TV-Doku "Die nervöse Republik": Ein Jahr Dauererregung
Dokumentarfilmer Stephan Lamby beobachtet fürs Erste „Die nervöse Republik“. Doch Politiker und Journalisten haben sich längst auf die neuen Gegebenheiten eingestellt.
Der Titel der Langzeitbeobachtung des Berliner Politik- und Medienbetriebs ist etwas vollmundig geraten: „Die nervöse Republik“ heißt die Dokumentation von Stephan Lamby, die das Erste an diesem Mittwochabend in Spielfilmlänge ausstrahlt. Gut ein Jahr lang hat der renommierte Dokumentarfilmer Politiker und Journalisten begleitet, bei Kabinettssitzungen, bei Wahlkampfauftritten, in Meetings und bei Redaktionskonferenzen. Ausgangspunkt der von NDR und RBB in Auftrag gegebenen Produktion waren die stürmischen Ereignisse des Jahres 2016 inklusive hysterischer Diskussionen über die Flüchtlingsthematik, das Erstarken der AfD, die Brexit-Abstimmung sowie die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und die zahlreichen Terroranschläge von Würzburg über München bis Berlin. Deutschland im Zustand der Dauererregung, so lautet die Situationsbeschreibung, die in den Fragen mündet: „Heizen Politiker und Journalisten diese Entwicklung selbst an? Oder sind auch sie überfordert?“
Doch so nervös zeigen sich weder die befragten Politiker, angefangen bei Bundesinnenminister Thomas de Maizière über Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht bis hin zu SPD-Generalsekretärin Katarina Barley und ihrem CDU-Amtskollegen Peter Tauber, noch die Vertreter der Medienzunft, obwohl sich die politischen Auseinandersetzungen durchaus verschärft haben. Es war zwar nur eine Torte, die Sahra Wagenknecht erwischte. Zuvor hatte sie gesagt, dass die Aufnahme der Flüchtlinge ein Problem sei, das man nicht der AfD überlassen dürfe. Wie schnell aber ein solcher Angriff blutiger Ernst werden kann, das weiß sie nicht zuletzt wegen der Messerattacke auf ihren Lebensgefährten Oskar Lafontaine im Jahr 1990. Die Doku zeigt aber auch, wie öffentliche Auftritte von Politikern speziell in den neuen Ländern zum Spießrutenlauf werden. Ganz zum Gefallen der AfD, die auf einem Parteitag feiert, dass Bundesjustizminister Heiko Maas bei einer Kundgebung zum 1. Mai in Zwickau vom Platz gejagt wird.
"Leider nicht die politisch Verantwortlichen getroffen"
Tätliche Angriffe sind die absolute Ausnahme, doch Verbalattacken an der Tagesordnung. Heiko Maas sitzt zwar im Gespräch mit Stephan Lamby ganz entspannt auf der Tischkante, doch wenn er von „dem Hass in den Augen“ der wutentbrannten Menschen spricht, merkt man ihm die Besorgnis an. Die Äußerung ihres AfD–Parteikollegen Sebastian Wippel aus Sachsen, die Anschläge in Bayern und Baden-Württemberg hätten „leider nicht die politisch Verantwortlichen getroffen“, möchte Frauke Petry nicht korrigieren. Er hätte das zwar anders formulieren sollen, aber in der Sache habe er recht. Dabei musste sie selbst erleben, wohin Hass führen kann. Ihr Auto wurde angezündet, auch in ihrem Büro wurde Feuer gelegt. Gedroht wird über alle Parteigrenzen hinweg. „Das hättest du sein können“, zitiert SPD-Generalsekretärin Barley aus einer Mail.
Die Zeiten haben sich geändert, auch für den Medienbetrieb, sagt Hans Monath, Parlamentskorrespondent des Tagesspiegels, und spricht von einer „Wendezeit für jeden“, also für Politiker, Journalisten und politisch interessierte Bürger. Das gilt unter anderem für die Kommunikation zwischen Politik und Bürgern, die verstärkt über die sozialen Medien läuft. Sahra Wagenknecht freut sich darüber, dass sie nicht mehr darauf warten muss, dass sie zu Themen befragt wird, die sie besonders interessieren. Via Facebook könne sie direkt zu ihren eine Million Followern sprechen – so viele wie „mit einer mittleren Zeitung“. Dafür wird die Filterblase „immer dicker“, wie „Jung und naiv“-Journalist Thilo Jung sagt. Hinzu kommt, dass jede AfD-Äußerung klickstark über die großen Online-Plattformen wie Bild.de verbreitet wird. „Unsere Reichweite ist so groß, wir können auf Frau von Storch verzichten“, sagt zwar „Bild“-Chef Julian Reichelt, doch 50 000 Abrufe kommen mit einem Bericht über eine Äußerung der AfD-Politikerin schnell zustande. In Dresden werden zwei Demonstranten gefragt, was für sie das beste Info-Angebot sei: „Die Facebook-Seite von Pegida.“
Frauke Petry und das Establishment
Lamby lässt ausschließlich die Protagonisten zu Wort kommen und enthält sich sämtlicher Off-Kommentare. Der Politik- und Medienbetrieb hat sich verändert, ist sicherlich hektischer geworden, aber die Doku zeigt auch, dass sich die Akteure auf die neuen Gegebenheiten eingestellt haben. Wie schnell man zum Establishment gezählt wird, musste übrigens Frauke Petry erleben. Selbst die Frontfrau der AfD wird in ihrer Zielgruppe längst nicht mehr von jedem als Alternative zu den „Systemvertretern“ gesehen.
„Die nervöse Republik – Ein Jahr Deutschland“, Mittwoch, 22 Uhr 45, ARD