Heilung per Fernsehen: Gefühle unterm Messer
15 Jahre „In aller Freundschaft“: Ein Besuch bei Deutschlands erfolgreichster Ärzteserie.
„Tupfer bitte“, fordert Dr. Brentano. Vor ihm auf dem OP-Tisch liegt ein Patient mit Leistenbruch. Ein Routine-Eingriff: Schnitt, Abtragung, Naht. Der grün vermummte Oberarzt mit weißem Mundschutz ist hier der Star, obwohl er kaum eine Ahnung davon haben dürfte, was seine Handgriffe gerade anstellen. Wir befinden uns in Leipzigs berühmtestem Krankenhaus, das eigentlich kein Krankenhaus ist. Gerade wird Folge 626 der Serie „In aller Freundschaft“ gedreht. Einstellung 10, Klappe 2: Willkommen in der Sachsenklinik.
Am 26. Oktober 1998 startete der MDR seine erste Weekly im Hauptabendprogramm der ARD. Seit nunmehr 15 Jahren laufen jeden Dienstagabend die Geschichten um Krankheiten, Ärzte und deren Privatleben auf dem Bildschirm. Die wöchentliche Serie „In aller Freundschaft“ ist zur erfolgreichsten deutschen Arztdauerserie seit der Wiedervereinigung geworden. Und das, obwohl sich zunächst die Stammbelegschaft, sogar in den Chefpositionen, vorwiegend aus ostdeutschem Personal rekrutierte. Am Anfang schien es so, als hätten die aus dem DDR-Fernsehen entlassenen Schauspieler des Ostens nach ihrem Verschollensein im medialen Nirgendwo nun in der Sachsenklinik eine neue Unterkunft gefunden. Plötzlich waren sie wieder auf der Bildschirm: Ursula Karusseit, Uta Schorn, Fred Delmare, Dieter Bellmann. Und als Labsal für die Klientel in den neuen Ländern gab es auch noch Gastauftritte von DDR-Legenden wie Gojko Mitic, Otto Mellies oder Angelika Waller.
Längst aber wird die Serie nicht mehr nur als TV-Fenster ostdeutscher Selbstbehauptung wahrgenommen. Inzwischen haben sich auch Westheroen wie Jürgen von der Lippe, Dieter Thomas Heck oder Pierre Brice in das Leipziger Haus der Freundschaft einweisen lassen. In der Jubiläumsfolge am 22. Oktober wird es die Moderatorin und Zweitplatzierte der sechsten Staffel von „Germany’s Next Topmodel“, Rebecca Mir, sein.
Jeden Dienstagabend schalten bis zu sechs Millionen Zuschauer ein, das entspricht einem Marktanteil von 20 Prozent. „Arztserien sind deshalb so erfolgreich, weil jeder damit Berührung hat, jeder ist ein Patient und damit auch ein Mitwisser“, meint Lydia Rudolph. Sie ist die medizinische Beraterin von „In aller Freundschaft“ und von Anfang an dabei. Vorher arbeitete sie als Fachschwester für Anästhesie. In ihrer Freizeit ist sie Bergsteigerin. In ihrem Büro im Haus der Sachsenklinik hängen Plakate von Bergen aus Nordindien. Sie hat den „Pik Lenin“ bestiegen und zwei 8000er im Himalaja. Lydia Rudolph achtet darauf, dass am Set alles so echt wie möglich abläuft. Sie besorgt die richtigen Instrumente und erklärt den Schauspielern, wie man mit ihnen umzugehen hat.
Der Bauch des Patienten, der gerade wegen seines Leistenbruchs unters Messer kommt, ist übrigens mit einer Schweinehaut überzogen. Schweinehaut sei besonders gut geeignet, um operative Eingriffe am Menschen nachzustellen, erklärt sie. Zusammen mit zwei Fachärzten recherchiert Lydia Rudolph die Krankheitsfälle und schreibt die Dialoge, wie sie an einem OP-Tisch korrekt ablaufen könnten, und so, dass sie der Zuschauer versteht. Von einigen ihrer Medizinkollegen weiß sie, dass diese jeden Mittwochmorgen im OP-Saal erst einmal den Dienstagabend auswerten. Was war los in der „Freundschaft“? Als vor kurzem eine Folge gesendet wurde, in der ein Herzkatheter zum Einsatz kam, schrieb ihr danach ein deutscher Universitätsprofessor. Ihm hatte die Darstellung so gefallen, dass er darum bat, die Folge seinen Studenten zeigen zu dürfen.
