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Ob Print, Online oder TV - "Bild" war ohne Chefredakteur Julian Reichelt nicht denkbar.
© imago/Eibner

Julian Reichelt ist nicht mehr „Bild“-Chefredakteur: Der Sünder hat nicht gebüßt, er hat weiter gesündigt

Springer-Boss Döpfner trennt sich von Julian Reichelt – und damit von einem drohenden Problem für den Verlag. Ein Kommentar.

Vielleicht ist es nicht die kleinste Pointe, weswegen Julian Reichelt seinen Posten als „Bild“-Herrscher räumen muss. Der 41-jährige Journalist hat zu gehen, weil er seinem Arbeitgeber, Axel Springer SE, nicht die Wahrheit gesagt hat.

Die Wahrheit wäre gewesen, dass er auch nach seiner MeToo-Affäre im Frühjahr 2021 und der anschließenden, für ihn entlastenden Compliance-Untersuchung den Weg der „kulturellen Erneuerung bei Bild“ nicht mitgegangen ist. Reichelt hat offenbar einen anderen Weg gewählt, nämlich Berufliches und Privates weiterhin nicht zu trennen.

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Als diese Wahrheit für Springer ruchbar und publik wurde, hat der Medienkonzern schnell und brutal gehandelt: Er hat sich mit sofortiger Wirkung von Julian Reichelt als „Bild“-Chefredakteur getrennt.

Als Grund nannte der Verlag Recherchen, durch die man „neue Erkenntnisse über das aktuelle Verhalten von Julian Reichelt gewonnen“ habe. Der Sünder hat nicht gebüßt, er hat weiter gesündigt, also folgte die Bestrafung auf dem Fuß.

Springer-Chef Mathias Döpfner sprach in gesalbtem Ton von der „kulturellen Erneuerung bei Bild“, die mit der überstandenen Compliance-Untersuchung und gemeinsam mit Julian Reichelt unternommen werden sollte. Der Krieger im Journalisten-Gewand hatte sich vor MeToo und danach unzweifelhaft für Deutschlands größte Boulevardzeitung, das erfolgreiche Bild.de-Portal verdient gemacht und mit dem Start des TV-Senders endgültig zum „Bild“-Herrscher gekrönt.

Die kulturelle Erneuerung muss Reichelt entweder fahrlässig oder bewusst übersehen haben. Die „Bild“-Produkte sind in Ansprache und Aussprache unverändert angriffslustig bis aggressiv, was Poltergeist Reichelt nur in Bild-TV an (Regierungs-)Kritik ablieferte, lappte weit ins Querdenkerische hinüber. Und Springer-Chef Döpfner applaudierte laut und gerne.

Eine Reportertruppe, heiß auf Recherche

Aber auch das war eben Reichelts „Bild“: eine Reportertruppe, heiß und hungrig auf Recherche, der exklusive Scoop musste das „Bild“-Etikett tragen. Kein Medium wird in den anderen Medien häufiger zitiert, als Anregung begriffen oder schlichtweg abgeschrieben.

„Bild“ wollte, sollte attackieren, dabei wurden auch Menschen verletzt, in der Springer-Reichelt-Mache-und-Denke akzeptierte Kollateralschäden. Jetzt soll es Johannes Boie richten, der Chefredakteur der „Welt am Sonntag“, also die kulturelle Erneuerung bei „Bild“ schaffen.

Der 37-Jährige handelt längst schon wie ein ausgewachsener Springer-Mann, die fünf Essentials des Konzerns sind ihm die Haltegriffe fürs publizistische Tun, es wird sich weisen, ob aus der Haltung auch ein „Bild“-Charakter erwächst.

Ob die Chefredakteure Peter Boenisch, Kai Diekmann oder Julian Reichelt hießen, „Bild“ ist stets der Rabauke unter den Medientiteln gewesen. Die Boulevard-DNA treibt an, mal sehen und lesen, was Johannes Boie antreibt.

Gewinn- und Verlustrechnung

Axel Springer SE verliert und gewinnt mit der Trennung von Julian Reichelt. Der Ex-Chefredakteur konnte und lebte Boulevard (bis zur Maßlosigkeit). Aber mit dem Rauswurf erledigt sich ein Problem, das dem gesamten Medienkonzern und seiner Zukunft hätte gefährlich werden können.

Die MeToo-Vorwürfe gegen Reichelt haben das Potenzial, die Expansion in den USA ins Stolpern zu bringen. Döpfner hat für nahezu 1,6 Milliarden Euro „Business Insider“ und „Politico“ gekauft, Geschäfte, die nicht nur der US-amerikanische Springer-Anteilseigner KKR mit großem Interesse verfolgt und gebilligt hat.

MeToo passt da nicht ins Konzept, in der Gesellschaft wie in der Ökonomie der USA wird derartiges Gebaren hart und härter als in Deutschland sanktioniert. Der relevante Artikel der „New York Times“ hat so unaufdringlich wie deutlich gezeigt, welche Gegenwinde auf Springer zukämen, wenn die Causa Reichelt nicht ausgeräumt worden wäre.

Durch jede Veröffentlichung der Springerschen US-Medien hätte das MeToo-Wasserzeichen durchgedrückt. Ganz schlecht für Geschäft und Investment. Mathias Döpfner hat entsprechend gehandelt, damit mit der drohenden Niederlage nicht ein veritabler Verlust einhergeht. Und Julian Reichelt verlässt seine Lebensaufgabe Springer als machtloser, wohlhabender Mann.

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