War mal Schussel, ist jetzt Held: Der Nerd rockt Film und Fernsehen
Früher saßen sie nur hinterm PC und im Hintergrund: Inzwischen sind die Nerds ins Zentrum der Fiktion geraten - wie bei der Sitcom "The Big Bang Theory"
Es ist ungefähr zwölf Jahre her, da brachte die Satirezeitschrift „Titanic“ eine lustige Geschichte über die neuesten Blockbuster aus den Genres Thriller, Krimi, Polizeifilm. Überall standen in diesen Filmen Computer – damals noch recht ungeschlacht von Gestalt – und auf dem Revier agierten die Cops sozusagen um die Geräte herum. Der Titanic-Autor fühlte sich in die Filmemacher ein und unterstellte ihnen ein unglückliches Bewusstsein angesichts dieser neuen Macht der Dinge. Computer seien nicht fotogen. „Man sieht ja praktisch nichts“.
Tja, so ist es bis heute. In den Serien „Tatort“ und „Polizeiruf 110“, im Mittwochskrimi, in „Navy CIS“, in „Criminal Minds“, „Law and Order“, „Medical Detectives“, „CSI“ und wie sie alle heißen, ist der Computer die Zentrale des Wissens, er ist der Navigator, dessen Auskünfte die Polizisten rüsten und ihnen sagen, wohin sie losstürmen sollen, und wenn sie dann unterwegs sind, bleiben sie per Smartphones, gleichfalls ein Computer, nur eben handlich, mit der Zentrale verbunden. Wie fotogen ist der Flachbildschirm so einer Zentrale heute? Auch nicht viel mehr als vor zwölf Jahren. Wenn die Kamera auf ihn hält, sieht der Zuschauer eine Reihe von Menüs und Masken, die sich übereinanderschieben, auch mal lange Zahlen- oder Adressreihen oder schlecht aufgelöste Fotos von Verdächtigen. Man sieht praktisch noch immer nichts. Die Filmemacher mussten sich was einfallen lassen.
Der Nerd schnappt den Täter - am PC
Und das taten sie. Sie erfanden beziehungsweise reklamierten für sich eine Figur, auf die sie die intrikate Tiefenunschärfe des Computers projizieren konnten: den Nerd. Der rennt nicht auf die Straße, er schießt nicht um sich, er sagt auch nicht: „Sie sind verhaftet!“ Er ist auf seinem Drehstuhl festgeschraubt und starrt auf den Bildschirm wie in ein Teleskop, da er imstande ist, dem Rechner eine dritte Dimension beizugeben. Er tippt mit Lichtgeschwindigkeit auf die Tastatur ein. Entsprechend blitzartig erscheinen die Resultate. Der Verdächtige ist dann und dann von A nach B gefahren. Hach! In B befindet sich eine aufgelassene Fabrik, dort hat er das Opfer versteckt. Nichts wie hin. Ohne die gnadenlose Kompetenz des Nerds wäre der Täter davongekommen, niemand hätte das Opfer gefunden.
Der Nerd, auch seine kriminelle Variante, der Hacker, sind die Gesichter oder besser: die Personifizierungen der digitalen Welt, die in der Film- und Fernsehfiktion vorkommen muss, obwohl sie optisch nicht viel hermacht. Nerds sind die Bindeglieder zwischen Mensch und Apparatur, sie sind die Transformers aus der Welt der Rechner, die Kraft ihres Geistes das IT-Wesen mit unserer menschlich-analogen Welt vermitteln. Es versteht sich, dass sie durch diese Gabe längst aus dem Schatten des Negativimages, das sie einst belastete – das englische „nerd“ steht für Schussel oder Blödmann – herausgewachsen sind. Unsportlich und ein bisschen seltsam dürfen sie weiterhin sein, aber sie sind jetzt auf eine schräge Art sympathisch, ja faszinierend, und sie haben inzwischen das Zeug zum Helden. Trotz Brille.
"The Big Bang Theory" handelt von einer WG voller Nerds
Es gibt sie natürlich nicht nur bei der Polizei, sondern überall, wo Computer sind, und die sind überall. Die US-Serie „The Big Bang Theory“ (seit 2007) handelt von einer ganzen WG aus lauter Nerds. Die haben nichts mit der Polizei zu tun, sie sind Physiker und erforschen den Ursprung der Welt. Die reale Welt ist ihnen, infolge ihrer Vertiefung in die Theory, eher fremd – daher die komischen Effekte. Doch das ist der Preis des Nerdismus. Er enthebt die „Jungs an der Maus“ – so ein deutscher Versuch von 2007, die Nerds zu heroisieren – dem praktischen Alltag und siedelt ihr Denken und Sein in einer Sphäre an, die irgendwo zwischen Urknall und Quantensprung wabert, und so stolpern die lebensuntüchtigen Sonderlinge pausenlos über ihre eigenen Füße. Während der verkopfte Eigenbrötler früher in Film und Fernsehen nur zur Lachnummer taugte und immer eine Nebenfigur war, tritt er heute selbstbewusst ins Zentrum. So schon im US-Spitzenfilm „Sneakers – die Lautlosen“ (1992). Darin gibt es sogar einen blinden Nerd. Jüngster Serienhit: „Mr. Robot“ (USA).
Man kann Filme wie „Der Marsianer“ und „Der Rückkehrer“, in denen ein Mann noch mal analog mit dem All und der Wildnis zu kämpfen hat, als Gegenentwurf zum Nerdhelden interpretieren. Inzwischen wirkt so ein Survivalkämpfer etwas vorgestrig, weil es ja den Nerd gibt. Also stattet man vorsichtshalber selbst Superhelden mit Nerdqualitäten aus – wie Batman. Der Marsianer ist auch ein Hybrid, er hat, obwohl es auf dem Mars keine Computer gibt, eindeutig nerdige Züge. Der Pionier ist im Grunde out. Die Zukunft gehört dem Nerd.
Schon deshalb, weil es ihn inzwischen auch in weiblicher Gestalt gibt – Frauen sind eh im Kommen. Survivalkämpferinnen sieht man weniger. Doch wer würde auf Dr. Amy Farrah Fawler verzichten, die die „Big Bang“-WG komplettiert und Sheldon erobert hat? Oder auf Computerspezialistin Abby Sciuto aus „Navy CIS“? Auf Penelope Garcia in „Criminal Minds“? Sicher, es sind noch Nebenrollen, in denen die Frauen hier glänzen, aber sie sind die heimlichen Heldinnen. Privat sind sie bunte Vögel, als Professionals aber werfen sie sich in die schwarzen Löcher des allwissenden Netzes, und sie kommen fast nie ohne die entscheidenden Infos wieder hervor. Und es wirkt absolut glaubwürdig, dass es Frauen sind, die diese Höchstleistung bringen. IT und Frauen – noch vor zwölf Jahren hat man gedacht, das ginge gar nicht, auch nicht im Fernsehen. Von wegen.
„The Big Bang Theory“, ProSieben, Montag, 20 Uhr 15
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