"The Big Bang Theory": Wo Nerds analog scheitern
„The Big Bang Theory“ ist die Sitcom, die das digitale Zeitalter braucht. Weil sich das Leben nicht mathematisch kontrollieren lässt. Aus unsere Serie "Ich gestehe, ich sehe".
„Ich bin nicht verrückt, meine Mutter hat mich testen lassen!“ In Sheldon Coopers Empörung mischt sich der Triumph. So oft er sich verteidigen muss, so oft wird er einfach nur missverstanden in seinem Kosmos, der doch für Hochbegabte wie ihn sonnenklar und logisch ist.
Sheldon ist um die dreißig, verehrt Comichelden, liebt Star-Trek-Kostüme, das Videospiel Xbox Live und technisches Spielzeug, kann nicht Auto fahren und hegt panische Furcht vor Keimen, Viren, Berührungen Gefühlen – kurz, vor dem ganzen organischen Gewusel des Lebens. Derselbe Sheldon forscht als theoretischer Physiker Dr. Cooper an einer Eliteuniversität, dem California Institute of Technology in Pasadena. Aus seinem Stolz auf den eigenen, überragenden Intelligenzquotienten macht er keinen Hehl, besonders nicht gegenüber seinem Mitbewohner und Kollegen, Leonard Hofstadter, der in der für Sheldon minderen Disziplin der Experimentalphysik brilliert und sich mit Asthma und Laktoseintoleranz herumplagt.
Die Wohngemeinschaft der beiden in einem Apartmenthaus mit ewig kaputtem Fahrstuhl ist Haupthandlungsort der Serie „The Big Bang Theory“, die derzeit bei Pro Sieben gesendet wird. Nebenan im Haus wohnt die hübsche Penny, deren Schauspielkarriere sich in Auftritten für Werbespots erschöpft. Als Serviererin jobbt sie in dem Schnellrestaurant, in dem die beiden Naturwissenschaftler mit ihren Freunden, dem Raumfahrtingenieur Howard Wolowitz und dem aus Indien stammenden Physiker Raj, Dr. Rajesh Koothrappali, mittags zum Essen gehen. Bis auf wenige Außenaufnahmen beschränkt sich das Szenario auf diese Räume – ein serielles Kammerspiel.
Der unspektakuläre Alltag dieser jungen Erwachsenen, Sheldon Cooper (Jim Parsons), Leonard Hofstadter (Johnny Galecki), Penny (Kaley Cuoco-Sweeting), Rajesh Koothrappali (Kunal Nayyar) und Howard Wolowitz (Simon Helberg), fasziniert ein spektakulär riesiges Publikum rund um den Globus. In den USA, wo die Comedy 2007 begann, erreichte sie beim Sender CBS Mitte 2014 an die 17 Millionen Zuschauer unter fünfzig. Vergleichbare Quoten gibt es auch in Kanada und Australien. Pro Sieben notierte im Juli 2015 zwei Millionen deutsche Zuschauer in der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen. Da die Serie der größte Quotenhit des Senders ist, strahlte er in den vergangenen neun Monaten 1643 Episoden von „The Big Bang Theory“ aus, insgesamt aber nur 171 verschiedene – jede Folge war gut zehn Mal zu sehen. Doch das macht alles nichts. Fans bleiben dabei.
Sogar Stephen Hawking trat in einer Episode auf
Schon 2009 nannte die „New York Times“ den Rekorderfolg „The Big Surprise of Big Bang“, einer Serie, mit der die Nerds, bis dahin komische Randfiguren in Filmen, zu Protagonisten avancierten. Die Nerds, in denen sich hier tausende spiegeln, brillieren in einer Umgebung, definiert durch das, was man in Deutschland MINT-Fächer nennt, Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Implizit trifft die Comedy kritische, witzige Aussagen über unsere Gegenwart und deren bis ins Erwachsenenalter verlängerte Adoleszenz, nicht nur in Amerika. Und dabei geht es zugleich um das Drama der Zumutungen einer Gesellschaft, in der nicht nur die Silicon-Valley-Eliten vom MINT-Phantasma träumen, von der Vorstellung, exakte, mathematische Kontrolle des Daseins sei möglich und anzustreben. Selbstironisch trat 2012 sogar der Nobelpreisträger und Astrophysiker Stephen Hawking in einer Episode auf.
