Amazon-Serie „The Underground Railroad“: Eine schwarze Frau in Amerika
„The Underground Railroad“: Die Amazon-Serie nach dem Roman von Colson Whitehead nimmt die Unabhängigkeitserklärung ernst.
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist ein guter Leitfaden für freie Gesellschaften. „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Die junge Cora (Thuso Mbedu) hört diese Sätze erstmals auf ihrer Flucht aus den Südstaaten in der Enklave Valentine, die Jahre vor dem amerikanischen Bürgerkrieg von freien Schwarzen und entflohenen Sklav:innen im Bundesstaat Indiana gegründet wurde.
Ein kleines Mädchen hat die Zeilen auswendig gelernt und trägt sie der Gemeinde vor. „Molly ist unsere Zukunft“, erklärt John Valentine (Peter De Jersey) den Anwesenden stolz. Doch Cora misstraut dem Pathos der Gründerväter, die selbst Sklavenhalter waren. Ob sie denn an die Worte glaube, will Cora später von der Lehrerin Georgina (Kara Flowers) wissen. „Ich bin eine schwarze Frau in Amerika”, entgegnet diese lächelnd. „Die Unabhängigkeitserklärung ist wie eine Landkarte. Du vertraust ihr, aber du kannst dir erst sicher sein, wenn du es selbst versucht hast.“
Die lange vergessene Geschichte der Underground Railroad, ein Netzwerk von Unterstützer:innen, das in der Antebellum-Epoche Sklaven die Flucht aus den Südstaaten in den Norden ermöglichte, hat in den vergangenen Jahren in der Populärkultur neue Aufmerksamkeit erfahren („The Underground Railroad“, zehn Folgen, Amazon Prime Video).
Die Fernsehserie als „große Erzählung“
Der Autor Colson Whitehead verschaffte der Abolitionismus-Bewegung literarische Weihen, sein gleichnamiger Roman wurde 2017 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Harriet Tubman, die prominenteste Aktivistin der „Railroad“, wird demnächst als erste schwarze Frau eine US-Dollarnote zieren. Die Eisenbahn war eine Metapher, die indirekt auch auf den Umstand verwies, dass der amerikanische Fortschritt auf der unbezahlten Arbeitskraft vom afrikanischen Kontinent gegründet war.
Colson Whitehead nahm dieses Sprachbild beim Wort. In „The Underground Railroad“ ist das Netzwerk ein unterirdisches Schienensystem, in dem dampfbetriebene Lokomotiven die Menschen in die Freiheit befördern. Cora ist seine Protagonistin, aber wahrlich nicht die einzige Heldin dieser Geschichte. Dass Whitehead seinen Bestseller mit Amazon Studios als Serie adaptiert, ist auch ein empfindlicher Schlag für die Filmbranche. Regie führt bei allen zehn Episoden Barry Jenkins, dessen „Moonlight“ im selben Jahr wie der Roman erschien.
Ein Oscar-Gewinner verfilmt einen Pulitzer-Preisträger: In der Ära vor den großen Streamingdiensten hätte sich mit diesem Prestigeprojekt jedes Hollywood-Studio gerne geschmückt. Es war Jenkins, der darauf bestand, „The Underground Railroad“ nicht in ein Spielfilmformat zu pressen.
Die Hoffnung des einst goldenen Serienzeitalters, dass die Fernsehserie den Roman als „große Erzählung“ ablösen könnte, hat sich spätestens mit der Einführung von Streaming-Algorithmen und der Einschleifung von Sehgewohnheiten erledigt. Doch Jenkins, der mit „Beale Street“ als erster US-Regisseur auch einen Roman von James Baldwin verfilmte, nimmt seine literarischen Ambitionen ernst. Er hat Whiteheads Vorlage neu strukturiert, jede Episode funktioniert nun wie ein kleiner Film.
Die gewalttätige Geschichte Amerikas ist für die Nachwelt dokumentiert
Die Längen schwanken zwischen 40 Minuten und 80 Minuten, mit einem 20-minütigen Interludium in Episode sieben, das in der Vorlage gar nicht vorkommt. Jenkins sucht und findet einen eigenen Rhythmus. Er nimmt sich auch die Zeit, einfach nur die Bilder für sich sprechen zu lassen, wenn bloße Worte die black experience im „Sarg des Südens“, wie der Autor Ta-Nehisi Coates den historischen Rassismus in seinem Roman „Der Wassertänzer“ nennt, nicht mehr beschreiben können.
Die Zeugnisse ihrer Flucht, die Cora an jeder einzelnen Station für eine Chronik der Underground Railroad ablegt, gehören zur Oral History des wahren Amerika.
Barry Jenkins hat mit „The Underground Railroad“ vorerst seinen künstlerischen Zenit erreicht; so verwundert es nicht, dass er sich mit seinem nächsten Projekt, der Fortsetzung des Disney-Erfolgs „Der König der Löwen”, zur Abwechslung an einem familienfreundlichen Stoff versucht. Die gewalttätige Geschichte Amerikas ist für die Nachwelt dokumentiert, bis hin zu den Handyvideos und Bodycam-Aufnahmen von der Ermordung Philando Castiles und George Floyds.
Auf die Frage, wie sich die Geschichten schwarzer Körper vor dem Hintergrund dieser immer noch realen Gewalt erzählen lassen, hat kein amerikanischer Filmemacher so emphatische wie ermächtigende Antworten gefunden wie Jenkins. Das Trauma der Sklaverei ist tief in den Bildern seines langjährigen Kameramanns James Laxton verwurzelt.
Die Nachbilder der physischen Gewalt, die Jenkins in den ersten beiden Episoden noch schonungslos zeigt, durchziehen die gesamten zehn Stunden. Doch die Narben der Peitschenhiebe sind in „Underground Railroad“ bereits ein Zeichen der Stärke, einer „Verbundenheit, die nur die schwarzen Menschen dieser Welt kennen und verstehen können“, wie es der Geschäftsmann Mingo (Chukwudi Iwuji) vor der Gemeinde von Valentine formuliert.
Die Narben am Körper als Zeichen der Stärke
Coras Odyssee durch den amerikanischen Süden zeichnet diese innere Reise auch geografisch nach: von den niedergebrannten, schwelenden Wäldern Tennessees bis zum lichtdurchfluteten „Indian Summer“ in Valentine.
Am Ende der Flucht blickt Thuso Mbedu direkt in die Kamera. Cora, vom Sklavenjäger Ridgeway (Joel Edgerton) über den halben Kontinent gejagt, ist zum Subjekt ihrer Geschichte geworden.
Welches Vertrauen Jenkins in die Ausdruckskraft schwarzer Körper hat, zeigt schon sein untrüglicher Blick für unbekannte Gesichter. In „The Underground Railroad“ arbeitet er erneut mit einem herausragenden Ensemble junger Talente: der Entdeckung Mbedu in ihrer ersten amerikanischen Hauptrolle, Aaron Pierre als Coras Weggefährte Caesar, Sheila Atim, die Coras Mutter Mabel spielt, und dem elfjährigen Chase Dillon in der Rolle von Ridgeways Begleiter Homer.
Dazu etablierte Darsteller:innen wie William Jackson Harper, Chukwudi Iwuji oder Amber Gray. Diese Aufmerksamkeit für Gesichter und Körper zeichnet die Poesie von Jenkins Bildsprache aus, den politischen Blick auf seine Figuren. Die Landkarte ihrer gefährlichen Flucht, die Cora schließlich auf ein Blatt Papier zeichnet, ist ihre Unabhängigkeitserklärung als schwarze Frau in Amerika.
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