TV-Kritik "Anne Will" und "Tatort": Die Reinheit von Radikalistan
Der "Tatort" und der Talk bei "Anne Will" widmeten sich den Mädchen und Frauen im Dschihad. Klar wurde: Das Thema braucht mehr Ruhe und Vertiefung.
Salafismus, Islamismus, das scheint Männersache. Bilder und Texte evozieren junge Heißsporne, die mit Waffe und Jeep im Dschihad unterwegs sind, oder fromme, ältere Bärtige, die zum Kampf gegen die „Ungläubigen“ aufrufen. Allemal männlich ist die Ikonographie des islamischen Fundamentalismus. Doch von dieser ideologischen Droge affiziert sind auch Mädchen und Frauen, zumal, wenn es um einen „Staat“ geht, den „Islamischen Staat“, den „IS“. So ein Staatsphantasma braucht Frauen.
Frauen sollen die Söhne für den Dschihad gebären, Helden den Haushalt führen, Mädchen und Jungen die „reine Lehre“ vermitteln. Und westliche Ehefrauen werden westlichen Kämpfern versprochen. Daher rekrutiert der „IS“ gezielt auch weibliche Belegschaft.
Wie lockt der radikale Islam Mädchen an, junge Frauen, geborene Muslimas wie Konvertitinnen? Weshalb fallen sie, die dem Wort nach Minderwertigen, zu Unterdrückenden, auf seine Botschaften herein? Wie wirkt diese Vorstellung des Islam als Droge? Diesem Rätsel widmete sich der Themenschwerpunkt der ARD am Sonntagabend. Den Auftakt machte ein vom NDR produzierter Politgruselfilm, die "Tatort"-Folge, „Borowski und das verlorene Mädchen“ des Regisseurs Raymond Ley.
Aufarbeiten sollte den verstörenden, meist in gehäckselten Kurzdialogen dargestellten Stoff, eine anschließende Talkrunde mit Anne Will: „Mein Leben für Allah - Warum radikalisieren sich immer mehr junge Menschen?“
Die Relevanz der Frage steigt, nicht zuletzt da dieser Tage bekannt wurde, dass deutsche Salafisten gern das kostbare Gratis-Training der Bundeswehr missbrauchen, um sich militärtechnisch a jour zu bringen. Sie heuern an, freiwillig, nicht zur Verteidigung der Demokratie, sondern um sie zu sabotieren. Zwanzig solcher akuten Fälle werden geprüft, sechzig ,weitere Verdachtsfälle scheint es zu geben.
Im "Tatort" irrte eine desorientierte Siebzehnjährige Konvertitin durch die Straßen Kiels, die Mutter geschieden und gefühlskalt, der Bruder ein brutaler Dealer. Mit Hilfe von Moschee und Imam will sie „einen Gott finden, der meine Wunden heilt“, sie sucht die Reinheit von Radikalistan, das Ende aller Sünden. Per Skype verspricht Julia einem „Helden“ in Syrien die Ehe. Heimlich will sie ausreisen, um auszureißen aus der Realität. Tausende solcher Fälle aus ganz Europa sind längst aktenkundig, 20 Prozent der Ausreiser sind Mädchen, Tendenz steigend.
Hereinfallen auf "islamistische Weltverbesserer"
Zu Wort kam zu Beginn bei Anne Will der Hamburger Sascha Mané, dessen Tochter, heute 18 Jahre alt, seit Sommer 2015 mit ihrem libanesischen Freund in Syrien beim „IS“ sein soll. Radikalisiert habe sie sich, so der Vater, wie bei den meisten ihm bekannten Hamburger Fällen, über einen Moscheeverein. Heute textet sie gelegentlich, es gehe ihr „gut“. Doch ob sie selber schreibt oder dabei kontrolliert wird, weiß der Vater nicht.
„Der Westen tötet Menschen für seinen Konsum!“ erklärt die konvertierte Julia im „Tatort“ – in solchen Aussagen erkannte Mané seine radikalisierte Tochter durchaus wieder. Jugendliche, so der Vater, wollten die Welt voller Ausbeutung und Unrecht verbessern, und fallen leicht auf die aktuellen, islamistischen „Weltverbesserer“ herein. Mané vermisst die Kooperation der Behörden bei der Bekämpfung der Radikalisierung und der Betreuung der Betroffenen. Ob er sein Kind je wiedersieht ist ungewiss.
Was erhoffen sich Mädchen von einer radikal-brutalisierten Männerwelt, in der sie Geschöpfe zweiter Ordnung sind? So fragte auch die "Tatort"-Kommissarin das konvertierte Mädchen. Zweifellos mobilisiert werden solche weiblichen Jugendlichen von Videos dschihadistischer Helden, die ihre muslimischen Schwestern schützen mit Machtgesten posieren, eine toxische Mixtur aus Sentimentalität, Brutalität und Verheißung.
