Irrer "Tatort" mit Ulrich Tukur: Ein Krimi wie eine Matroschkapuppe
Genial oder hohl? Der Hessen-„Tatort“ versucht sich als Film im Film. Das bleibt nicht die einzige Überraschung. Manch ein Kommissar gehört gar nicht hierher.
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Diese ewige Frage erfreut sich spätestens mit Richard David Prechts Philosophieklassiker wieder wachsender Beliebtheit. Früher oder später musste sie auch beim LKA-Ermittler Felix Murot alias Ulrich Tukur landen, diesem Typen mit dem Tumor im Kopf, einem der ungewöhnlichsten „Tatort“-Ermittler der vergangenen Jahre.
Und schnell wird an diesem Sonntagabend in der Primetime klar: Hier ist gar nichts wie sonst. Gleich die erste Szene im „Tatort“ bricht ab, wir finden uns am Filmset wieder, wo gegen genau den Schauspieler ermittelt wird, der den Felix Murot spielt: Ulrich Tukur.
Wer denkt sich so etwas aus? HR-Redakteur Jörg Himstedt sagt, man könne mit Tukur keinen normalen „Tatort“ drehen. Als Tukur überzeugt wurde, „Tatort“-Kommissar zu werden, sei das Thema gewesen. Es sollten nicht die üblichen Kommissarfragen sein, nicht das Abklappern von Verdächtigen. An dieses Versprechen habe man sich bis zu diesem fünften Fall mit Felix Murot gehalten, in unterschiedlichsten Ausprägungen.
Jetzt ist man über die Grenzen gegangen. Der klassische „Tatort“ als Rahmenhandlung: Nach dem Bergfest beim Dreh zu einer neuen „Tatort“-Folge mit Tukur als Felix Murot verunglückt der Assistent der Aufnahmeleitung tödlich. Tukur soll am Abend zuvor mit diesem gesoffen und gezockt haben, der Fernsehstar kann sich aber nicht erinnern. Die Polizei (die „echte“ Polizei!) nimmt Tukur in die Mangel. Sie vermutet, er habe den Assistenten getötet und den Casinogewinn eingesackt.
Tukur gerät in Erklärungsnöte, längst wird der geplante „Tatort“ nicht mehr weitergedreht. Nachts klopft der Schauspieler hilfesuchend bei Hotelzimmernachbar und Kollege Wolfram Koch vom anderen Hessen-„Tatort“ an, vergebens. Auch Senderredakteur Hochstätt (Michael Rotschopf) zeigt sich wenig loyal. Zu Tukurs Not stößt auch noch der finanziell klamme Ex-„Tatort“-Kollege Martin Wuttke hinzu. Dieser glaubt, Tukur habe die Casino-Kohle.
"Schau dich mal an."
Ein Film im Film also. Ein Film, der es den „Tatort“-Fans nicht leichtmacht. Alleine schon die Frage: Wie gut sind hier die Kommissare? Welche Kommissare? Felix Murot? Ulrich Tukur, der Murot spielt und mitten in einem „Tatort“-Dreh Nachforschungen in eigener Sache betreibt, weil er plötzlich des Mordes verdächtigt wird? Tukurs Schauspielerkollegen Wolfram Koch alias HR-Kommissar Paul Brix und Margarita Broich alias HR-Kommissarin Anna Janeke sowie Ex-Leipziger-„Tatort“-Mann Martin Wuttke, die auftauchen und sich selbst spielen dürfen? Oder die beiden „echten“ Kommissare, die in diesem Krimi gegen Ulrich Tukur ermitteln? Nächste Frage.
Vor rascher Ermüdung schützen die sprühenden Dialoge. Es muss ein Fest für Regisseur/Autor Bastian Günther gewesen sein, seine Protagonisten hinter die Kulissen blicken zu lassen. Da steht Ulrich Tukur am „Tatort“-Set. Neben ihm holt sich der Mann, der gerade in einer Szene die Leiche gespielt hat, einen Kaffee, im Gesicht blutverschmiert. Der Mann sagt: „Mensch, Uli, wie läuft es so? Du siehst müde aus.“ Tukur: „Schau dich mal an.“ Später sitzen Tukur, Wuttke und Koch gemeinsam auf Ermittlungstour im Auto: drei Schauspielergrößen mit Ironie und Imageproblemen, die sich wie Kinder um eine Pistole streiten.
Das Gegenüber von Sein und Schein, von Imagination und Wirklichkeit, alles das schreit hier nach: Ausnahmekrimi! Ein „Tatort“ ist aber kein Philosophieseminar oder Experimentierfeld, zudem die Ermittlungen gegen Murot und die Wer-bin-ich?-Frage ziemlich krude auslaufen.
Manche werden sagen: Geniales Verwirrspiel um Identitäten, absurdes Theater à la Ionescu. Ich sage: Viel Lärm um nichts. Wie eine russische Matroschkapuppe, man schält und schält, am Ende ist nichts drunter. Das Prinzip Metakrimi wird hier so sehr ausgereizt, dass es da eigentlich kein Zurück mehr geben kann. Zuletzt hatte Ulrich Tukur den Wunsch geäußert, in Hamburg wieder auf der Bühne zu stehen, verbunden mit einer Kritik am zeitgenössischen Theater. Vielleicht war das der letzte Tukur-„Tatort“. Richtiger Mann, falscher Ort.
„Tatort: Wer bin ich“, Sonntag, ARD, 20 Uhr 15