Trotz „Lindenstraße“ und „IaF“: Die älteren Zuschauer werden vom Fernsehen vergessen
Das TV-Programm fühlt sich nicht mehr verantwortlich für den fiktionalen Pflegedienst am Menschen und seinen Bindungen, für die langsamere Schilderung des Lebens.
Soaps wie „Lindenstraße“ und „In aller Freundschaft“ (IaF) sind ideale Spiegel für ältere Zuschauer: Da können sie Woche für Woche nacherleben, wie die alten Helden allmählich abdanken und die Jüngeren verzweifelt strampeln – Vergänglichkeit als TV-Genuss. Aber latenter Jugendwahn verhindert oft, dass sich das Genre für die grimmige Komödie Alt und Jung Zeit nimmt.
Mutter Beimer, Fans wissen es, hat vieles schon erlebt. Aber was sich das alte Haus der „Lindenstraße“ neulich anhören musste, war ein Hammer. In Folge 1482 n. Chr. schrie der „Taube“ ihrem Sohn Klausi den erschütternden Satz entgegen: „Sie hat mich gefickt, verstehst du.“ Samenraub, nicht wie bei Boris, sondern brutal. Aber auch ein bisschen komisch. Nastya war es, die alte Schlampe aus Moldawien mit den dichten roten Haaren, die einst aus der Beziehung mit Klausi die gemeinsame Tochter ins Teufelsreich einer Sekte entführte, bis das Kind wieder zum Vater zurückkam, und die sich nun mit Elektroschockgerät und Fessel des Klausischen Lebenssafts bediente, um schwanger zu werden... Schon gut, hören wir auf, vom Hexensabbat und seinen männlichen Opfern in der „Lindenstraße“ zu plaudern, der seit Else Kling selig und Kochtopf-Lisa in Geißendörfers sonst so genderkorrektem und unerbittlich bierernstem Reich herrscht.
Wundern wir uns lieber, warum in der Sperma-getriebenen Folge „Limo“ von den 1,76 Millionen Zuschauern 52 Prozent 60 Jahre oder älter waren, obwohl die weibliche Vergewaltigung eines Mannes mit Kindesfolge nicht so ohne Weiteres zu den brennenden Lebensthemen eines gesetzteren Menschen gehören dürfte. Die Amour fou zwischen einem liebesblinden KfZ-Meister und einem pokersüchtigen Fräulein Leichtfuß erscheint auf den ersten Blick auch nicht gerade seniorenaffin. Oder kennt Volkes Mund den Seniorengeschmack besser: Je oller, je doller? Doller? Wohl nicht. Die Ärzte-Soap „In aller Freundschaft“, das letzte Endlosprodukt im Hauptabendprogramm des nichtversparteten deutschen Fernsehens überhaupt, mit dem königlichen Sachsenklinik-Dreigestirn Professor Simoni, Oberarzt Heilmann und Oberschwester Ingrid, bietet nur anständige Hexen und beschäftigt sich nie direkt mit Sex, sondern höchstens mit den Folgen. Es ist aber noch fester als die Linde in Altenhand: Die Folge 645 sahen 5,58 Millionen Zuschauer, von denen 72 Prozent über 60 Jahre alt sind. Warum nur?
Schauspielkunst als Ploterfüllung
Es gibt für den Altenzuspruch zu Endlosserien objektive Gründe. Das graue Publikumsgespenst wächst, die Methusalem-Demografie grüßt. Gleichzeitig aber verknappen sich die auf Endlos und auf Wiedererkennung programmierten Weidegründe für Betagtere nach 20 Uhr 15. Die ARD gewährt nur am Sonntag („Lindenstraße“) und am Dienstag („In aller Freundschaft“) echte heimische Dauerlutscher, den halbwegs anspruchvollen Gang durch die Zeit, also zusammen kaum mehr als eine Stunde Sendezeit. Das tägliche Telenovela-Nutella („Rote Rosen“, „Sturm der Liebe“, „Verbotene Liebe“) am Nachmittag spielt in einer anderen Liga, Maschinenfernsehen, Sendezeitverfüllung um der Sendezeitverfüllung willen, Schauspielkunst als Ploterfüllung, entrückt in ein künstliches Papierdeutsch.
