zum Hauptinhalt
Ahmad Mansour
© Mike Wolff

Ahmad Mansour kämpft gegen Islamismus: „Unter uns ist ein Ungeheuer entstanden“

Wenn Eltern fürchten, ihre Kinder zögen in den Dschihad, ist er für sie da. Ahmad Mansour sagt: "Wir Muslime müssen Verantwortung übernehmen."

Ahmad Mansour, 39, stammt aus der arabischen Stadt Tira in Nordisrael. 2004 zog er nach Deutschland. Der Diplom-Psychologe kämpft mit Projekten gegen islamistische Radikalisierung und Antisemitismus. Gerade erschien sein Buch "Generation Allah". Mansour ist verheiratet und Vater einer Tochter.

Herr Mansour, mit der Initiative „Hayat“ beraten Sie Eltern junger Dschihadisten. Solche Angebote sind seit den Attentaten von Paris sicher sehr gefragt.

Das kann ich so nicht bestätigen. Der Ansturm begann schon im Sommer 2014, damals reisten sehr viele junge Männer aus Deutschland nach Syrien und in den Irak aus. Gerade sehen wir etwas anderes: eine Rekrutierungswelle für den Heiratsmarkt. Wir wissen von Fällen, wo Frauen gezielt nach da unten reisen, um einen Typen zu heiraten, den sie nur von Bildern kennen.

Was treibt Frauen zum „Islamischen Staat“?

Da sind Mythen entstanden, von heldenhaften, supersexy Männern mit der Waffe in der Hand. Viele Mädchen aus patriarchalischen Verhältnissen, die praktisch gar nichts dürfen, erleben die Reise nach Syrien oder in den Irak als Befreiung von ihren Eltern und Brüdern. Die Unterdrückung durch die Salafisten wirkt fairer auf sie. Denn die Islamisten sagen: Nicht nur du, sondern auch dein Bruder darf keinen Sex vor der Ehe haben.

Sie warnen seit Jahren davor, der radikale Islam sei in Deutschland auf dem Vormarsch. Kann man hierzulande aus den Fehlern lernen, die in Frankreich gemacht wurden?

Das Problem ist in Deutschland das gleiche wie in Frankreich, nur weniger intensiv. Es macht mich wütend, dass wir erst jetzt eine Debatte führen und vermutlich auch bloß für zwei Wochen, danach ist scheinbar alles wieder in Ordnung. Ich fürchte, in Deutschland wird sich erst etwas bewegen, wenn auch hier große Anschläge passieren.

Dass ein solcher bisher nicht stattfand, war das schlichtweg Glück?

Ich denke, ja. Islamistische Attacken hat es schon gegeben, genau wie vereitelte Anschläge. Und momentan gibt es regelmäßig Anschläge – auf Asylbewerberheime. Auch die sind Teil des Problems.

Sie sagen, man müsse nicht nur gegen die gewalttätigen Extremisten vorgehen, sondern auch gegen das Umfeld, in dem diese heranwachsen.

Wir haben immer mehr Jugendliche, die sich nicht so sehr als Deutsche, Türken oder Araber definieren, sondern vor allem als Muslime. Religiosität wird zum stärksten, identitätsstiftenden Merkmal. Das hat damit zu tun, wie Muslime seit dem 11. September betrachtet werden …

… eine Art Trotzreaktion gegen die kollektive Schuldzuweisung.

Ein anderer Grund ist die langjährige Missionierungsarbeit, zum Teil finanziert von Saudi-Arabien und anderen Ländern. Heute ist es für einen muslimischen Jungen in der Schule schwierig zu sagen, ich faste nicht – da gibt es großen sozialen Druck. Nicht wenige aus dieser Generation Allah, wie ich sie nenne, entfernen sich von den demokratischen Grundsätzen dieses Landes. Das sind junge Menschen, die antisemitische Einstellungen und problematische Geschlechterrollen in sich tragen, die anfällig sind für Verschwörungstheorien und die, statt kritisch zu denken, den Islam buchstabengetreu verstehen.

Ein wenig ist das auch Ihre eigene Geschichte. Sie kommen aus einer arabisch-israelischen Familie …

… mein Vater würde sagen, aus einer palästinensischen Familie.

