"Die Nickel Boys" von Colson Whitehead: Tote geben keine Ruhe
Tief sitzender Rassismus: Colson Whiteheads Roman "Die Nickel Boys" über die Verhältnisse an einer US-Besserungsanstalt in den sechziger Jahren.
Der Eröffnungssatz dieses neuen Romans von Colson Whitehead ist ein vielsagend-fulminanter, „Sogar als Tote machten die Jungs noch Ärger“, und dann bekommt man zu Beginn erst einmal den Eindruck, es hier vor allem mit einem Bericht zu tun zu haben, mit einer Geschichte aus dem Fachbereich dokumentarischer Literatur.
Whitehead legt dar, wie in den nuller Jahren auf dem Gelände einer ehemaligen Besserungsanstalt in Florida Skelette entdeckt wurden, wie eine Gruppe von Archäologiestudenten forensische Untersuchungen anstellte, und wie sich die Öffentlichkeit auf einmal für das Schicksal der vermeintlich schwer erziehbaren Jungs interessierte, die hier seit den sechziger Jahren „gebessert“ werden sollten.
Die Geschichte, die Whitehead in „Die Nickel Boys“ erzählt, (Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser Verlag, München 2019.220 S., 23 €), basiert auf jener der Dozier School For Boys in Marianna, Florida. Diese wurde 2011 geschlossen, und immer wieder fand man auf deren Gelände neue Gräber abseits des offiziellen Friedhofs. Mag der 1969 in New York geborene Schriftsteller zunächst berichtend und per weit kommender auktorialer Perspektive diesen Roman aufzäumen, so besinnt er sich doch schnell seiner literarischen Bestimmung und konzentriert sich auf einen Charakter, einen der Zöglinge dieser Anstalt, die bei ihm „Nickel“ heißt: auf Elwood und zuerst auf dessen Vorgeschichte. Es ist die hohe Zeit der Bürgerrechtsbewegung, von Martin Luther King und des insistierenden Aufbegehrens gegen die Rassentrennung. Elwood bekommt von seiner Großmutter, die ihn aufzieht, die Reden von King als Schallplatte, „das schönste Geschenk seines Lebens, nur stürzten ihn die Ideen, die es ihm einpflanzte, ins Verderben.“
Elwood landet im Nickel statt auf dem College
Er ist ein aufmerksamer Schüler, wird von seinem Deutschlehrer gefördert, ergattert nach der Schule auch einen Platz im College.Nur steigt er an dem Tag, da er sich auf den Weg dorthin macht, in ein Auto, das von der Polizei angehalten wird, ein mutmaßlich geklautes: „Dachte ich mir doch gleich, als es hieß, wir sollten auf einen Plymouth achten“, sagt ein Polizist, „den klaut nur ein Nigger“.
Elwood landet im Nickel statt auf dem College – und Whitehead erzählt von den Zuständen hier: von den Schicksalen einiger anderer Nickel-Boys, vom sogenannten Weißen Haus, wo gefoltert wird, von der Trennung der weißen und schwarzen Jungs, wobei es letztere geradezu naturgemäß viel schwerer haben, aber auch von einem mexikanischen Jungen der wegen unklarer Herkunftsverhältnisse oft die Seiten wechseln muss.
Beeindruckend ruhig und stilsicher führt Whitehead durch seinen Roman. Fast beiläufig passieren die schlimmsten Dinge, ähnlich beiläufig arrangieren sich die Jungs; flüchten ist kaum ein Option. Whitehead will nicht mit aller Macht aufrütteln, gar schockieren, plakativ anklagend sein. Sondern betont unaufgeregt und damit umso nachdrücklicher reiht er Szenen aus dem Innern einer Institution, die stellvertretend für die Rassentrennung und den institutionellen Rassismus jener Zeit steht, für die Rassenhierachie in allen Bereichen der US-Gesellschaft – trotz beginnender Veränderungen durch die civil rights movement.
Whitehead arbeitet mit „Die Nickel Boys“ abermals ein schmerzvolles Kapitel der US-Geschichte auf
Wie in seinem mit dem Pulitzer Preis und dem National Book Award ausgezeichneten Roman „Underground Railroad“ über die Ursprünge des Rassismus und das Schicksal einer jungen Sklavin bearbeitet Whitehead mit „Die Nickel Boys“ abermals ein schmerzvolles Kapitel der US-Geschichte. Wie unaufgearbeitet es ist, führt er im dritten Kapitel vor: einem Porträt des älteren Elwood und dessen Leben nach dem Nickel, geschickt von Rückblenden in entscheidende Situationen von damals unterbrochen und auf ein völlig überraschendes, aber exemplarisches Ende zusteuernd.
Anders als der epischere „Underground Railroad“ ist „Die Nickel Boys“ kompakt und zügig erzählt. Gerade dadurch entwickelt der Roman seine Wucht. Whitehead benötigt nicht viele Worte, um Elwoods Zwiespalt zwischen Aufbegehren und seinem durch die Anstaltsleitung und deren Gehilfen gebrochenen Willen zur Rebellion zu dokumentieren; auch die Begeisterung für King wird durchsetzt von Zweifeln an manchen seiner Worte, etwa jenen vom Primat der Liebe, der Vergebung und der Nachsicht.
Als Elwood einen Brief über die Korruption am Nickel nach draußen schmuggeln und Zeitungsredaktionen zukommen lassen will, fragt er sich: „Dies oder das. Diese Welt, deren Ungerechtigkeit die Leute zu Demut und Gehorsam zwangen, oder die bessere Welt, die darauf wartete, dass man sie endlich betrat?“ Viel gerechter, besser ist die Welt seitdem nicht geworden. Doch könnte Colson Whiteheads überzeugender Roman zumindest dafür sorgen, dass manches Trauma besser zu bewältigen ist, manche Wunde noch heilt.
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