das liege nicht allein am Nahostkonflikt, sondern auch am Antisemitismus im Koran. In seiner Deradikalisierungs-Arbeit als Psychologe begegnet er Jugendlichen, in deren Familien – wie in Mansours eigener – Juden als Feinde dargestellt werden. Zusätzlich angeln die Jugendlichen heute aus dem Internet Verschwörungstheorien, wo Juden als „Freimaurer“ oder „Illuminati“ bezeichnet werden, die eine Weltherrschaft anstreben. „Du Jude!“ wird auf Schulhöfen als Schimpfwort verwendet, es werden Hassparolen gebrüllt wie „Kindermörder Israel!“, was Maischberger in einem kurzen Einspieler zeigen lässt.  

Leidenschaftlich plädierte Mansour für das Beenden der Hass-Diskurse - in Israel selber wie an den Schulen in Deutschland. Dort müssten vor allem für muslimische Kinder dringend produktive, menschliche Gegennarrative zu den tradierten Hassbotschaften der Elternhäuser vermittelt werden. Widersprechen wollte, konnte da keiner mehr.  

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