Überfordert vom MINT-Phantasma scheitern die liebenswerten Genies an der analogen Welt, zu der auch ihre eigene, körperliche Existenz gehört, ihr sexuelles Begehren. Unbeholfenheit und Missgeschicke durchziehen das tägliche Leben der Wissenschaftler, zu denen sich bald auch Sheldons IQ-kompatible Freundin gesellt, die Neurowissenschaftlerin Amy Farrah Fowler (Mayim Bialik), die im Uni-Labor Affenhirne seziert. Zärtlichkeiten mit Amy wehrt Sheldon durchweg ab, während Leonard immerhin mit Penny eine Art Beziehung beginnt. Jene Penny fungiert als Akteurin der Realitätsprüfung, milde sarkastisch in ihrer Nachsicht mit den Nachbarn, manchmal aber auch verzweifelnd am eigenen Bildungsmangel. Sheldon fragt Penny bei einer solchen Gelegenheit, warum sie in Tränen ausbricht. „Weil ich dumm bin!” gesteht sie. „Das ist kein Grund zum Weinen!“, belehrt Sheldon sie. „Man weint, wenn man traurig ist. Ich zum Beispiel weine, weil andere dumm sind. Das macht mich traurig.“ Als sie einmal lacht, ohne dass er den Grund erkennt, fragt er: „Ist irgendwo ein Bahnhof in Sicht, wo ich auf deinen kichernden Gedankenzug aufspringen kann?“ Panisch springt Sheldon in einer Szene vom Sessel, als er erfährt, dass der vom Sperrmüll stammt. Das Möbel wimmle von Bakterien, vermutet Sheldon, „wie tanzende Hippies in einem zwielichtigen Park in San Francisco!“ (In Dialogen sind amerikanische Serien schlicht unschlagbar.) Wieder und wieder sehen die Freunde Sheldon seine kindliche Arroganz nach.
Und genauso beschützen alle einander, verzeihen einander geschwisterlich ihre Gemeinheiten, Rivalitäten und kindischen Streiche, erzählen davon, wie sie als Schüler gemobbt wurden. Diese Helden pendeln zwischen pubertärem Hedonismus auf der einen und hochdifferenziertem Szientismus auf der anderen Seite. Als Howard Wolowitz Post von der Nasa bekommt, die ihn als Astronaut auf einen Flug mitnehmen will, oszillieren die anderen zwischen Staunen, Stolz auf ihn und Neid. Howard jubelt unbeeindruckt: „Das setze ich in den Newsletter meiner Synagoge!“ Vermutlich will er seiner Mutter imponieren, bei der er immer noch wohnt.
Alle Eltern sind Katastrophen
„Meine Mutter hat mich testen lassen“: Alle Eltern sind hier auf je eigene Weise Katastrophen, insbesondere die Mütter. Howards Mutter, eine übergewichtige Lady, ist immer nur als kreischend fordernde Stimme aus dem Hintergrund zu hören, sie kann sich mit der berühmten jüdischen Mutter in dem Roman „Portnoys Beschwerden“ messen. Die Eltern von Howards Freundin, der piepsenden Pharmazieexpertin Bernadette (Melissa Rauch), fürchten sich wie Howards Mutter vor einer möglichen Ehe zwischen der katholischen Tochter und einem Juden.
Sheldons Mutter wiederum, eine Witwe in Texas, ist evangelikale Fundamentalistin, und vor diesem Hintergrund wirkt Sheldons Reinheitswahn ein wenig wie religiöse Wahnhaftigkeit, nur eben auf säkularem Terrain. Amys Mutter schrieb ihr als Motto ins College-Jahrbuch: „Selbstachtung und Unbeflecktheit sind besser als Freunde und Spaß!“ Leonards Mutter, eine Psychiatrin, verfasste das Buch „Leidendes Baby – gieriges Baby“. Ihr stilles Leitmotiv lautet: Analyse statt Liebe. Allein die Mutter von Rajesh scheint an der Seite ihres wohlhabenden Gynäkologengatten halbwegs zufrieden. Raj verbrachte jedoch als Schuljunge oft Nachmittage geparkt in der Praxis des Vaters, von wo der Sohn ein verängstigendes Frauenbild davontrug.
Je besser man sie kennenlernt, diese Kinder einer verirrten Mittelklasse, desto besser versteht man ihre Flucht in die kleine, wärmende Gruppe wie ins vermeintlich Messbare. Sie fliehen, scheint es, vor einer unermesslich absurden Welt. Das ist ihr Geheimnis. Wie sollte man sie nicht lieben?
„The Big Bang Theory“, Pro Sieben, Montag, 20 Uhr 15
Bisher erschienen in der Serie: „Golden Girls“ (14. August)
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