54 000 Drehbuchseiten, 6000 Mullbinden und 400 Liter Kunstblut hat die Serie bisher verbraucht. Neben den Patientenfällen erlebt der Zuschauer regelmäßig den Familienalltag der Ärzte und des Pflegepersonals. Statt Krankenhausalltag, wie ihn der Zuschauer oft aus eigenem Erleben kennt, bietet die Sachsenklinik eine Oase der Fürsorglichkeit und den Irrwitz, fast jedes Leid lindern zu können. Hier bekommen die Kranken sofort ein Bett und am nächsten Tag einen OP-Termin.
Die Ärzte sind keine Angstmacher, keine Verkünder grausamer Wahrheiten, sondern die Illusion in Weiß, dass alles noch einmal gut wird. Sie heißen Dr. Heilmann, Professor Simoni oder Dr. Brentano, sie sind gewissenhaft und mitfühlend. Sie sprechen mit dem Patienten, trösten ihn, wenn es sein muss, und kümmern sich nicht nur um seine Wunden. Die Sachsenklinik ist das ideale Krankenhaus, sein Personal agiert in einer Scheinwelt, wie sie sich jeder Patient wünscht. Deshalb hält es der Zuschauer in ihr aus, als wäre es für ihn ein zweites Zuhause, vielleicht sogar das bessere. Hier muss er sich nicht wirklich fürchten: vor dem Alter, der Einsamkeit, dem Tod.
30 000 Menschen besuchen jährlich das Gelände der „media city leipzig“, auf dem „In aller Freundschaft“ entsteht. Eine 2000 Quadratmeter große Studiofläche mit OP-Saal, Patientenzimmern, Behandlungsräumen, Ärztezimmern und Intensivstation. Nicht jeder Serienfan findet den Weg hierher, sondern marschiert im guten Glauben direkt in das Leipziger Universitätskrankenhaus und bittet dort um Behandlung mit einem Seriendoktor. Als einmal ein Schauspieler aus der Arztserie mit einem Taxi fuhr, sagte der Fahrer zu ihm: „Sie sind doch der Doktor.“ Der Fahrgast antwortete: „Nein, ich bin ein Schauspieler, der den Doktor spielt.“ Daraufhin der Taxifahrer: „Ja, ja, ich weiß. Aber vielleicht könnten Sie mir trotzdem helfen, ich habe da was am Rücken.“
Vor dem Eingang zum Studiogelände hat sich eine kleine Menschentraube versammelt, die Serienstars treffen sich zur Raucherpause. Mittendrin Schwester Arzu und Doktor Brentano, die in der Serie ein Paar sind. Eine Touristengruppe aus dem Erzgebirge schlendert an ihnen vorbei, beige gekleidete Rentner, gut gelaunt. Eine ältere Dame spricht Dr. Brentano an: „Sie sehen ja in Natur viel jünger aus als im Fernsehen.“ Dr. Brentano gehört seit zwölf Jahren zum Ärzteteam, ein smarter Chirurg mit schwarzen Haaren, braunen Augen und südländischem Charme. Ein Mädchenschwarm. Eigentlich heißt er Thomas Koch und wohnt in Berlin. Drei Wochen im Monat arbeitet er hier. Er lächelt die ältere Dame kommentarlos an. Begegnungen wie diese, in denen sich für einen Moment Wirklichkeit und Fiktion überschneiden und deshalb nie übereinstimmen, ist er gewöhnt. Die ältere Dame schreitet beglückt durch die Eingangstür, jetzt wird sie den Arbeitsplatz von Dr. Brentano kennenlernen. Und sie wird nicht enttäuscht werden. Oder vielleicht doch? „Der Zuschauer muss abstrahieren können“, findet Thomas Koch. „Wir machen keine Realityshow, wir spielen ausgedachte Geschichten. Am Ende liegt alles im Wunsch des Betrachters. Er wünscht sich, dass zum Schluss alles wieder gut ist, und er wünscht sich, dass er jedes andere Krankenhaus, genauso wie bei uns, wieder geheilt und gesund verlassen kann.“
In 15 Jahren „In aller Freundschaft“ sind über 600 Folgen gedreht worden. Nicht immer ging alles gut aus, aber meistens schon. Es gab 900 verschiedene Krankheitsbilder und 38 Tote. Neben der Arbeit zum Wohle des Patienten wurden Lieben entfacht, Ehen geschlossen, Kinder geboren. Die Sachsenklinik ist eine Puppenstube für alle Gefühlslagen: Freude, Trauer, Glück, Schmerz und Wut. Dabei bleibt alles hübsch in der Mitte, ohne auszuufern. Keine Extreme, keine Kapriolen. Was für viele langweilig wirkt, ist für andere entspannend. Ruft man am Dienstagabend die Schwiegermutter an, ist sie ziemlich kurz angebunden. Im Hintergrund kann man am Hörer die gedämpften Stimmen der Oberärzte vernehmen. Irgendetwas passiert immer, selbst wenn gerade nichts passiert.
„In aller Freundschaft“, ARD, Dienstag, 21 Uhr
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