Ahmad Mansour, palästinensischer Psychologe und Autor von „Generation Allah“, spürt all diesen Fragen schon länger nach. Engagiert forderte er bei Anne Will von den 2600 deutschen Moschee-Vereinen eine klarere Linie in der Prävention, das Einstehen gegen tradierte Geschlechterapartheid, tabuisierte Sexualität, gegen Angstpädagogik, die mit einem strafenden Allah und der Hölle droht. Das in Moscheen gelehrte Islamverständnis müsse die Vereinbarkeit mit der Demokratie noch finden.
Pointiert hatte der Imam im "Tatort" dem Kommissar beschieden: „Wie alt sind Ihre Gesetze, und wie alt ist das Wort des Propheten?“ Um ähnlich prä-säkulare Wahrnehmung scheint es sich oft zu drehen. Es seien eben nicht nur die Verlierer und die Haltlosen, die zu Fundamentalisten werden, erläuterte Mansour, sondern den Boden dafür bereiten auch überall übliche Islamversionen.
Empörung beim Imam aus Berlin
Völlig zu Unrecht werde seine Moschee vom Verfassungsschutz in den Blick genommen, empörte sich der Gast Mohamed Taha Sabri, Imam der Dar-as-Salam Moschee in Berlin, die der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland" (IGD) nahe steht, eine einflussreiche Organisation der Muslimbrüder, und mehrfach Hassprediger als Gastredner geladen hatte. Das seien Einzelfälle gewesen, verteidigte sich Sabri, seine Moschee warne vor Radikalisierung und arbeite dagegen an. Berichten zufolge waren in der Dar-as-Salam Moschee teils Hetzreden gegen Juden, Homosexuelle und Schiiten zu hören.
Völlig zu Unrecht als radikal verdächtigt sah sich auch Nora Illi, Frauenbeauftragte des radikal-orthodoxen Islamischen Zentralrats in der Schweiz. Vollverschleiert saß sie in der Will-Runde mit einen Niqab, der allein einen Augenschlitz zulässt. Die 2002 Konvertierte hatte ihr Erweckungserlebnis nach eigenen Angaben im Alter von 18 in Dubai, als sie den Gebetsruf eines Muezzins hörte. Am Islam schätze sie, dass er „nicht eine Religion des Individualismus“ sei. Und nein, unterdrückt würden Musliminnen nicht, Frauen dürften sogar den Lohn „für sich behalten“, den sie mit ihrer Arbeit verdienen.
Im Rededuell mit Mansour, der mit großer Irritation den Selbstausschluss der Vollverschleierten aus der Gesellschaft bedauerte – „Mimik ist wichtig für Kommunikation“ – beharrte Illi, sie habe sich nun mal für die „normative Option des Niqab“ entschieden und sehe sich als Frau respektiert. Den Einwurf von Wolfgang Bosbach, Innenexperte der CDU, dass etwa auf der Homepage des Münchner Islamzentrums erörtert werde, wann und warum ein Moslem seine Ehefrau schlagen darf, ignorierte sie. Leider griff die Moderatorin das Thema, wie so viele andere, nicht weiter auf. Gesprächsbedarf gäbe es allerdings für unzählige Stunden.
Schockiert über Zitate
Kritisch wurde es für Nora Illi, als Anne Wills Redaktion Zitate von ihr einblendete, die sich an junge Ausreisewillige richten. Es sei nichts dagegen einzuwenden, sich dem Kampf gegen das Unrecht in Syrien anzuschließen, war da zu lesen, doch müsse man realistische Vorstellungen haben, es handle sich um eine „bitterhärteste Langzeitprüfung mit ständigen Hochs und Tiefs.“
Schockiert war nicht nur Mansour, sondern auch Bosbach, dass derlei Propaganda überhaupt in einem öffentlich rechtlichen Sender zitiert wurde. Noch schockierender schien es, dass dies erst gegen Ende der Sendung geschah, als kaum noch Raum blieb, die Brisanz dieser Aussagen angemessen einzuordnen und zu deuten.
Klar wurde vor allem: Schulen, Lehrer, das Bildungssystem können sich nicht länger leisten, die Problematik der aus dem Ruder laufenden Radikalisierung, die Virulenz der ideologischen Diskurse zu bagatellisieren und zu ignorieren. Und Ahmad Mansour traf den Nagel auf den Kopf mit seiner Forderung, dass die Debatte über das Thema nicht weiterhin das Monopol von Islamisten einerseits und Islamophoben andererseits bleiben dürfe, sondern in der Mitte der Gesellschaft geführt werden müsse.
Ja, dieses Thema gehört auf den Tisch. Mit mehr Ruhe und Vertiefung, als jede noch so gut moderierte Talkshow sie bieten kann. Es gehört auf den Tisch der Kultusministerkonferenz, auf den Tisch des Bildungsministeriums, der Politik generell. Die Augen zu verschließen, das machte der Abend bewusst, schadet allen, den demokratischen, säkularen Muslimen wie der demokratischen Mehrheit.