Aber Sie sind eben nicht in den besetzten Gebieten groß geworden, sondern als israelischer Staatsbürger, im Norden des Landes. Als Kind wurden Sie gemobbt, doch dann kümmerte sich ein Imam um Sie und machte Sie zum Koranschüler.

Ich wurde dadurch Klassensprecher, ein Traum, den ich sonst nie erreicht hätte. Ich bin mit arabischer Schlagermusik groß geworden, die meine Eltern gehört haben. Und dann mit 13 begann der Riesenkampf, weil ich die verteufelt habe. Erst mit 18 fing ich wieder an, Musik zu hören.

Der Schriftsteller Sayed Kashua stammt aus demselben kleinen Ort wie Sie.

Er ist ein Jahr älter. Ich kenne ihn supergut, er war mein Nachbar.

"Ich sah, wie der Attentäter auf die Autos feuerte"

Ahmad Mansour
Ahmad Mansour
© Mike Wolff

Ein Kapitel in seinem Roman „Tanzende Araber“ trägt den Titel „Ich wollte ein Jude sein“. Kennen Sie den Identitätskonflikt, von dem Kashua erzählt?

Als ich an der Tankstelle mit meinem Vater arbeiten musste, sah ich die jüdischen Israelis, die in der Öffentlichkeit knutschten und die abends noch unterwegs sein durften. Diese Freiheit weckte Sehnsüchte in mir. Ich hatte auch meine Sexualität, aber ich musste sie unterdrücken, und normalerweise musste man spätestens um 21 Uhr zu Hause sein. Ich habe die Kultur der jüdischen Israelis übrigens auch dank Saddam Hussein kennengelernt. Als er 1991 damit drohte, Israel anzugreifen, habe ich begonnen, israelisches Fernsehen zu schauen. Schon, weil ich wissen wollte, ob morgen Schule ist oder nicht. Da entdeckte ich Teenagerserien und solche Dinge.

Trotzdem muss es ein Schock gewesen sein, als Sie zum Studium nach Tel Aviv gingen. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Tag dort?

Komischerweise war der viel leichter als später mein erster Tag an der Humboldt-Universität. In Berlin habe ich mindestens ein Jahr gebraucht, um Anschluss zu finden. In Tel Aviv lief das problemlos. Ich habe anfangs natürlich nach arabischen Studenten gesucht, doch die konnte ich an der psychologischen Fakultät leider nicht finden. Meine jüdischen Kommilitonen nahmen mir meine Ängste. Und ich genoss die plötzliche Freiheit: Mein Vater schrie mich nicht mehr an, ich konnte ins Kino oder an den Strand gehen.

Zum Islamisten waren Sie offenbar nicht geeignet.

Bei aller Kritik an meinen Eltern: Irgendwie haben sie mir einen kleinen Freiraum gelassen, sodass ich anders denken konnte als viele.

Sie haben Israel 2004 verlassen. Lag das an dem Terroranschlag, den Sie kurz zuvor erlebt hatten?

Ich saß im Auto und sah, wie ein Palästinenser mit einem Maschinengewehr auf die umstehenden Wagen feuerte, bis er von einem Soldaten erschossen wurde. Danach sagte ich mir, das Leben hat viel mehr zu bieten. Außerdem hatte ich einen Artikel in einer Online-Zeitung veröffentlicht, mit dem Titel „Zwei Völker, zwei Schicksale“. Gemeint waren die Palästinenser in den Autonomiegebieten und die israelischen Araber. Da wurde ich von vielen Leuten heftig bedroht.

Warum wirkt die islamistische Ideologie auf manche so anziehend?

Ich versuche das normalerweise so darzustellen: Das sind Jugendliche, die gerade etwas durchmachen. Wenn diese Last eine kritische Masse erreicht, öffnet sich ein Fenster, meist nur für zwei Jahre, dann sind die Jugendlichen auf der Suche. Die wollen sich einfach von diesen Zuständen lösen. Die Frage ist, wer spricht sie an, und wer macht ihnen ein Angebot?

Laut dem US-Anthropologen Scott Atran ist der Hauptgrund die Sehnsucht nach Abenteuer und einem Leben, das Bedeutsamkeit verspricht.

