Bewegendes Kriegsdrama in der ARD: Die etwas andere Flucht
„Die Kinder der Villa Emma“ schildert das Schicksal von 73 Jugendlichen, die in den Wirren des Holocaust Richtung Palästina fliehen. Eine rührende Erzählung von Humanismus, Empathie und Anstand.
Zur Hauptsendezeit im Ersten wagt der steirische Regisseur Nikolaus Leytner gleich zu Beginn Außergewöhnliches: Er macht Kinder zu Tätern. Als zwei jüdische Teenager Anfang 1941 im Kino zu laut kichern, werden sie von Gleichaltrigen denunziert und des Saales verwiesen. Für so viel Hartherzigkeit wäre normalerweise jener Polizist zuständig, der Betty und Paula wegen Verstoßes gegen die Rassegesetze im hakenkreuzdekorierten Wien nach draußen zerrt.
Dort aber lässt der Polizist sie lächelnd laufen. Das zeigt, wie komplex man im Fernsehen das dunkelste Kapitel der Historie erzählen kann. Wenn man denn will. Und Nikolaus Leytner will. Zumindest teilweise.
Nach einer wahren Begebenheit schildert „Die Kinder der Villa Emma“ das Schicksal von 73 Jugendlichen aus Deutschland, Österreich und Kroatien, die in den Wirren von Weltkrieg und Holocaust Richtung Palästina fliehen, mit spürbarem Drang zur Authentizität. Unterstützt von der jüdischen Hilfsorganisation Alijat Noar stranden sie zunächst im norditalienischen Nonantola, wo ihre Betreuer die Weiterreise vorbereiten.
Nach Jahren des Leids erleben die Flüchtlinge im titelgebenden Landgut fortan eine Phase des Glücks – bis sie wegen der Besetzung Italiens durchs Deutsche Reich Mitte 1943 bei der aufopferungsvollen Dorfbevölkerung Unterschlupf finden.
Erzählung von Humanismus, Empathie und Anstand
Es ist eine ebenso rührende wie glaubhafte Erzählung von Humanismus, Empathie und Anstand, die gerade im Schatten aktueller Fluchtbewegungen an Bedeutung gewinnt. Wie die einfachen Leute der bäuerlich geprägten Emilia Romagna seinerzeit (und ganz im Gegensatz zum reichen Amerika oder der neutralen Schweiz) durch singuläre Verbrechen Entwurzelten Asyl gewähren, das ist ein starkes Zeichen der Menschlichkeit in unmenschlicher Zeit. Und zwar umso mehr, als Agnes Pluchs Drehbuch die Frage von Schuld und Verantwortung vielschichtiger gestaltet als im Historytainment zur TV-Primetime üblich.
Denn so wie es im deutschen Tätervolk Opfer gab, gewährt die Autorin dem jüdischen Opfervolk sein Recht auf Täterschaft, auf Abgründe, Untreue, amoralisches Handeln. In der prächtigen Villa Emma bleibt daher nicht nur Raum für die genretypische Weichzeichnung argloser Objekte eines Terrorregimes, dem die Niedertracht aus jedem Hitlergruß quillt. Gefangen auf engstem Raum gibt es unter den Flüchtlingen neben Harmonie und Wärme auch Egoismus, Eifersucht, Argwohn und Hass bis hin zu dem aufs eigene Opferdasein.
Selbst das „Gelobte Land“ verliert bisweilen an Glanz, wenn Nina Proll als Fluchthelferin Helga beklagt, ihr Mann sei dort nicht von Nazis, sondern von Arabern getötet worden. Als ihm bewusst wird, in Palästina warte womöglich nicht ewiger Friede, „sondern nur der nächste Krieg“, beginnt der selbstlose Joško (Ludwig Trepte) in seinem Feuereifer zu schwanken, während sich sein Kumpel Marco – verkörpert vom Burgschauspieler Laurence Rupp – fröhlich durch die Dorfgemeinschaft vögelt. Und wenn Nonantolas Barmherzigkeit vorm Priesterseminar endet, das auch totgeweihte Mädchen nicht in die katholische Männergesellschaft einlässt, wird klar: Schuld ist ein zutiefst individueller Begriff.
Umso ärgerlicher wirkt es da dann aber, wie servil, ja unterwürfig Regisseur Leytner den Bedarf des TV-Mainstreams nach Melodrama über weite Strecken bedient. Fast unablässig tropft zuckriger Klaviergeigensaft über ein Migrationsszenario, das jedes Lächeln verlässlich mit Sonnenschein garniert und jedes Leid mit Gewitterwolken.
Schuldlose Protagonisten wie die kleine Millie (Amy Lee Wörgötter) sind dabei so korkenzieherlockensüß, dass es fast in den Zähnen zieht. Und die junge Sophie Stockinger („Das Sacher“) setzt ihre Hauptfigur Betty Liebling in eine Achterbahn manischer Gemütszustände, die zwischen totaler Euphorie und völligem Trübsinn gar keinen Grauton mehr kennt.
Andererseits: Das Mädchen ist gerade mal 14 Jahre jung, steckt also inmitten der Pubertät. So gesehen verleiht ihr das Nachwuchstalent aus Wien in etwa jene Dringlichkeit der erwachenden Sexualität im Umfeld einer durch und durch erwachsenen Welt, mit der ihre gleichaltrige Kollegin Mala Emde „Meine Tochter Anne Frank“ zum Coming-of-age-TV-Ereignis des Jahres 2015 gemacht hat. Was die Melodramatik betrifft, verdienen zumindest die älteren Kinder der Villa Emde also ein wenig Milde. Sie sind ja ebenso Opfer ihres inneren Durcheinanders wie alle Teenager. Oft im Sekundentakt himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt, alles auf einmal, nichts auf Dauer. Und das trifft auf alle Flüchtenden jeder Epoche zu. Ob 1941 in Deutschland oder 2018 in Syrien.
„Die Kinder der Villa Emma“, Freitag, ARD, 20 Uhr 15
Jan Freitag