TV-Fahrplan zum 9. November: Der längste Tag
Politmelodram, Reporterschwärme, Skurrilitäten, Blogs: Wie das Fernsehen den 9. November feiert. Darüber kann man fast vergessen, dass jemand leise Abschied feiert.
Wo waren Sie am 9. November 1989, am frühen Abend? Diese Frage werden vor allem Nìcht-Berliner schnell beantworten können: vorm Fernseher. Die Live-Bilder aus Berlin, glückselige Landsleute, bröckelnde Mauern, fassungslose Journalisten und Politiker sowie hupende Trabbis sind mindestens so stark im kollektiven Gedächtnis und so oft im Fernsehen wiederholt worden wie die einstürzenden Türme von 9/11 2001. 25 Jahre danach hat das immer noch Sogkraft. Kaum ein TV-Talk, kaum eine Doku diese Woche ohne „Wind of Change“. Die ARD-Komödie „Bornholmer Straße“ zum Jahrestag des Mauerfalls am Mittwochabend bot sogar dem Fußball Paroli. 6,99 Millionen Zuschauer (21,5 Prozent) schalteten ab 20 Uhr 15 den Film über die Stunden der Entscheidung mit Charly Hübner, Ludwig Trepte und Frederick Lau ein. Das Fernsehen, der Zuschauer liebt diese Einheits-Momente, Emotionen, Affekte, Schicksale – offenbar auch, und das ist neu, als Komödie mit vertrottelten Grenzbeamten.
Emotional noch einen draufgelegt
Das ZDF legt am Sonntagabend zum 25-jährigen Jahrestag des Mauerfalls fiktional noch einen drauf: Nicht mit einer Komödie, sondern mit einem Herzschmerz-Melodram in der Primetime, auf dem Rosamunde-Pilcher-Sendeplatz. „Zwischen den Zeiten“ mit Sophie von Kessel und Benjamin Sadler ist ein, na ja, „spannender, sehr emotionaler Film über Liebe, Verrat und die Staatssicherheit“ (ZDF-Text), die Geschichte einer Stasi-Akte, mit viel Vertrauen, Misstrauen, Licht und Liebe, unter anderem an der Glienicker Brücke. Das ist neben Bornholmer Straße und Brandenburger Tor wahrscheinlich einer der am häufigsten von der Kamera eingefangenen Berliner Orte der jüngeren Vergangenheit.
Wir lernen in dem ZDF-Film: „Vergangenes ist nie vergangen, mag es auch so tief in uns verschüttet sein“. Das sagt Annette Schuster (Sophie von Kessel). Als technische Leiterin am Berliner Fraunhofer-Institut überwacht sie die Zusammensetzung von Stasi-Akten, die kurz vor der Wende geschreddert wurden und trifft dabei ihre alte Liebe Michael (Benjamin Sadler) wieder. Ein durchaus komplexes Wende-Melodram ohne viel Gepilcher, Chapeau ZDF, das dem starken ARD-Krimi am Sonntagabend einige Zuschauer wegnehmen dürfte.
Was haben Sie damals erlebt?
Das Pflichtprogramm zum 9. November läuft allerdings im Ersten und, natürlich, beim RBB. Die ARD bringt am Sonntag „25 Jahre Mauerfall“, quasi nonstop, von 10 bis 20 Uhr. Die Programm-Klassiker „Sportschau“ und „Lindenstraße“ bleiben draußen. Viel öffentlich-rechtliche Würde. Zunächst Astrid Frohloff mit staatstragenden Gästen (Merkel, Wowereit) und Gedenken an die Mauer-Opfer, dann Joachim-Gauck-Interview mit Anne Will, Reporterreisen zu ehemaligen Grenzstätten, zum Schluss eine Lichtinstallation, die die Berliner Mauer wiederauferstehen lassen soll. Sandra Maischberger und Sascha Hingst moderieren das Spektakel. Auch das Programm vom Rundfunk Berlin-Brandenburg steht übers Wochenende ganz im Zeichen von 25 Jahre Mauerfall, vor allem auch multimedial. Der RBB ist in Berlin unterwegs, um Menschen zu treffen und das Stadtgefühl einzufangen. „Was haben Sie damals erlebt? Was erleben Sie jetzt in Berlin? Erzählen und zeigen Sie es uns – hier im Blog oder überall in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #rbb25h.“
Im Fernsehen wird am Sonntag ab neun Uhr live berichtet, flächendeckend, von der Bornholmer Straße, der Heidelberger Straße, aus Klein Glienicke, vom Checkpoint Charlie, von der Bernauer Straße, vom Engelbecken oder vom Brandenburger Tor. Wehe dem RBB-Reporter, der an diesem Wochenende frei machen wollte. Dazu gibt es einen Live-Talk mit Jörg Thadeusz in „Grenzenlos – 25h Mauerfall“, auch hier wieder unvergessene Bilder wie die mit Politbüro-Mitglied Schabowski, der die neuen Reiseregeln für DDR-Bürger verkündet: „Das trifft nach meiner Kenntnis ..(Raschel, Raschel) .. sofort unverzüglich in Kraft.“
Zwei Freunde aus West und Ost
Da können (und wollen) die Privatsender nicht mithalten. RTL zeigt „Die 25 kuriosesten Ost-West-Geschichten“ mit Sonja Zietlow“ (Sonntag, 20 Uhr 15). Darin Skurrilitäten wie die Freundschaft von Satiriker Oliver Kalkofe und dem von ihm zunächst verspotteten Hitparaden-Helden Achim Mentzel. Danach rekonstruiert das „Spiegel TV Magazin“ das 40-jährige Leben und das friedliche Sterben des Arbeiter- und Bauernstaats. Titel: „Der gescheiterte Staat – das Ende eines Experiments“. Vox räumt am Samstag eine Vier-Stunden-Programmfläche frei und bringt „Eingesperrt im eigenen Land!“, die große Samstags-Dokumentation „Wie wir wurden, was wir sind! – 25 Jahre Mauerfall“. Zeitzeugen wie Wolfgang Schäuble und Hans-Dietrich Genscher erinnern sich. Mit einigen Protagonisten hat Spiegel TV bereits vor 25 Jahren gedreht, andere sorgten vor der Wende in der Presse mit spektakulären Flucht-Aufnahmen für Aufregung – und wurden nun wieder ausfindig gemacht.
Für den Quotensieg dürften diese Erinnerungen und Bilder nicht reichen. Schließlich gibt’s am Samstagabend im Zweiten „Wetten, dass…?“, zum vorletzten Mal. Die Show ist noch älter als der Mauerfall, was man ihr ja auch ansieht. Dabei wird wohl, und das ist außergewöhnlich genug an diesem Fernsehwochenende voller Lichterketten, Gedenken und Gestern/Heute-Geschichten, kein Gast sein, der irgendetwas direkt mit dem 9. November ’89 zu tun hat: Hugh Grant, Iris Berben, Eckart von Hirschhausen, die Hauptdarsteller des Blockbusters „Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1“ Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson und Liam Hemsworth. Außerdem nimmt die Hamburgerin Toni Garrn, die zu den erfolgreichsten Top-Models der Welt gehört, auf dem Wett-Sofa Platz. Die war am 9. November 1989 noch gar nicht geboren.
Markus Ehrenberg