Jahrelang haben uns sogenannte Experten erklärt, der wichtigste Grund für die Radikalisierung seien Perspektivlosigkeit und Diskriminierungserfahrung. Bis eine Studie zeigte, es sind gar nicht nur die Versager, die sich islamistischen Gruppen anschließen. Tatsächlich handelt es sich um ein Wechselspiel unterschiedlicher Faktoren. Diskriminierung und Rassismus sind wichtig, ja, aber auch psychologische Faktoren, wie der Wunsch zu einer Elite zu gehören und Macht zu haben, die Sehnsucht nach Halt und nach einer starken Vaterfigur. Bei „Hayat“ haben wir es in 80 Prozent der Fälle mit Familien zu tun, in denen die Väter keine Rolle mehr spielen. Die Ideologie mit ihren Opfer- und Feindbildern ist auch sehr bedeutsam. Deshalb müssen wir Muslime Verantwortung übernehmen und uns die Frage stellen, wie so ein Ungeheuer mitten unter uns entstehen konnte.

Sie vermissen Selbstkritik?

Es gibt großes Entsetzen bei der Mehrheit der Muslime. Und es gibt, was ich „das arabische Aber“ nenne: Relativierungs- und Rechtfertigungsversuche. Im Netz habe ich eine Karikatur gesehen. Die zeigt einen Franzosen im Krankenhaus, dessen Finger wehtut. Ein Mann, der die Welt repräsentieren soll, kümmert sich um ihn. Im Bett neben ihm liegt ein schwer verletzter syrischer Mann – und die Welt guckt nicht hin. Radikale stellen Videos online, in denen behauptet wird, die Juden oder die Franzosen selbst steckten hinter den Anschlägen von Paris. Viel zu oft werden Jugendliche mit diesen Inhalten allein gelassen, das ist hochgefährlich.

"Wir betreuen mehr als 200 Fälle, darunter auch Deutsche"

Ahmad Mansour
Ahmad Mansour
© Mike Wolff

Wie erfolgreich sind Sie mit „Hayat“?

Kommt darauf an, wie Sie den Erfolg messen wollen. Im Moment betreuen wir mehr als 200 Fälle, darunter auch Deutsche. Das heißt, Deutsche sind sie alle, aber diese haben keinerlei Migrationshintergrund. Wieder andere kommen ebenfalls aus nicht muslimischen Familien, das können russische oder ex-jugoslawische Familien sein, das kann jeden treffen. Meist wenden sich die Mütter hilfesuchend an uns. Ich selbst begleite Dutzende Familien, darunter solche, mit denen ich fast täglich telefoniere. Es geht oft darum, dass man den Jugendlichen mithilfe der Eltern Gegenangebote macht. Manchmal hilft ein Umzug, um das Kind aus der Umgebung herauszulösen, oder ein Ausbildungsplatz. Für mich ist ein Erfolg, wenn jemand seinen Eltern sagt, ich will nach Syrien gehen, und von diesem Wunsch wieder Abstand nimmt. Ungefähr bei einem Drittel klappt das. Echte Aussteiger sind leider in der absoluten Minderheit.

Ein anderes Projekt, für das Sie arbeiten, ist „Heroes“ in Neukölln und …

… da bin ich einer von fünf Gruppenleitern. Leider habe ich dafür immer weniger Zeit. Ich bin sehr stolz auf „Heroes“, das Projekt gibt es mittlerweile auch in Köln, Duisburg, München und anderswo.

Sie betreuen dort junge Männer, deren Familien aus der Türkei, der arabischen Welt oder Albanien stammen. Was wollen Sie denen vermitteln?

Diese Menschen haben eine bestimmte Vorstellung von Ehre und Geschlechterrollen, aber sie haben das nie richtig reflektiert oder darüber diskutiert, und wenn wir einfach hinterfragen, dann beginnen sie, nachzudenken. Man trifft sich ein, zwei Mal in der Woche und beschäftigt sich, für insgesamt fast ein Jahr, intensiv mit Themen wie Gleichberechtigung, Unterdrückung, Sexualität, Jungfräulichkeit, Demokratie, Menschenrechten, Antisemitismus. Allein in Berlin haben wir schon mehr als 30 Männer ausgebildet, die dann als „Heroes“ wiederum – von uns begleitet – Workshops für Jugendliche organisieren.

Ist es von Vorteil, dass Sie selbst arabischer Herkunft sind?

Ja. Die meisten der Jugendlichen treffen zum ersten Mal jemanden, der aus ihrem Kulturkreis stammt und anders denkt. Wenn da ein Mouhammad kommt und sagt, meine Ehre hat mit der Jungfräulichkeit meiner Schwester nichts zu tun – da gucken die aber!