Der gefühlt riesige Programmrest fühlt sich nicht mehr verantwortlich für den fiktionalen Pflegedienst am Menschen und seinen Bindungen, für die langsamere Schilderung des Lebens, des Familiengeschehens, des Dramas von Mütterlichkeit, Väterlichkeit und Kindheit, wie es im Gang der Zeit stattfindet. Serviert werden heute stattdessen im Übermaß Krimis. Mord und Totschlag sind dramaturgisch praktischer. Das Schema erspart Vertiefungsenergien, weil der Atem der Episoden nur vom Todesfall bis zur Aufklärung zu reichen braucht. Weil in der nächsten Folge eine neue böse Gestalt aufläuft, und sich das Ermittlerpersonal nicht entwickeln muss und schon gar nicht älter werden darf.
In all den „Sokos“, „Großstadtrevieren“ und „Tatort“-Büros wird das Leben der Ermittler vom Leben des Geschehens gelebt. Diese Krimis sind Orte des Sich-selbst-Vergessens. Manche Zuschauer, vielleicht besonders die älteren, wollen das aber nicht, sondern sich in der Fiktion wiederbegegnen, in Konstellationen, die sie so oder ähnlich erlebt haben.
Und dem Älteren wird sentimentaler als dem Jüngeren ums Herz, wenn er zusieht, wie Frechdächse die alte Glucke, von Marie-Louise Marjan schier tragisch unverwüstlich gespielt, wie selbstverständlich ausnutzen, aber deren fürsorglichen Ratschläge kaum beachten – so gemein ist das Altern.
Bei „In aller Freundschaft“, seit 1998 wöchentlich präsent, kann der Erfahrene tiefer sehen und weiser nicken als der Seher ohne Lebensabitur. Er kennt eben die unaufhaltsame, ganz normale Tragödie der Vergänglichkeit. Zeus (Dieter Bellmann als Professor Gernot Simoni) wird mit seiner Hera (Jutta Kamann als Oberschwester Ingrid) bald den Olymp in der Klinik verlassen. Der ältere Zuschauer kann erkennen, was das bedeutet: Groll unterdrücken, Würde wahren, verdutzt hinnehmen, wenn sich die Formen und Gehorsamsstrukturen ändern.
Oberschwester Ingrid muss ertragen, dass ihr Heiligenschein nicht mehr ausreicht, den Gefühlssponti Schwester Julia (Sarah Tkotsch, ein Import der RTL-Soap „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“) zu zügeln. Der ausgeguckte Simoni-Nachfolger Heilmann (Thomas Rühmann), ein trockener, im Herzen ein DDR-idealistischer Preuße, sieht überfordert zu, wie der Krankenhaus-Kommerz hypokratische Gewissheiten angreift. Wie Ehrgeiz Kollegialität und Freundschaft überwuchern können, wie die Mäuse tanzen. Wie es eben so zugeht, wenn die Generationen miteinander und gegeneinander kämpfen.
Rühmann hat eine große Begabung für die Darstellung von Ironie, Bellmann nicht viel minder, dem man den alten Bühnenvulkan noch immer ansieht. Sie könnten sich selbst viel öfter selbst auf die Schippe nehmen, wenn die Macher es zuließen, wenn die Verantwortlichen sich vom Jugenddruck mehr lösen könnten und ihnen mehr Platz gäben, indem sie auf jugendlichen Sturm und Drang verzichten würden, den die Nachmittagsjugendlager besser können.
Der ältere Quoten-Mehrheitsaktionär jedenfalls darf an Entwicklungen teilnehmen, zu denen sein Altern gehört, eben das, was er gerade erlebt. Im wöchentlichen Soap-Rhythmus. Und nicht nur in wuschigen Einmal-Filmen.
Sorry: Grundversorgung ist auch Greisenversorgung. Und könnte mit mehr Humor sogar die Generationsgrenzen nach unten sprengen. Für das Reifen der Reifen, zu dem die Seife für Senioren gehört, muss Platz sein. Ü-60, wir sind da.
„Lindenstraße“, ARD, Sonntag, um 18 Uhr 50; „In aller Freundschaft“, ARD, Dienstag, 21 Uhr
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