Wie viel haben die patriarchalen Strukturen mit der Religion zu tun? Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor sagt, Männer, die „Ehrenmorde“ begehen, hätten den Koran nie aufgeschlagen.

Das ist zu kurz gedacht. Den einen Islam gibt es nicht, es gibt verschiedene Islam-Verständnisse und Strömungen. Nehmen Sie die Frage, ob Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen sollten. Ich finde, wer dafür sorgt, dass ein muslimisches Mädchen weniger lernt als ein nicht muslimisches Mädchen, der verhält sich wie ein Rassist. Die meisten muslimischen Verbände, die in der Islam-Konferenz vertreten sind, werden das ganz anders sehen. Das hat nichts mit dem Islam von Lamya Kaddor oder mir zu tun, aber mit deren Islamverständnis, und das sorgt dafür, dass problematische Geschlechterrollen fortbestehen.

Finden Sie, der deutsche Staat reagiert in solchen Fällen zu lasch?

Definitiv. Ich weiß, was für Hintergedanken ein Vater hat, der vermeiden will, dass seine Tochter am Schwimmunterricht teilnimmt. Da geht es nicht um Religionsfreiheit, sondern um die Kontrolle der Frauen. Vor ein paar Monaten stand hier in Berlin ein Mädchen vor mir, das mich unter Tränen fragte: Was ist wichtiger – Bildung oder Familie? Sie war kurz davor, das Abitur zu machen, und ihre Familie wollte, dass sie stattdessen heiratet und eine Familie gründet. Wahrscheinlich, weil sie Angst hatten, denn Abitur bedeutet auch Selbstständigkeit. Zwei Monate später ist dieses Mädchen von zu Hause abgehauen.

Sie beklagen, dass es nicht genug staatliche Gelder gibt, um dem Islamismus entgegenzuwirken, und das, was es gibt, lande bei den Falschen – oder bei der „Projektmafia“ der freien Träger.

Wenn Projekte finanziert werden, die ein Islamverständnis verbreiten, das hochproblematisch ist, dann frage ich mich, was machen wir hier? Es ist nicht mein Ziel, alle freien Träger zu verurteilen, aber es gibt auch Projekte, die nichts anderes sind als Selbstbeschäftigungsmaßnahmen.

Der Historiker Herfried Münkler hat gesagt, wenn weiter so viele Flüchtlinge zu uns kommen, dann werde es kaum möglich sein, den Integrationsprozess vernünftig voranzubringen. Hat er recht?

Ich sehe nicht die Zahlen als Problem, sondern die Konzepte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir einem Vater, der in Rakka oder Aleppo den Tod gesehen hat und mit seinem Sohn tausende Kilometer gelaufen ist, erklären: Stopp, die Obergrenze ist erreicht, jetzt können wir dich nicht mehr schützen. Wir müssen jedoch in der Lage sein, aus den Problemen, die wir bei der Generation Allah haben, zu lernen. Leider herrscht in der Politik Planlosigkeit und Naivität. Die Integration der Flüchtlinge den muslimischen Verbänden zu überlassen, ist ein Jahrhundertfehler.

Sie legen sich mit ziemlich vielen Leuten an. Werden Sie bedroht?

Ja. Da kommen eindeutige E-Mails. Da heißt es, Kopf ab. Heftig ist es geworden, als ich meine persönliche Geschichte erstmals veröffentlicht habe, da gab es Menschen, die das alles ins Arabische übersetzt und dem Imam in meinem Heimatort geschickt haben. Wenn ich meine Familie besuche, dann tue ich das nur unangemeldet, und ich übernachte in Tel Aviv.

Wie gehen Ihre Eltern mit Ihrem Engagement um?

Die haben bis vor Kurzem ein Tabu daraus gemacht, sie ahnten, was ich tue, wollten aber nichts Genaueres wissen. Vor drei Monaten habe ich ihnen alles erklärt. Meine Mutter verdrängt es, und mein Vater findet zwar den Titel meines Buches nicht so gut, aber dass ich über Deradikalisierung rede, findet er in Ordnung. Vor allem will er wissen, wie viele Bücher schon verkauft worden sind.

Folgen Sie Tagesspiegel Sonntag auf Twitter:

Zur Startseite