Facebook und seine Richtlinien: Ausweitung der Verantwortungszone
Das Individuum, der Journalismus, die Digital-Monopolisten – sie alle geht die Qualität des Öffentlichen an. Ein Debatten-Beitrag zum digitalen Müll-Sortieren.
Es war ein erhellendes Experiment, eine kluge Provokation. Am 8. September packt Joachim Dreykluft, Journalist in Flensburg, die Wut, wieder mal. Er ärgert sich über Facebook, über all die Hasskommentare im Angesicht der Flüchtlingskrise, die trotz der Beschwerden und der Protestaktionen so vieler Menschen stehenbleiben. Dreykluft schreibt einen Kommentar auf den Online-Seiten des Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlages, kritisiert Facebook als „asozial und heuchlerisch“ und verlinkt den Artikel mit einem Vorschaubild, das die gut erkennbaren Brustwarzen einer Frau zeigt. Er weiß, dass er damit gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards verstößt. Und tatsächlich, das Bild wird entfernt, sein Facebook-Account gesperrt, er erhält die Nachricht: „Du hast kürzlich etwas gepostet, das gegen die Facebook-Richtlinien verstößt.“
Nicht wirklich gegen die Richtlinien verstößt es scheinbar, dass man Flüchtlingen den Tod wünscht oder sich über das Bild des ertrunkenen Ailan Kurdi freut. Kommentare dieser Art bleiben zum Entsetzen vieler stehen, eben auch nach erfolgter Beschwerde, der schon aus juristischen Gründen eigentlich nachgegangen werden müsste. Inzwischen gibt es einen lauter werdenden Protest gegen das „asoziale Netzwerk“ („B.Z.“) und diejenigen, die den Hass schüren.
Klar, Facebook hat nach den Debatten und der Intervention des Bundesjustizministers Heiko Maas die Gründung einer Arbeitsgruppe angekündigt, einer „Task Force“. Man hat versichert, man nehme alle Hinweise sehr ernst. Und man wolle, getreu der amerikanischen Idee vom Marktplatz der Ideen, engagierter zur Counterspeech animieren, zur Gegenrede. Allerdings weiß niemand so genau, wie man in die oft geschlossenen Gruppen und gut abgedichteten Bestätigungsmilieus bekennender Rassisten eindringen soll, um die Gegenrede zu proben.
Eine nackte Brust wird gelöscht
Und es bleibt die Frage: Wie kann es sein, dass derartige Gewaltdrohungen trotz vielfacher Beschwerden einfach stehenbleiben, aber eine nackte Brust oder das Bild eines entblößten Pos gelöscht und mit zeitweiliger Facebook-Verbannung geahndet werden? Die erste Antwort lautet, dass es für Facebook (Jahresgewinn 2014: fast drei Milliarden Dollar) unbequem und teuer werden könnte, die unsichtbare, oft in anderen Ländern angesiedelte Armee der digitalen Müllsortierer zu verstärken. Die zweite Antwort besagt, dass es in Deutschland und den USA ein unterschiedlich rigoroses Verständnis von Meinungsfreiheit, gerade noch erlaubter Propaganda und Prüderie gibt. Die dritte Antwort führt einen in das widersprüchliche Argumentationsuniversum von Facebook, wo man zwar einerseits Brustwarzenfotos und Pobilder mit Energie verfolgt, andererseits jede redaktionelle Verantwortung strikt zurückweist. Nein, man wolle nicht eingreifen, hat Greg Marra, zuständig für den Newsfeed-Algorithmus von Facebook und damit der mächtigste Nachrichtenmacher der Welt, der „New York Times“, gesagt. „Wir versuchen uns dezidiert nicht als Redakteure zu sehen. Wir möchten keinerlei redaktionelle Entscheidungen treffen, was im Feed von Ihnen erscheint.“
Man kann eine solche „technokratische Pose“ (Evgeny Morozov) als irgendwie konfus wirkende Flucht aus der Verantwortung belächeln. Aber hinter dem aktuell erlebbaren „Clash of Codes“, dem momentanen Ringen um normative Gewissheit in einem Pool kollidierender Werte, verbirgt sich die Kernfrage der digitalen Moderne, die da heißt: Wer ist für die Qualität des Öffentlichen verantwortlich? In einer anderen Zeit schien das ziemlich klar. Es waren mächtige Gatekeeper in Gestalt von Journalisten, institutionell fassbare publizistische Machtzentren mit enormer Deutungshoheit, die darüber entscheiden konnten, was publiziert wird und was nicht. Heute lebt jeder, der einen Netzzugang besitzt und Medien konsumiert, in drei ineinander verschachtelten Informationswelten; sie sind Resultat unterschiedlich transparenter, mehr oder minder selbstbestimmter Auswahlentscheidungen.
In welche Wirklichkeitsblase man sich hineingoogelt
Natürlich, die Welt der Massenmedien und des klassischen Journalismus ist entgegen anderslautenden Gerüchten nach wie vor sehr präsent, auch wenn sie aufgrund schwindender Anzeigenumsätze und sich ändernder Nutzungsgewohnheiten an Einfluss verliert. Die Auswahlentscheidungen, die hier regieren, sind zumindest prinzipiell bekannt, denn die sogenannten Nachrichtenwerte werden seit Jahrzehnten erforscht, diskutiert und kritisiert. Dem gegenüber steht die Welt der gänzlich individuellen Auswahl- und Publikationsentscheidungen, die im digitalen Zeitalter jedem auferlegt sind. Man muss und kann sich entscheiden, welchen Quellen man traut, was man postet, teilt und publiziert – und in welche Wirklichkeitsblase man sich hineingoogelt. Hier tritt man in einem radikalen Sinn als Regisseur der eigenen Welterfahrung in Erscheinung, emanzipiert sich womöglich von der Agenda der Allgemeinheit und wird selbst zum Publizisten, der den Hass schürt – oder aber gegen ihn anschreibt.
Die dritte Informationswelt ergibt sich aus den intransparenten Auswahlentscheidungen und Publikationsstandards, die Suchmaschinen und soziale Netzwerke verwenden. Oft sind es Algorithmen, die hier regieren, Geheimrezepte der Wirklichkeitskonstruktion also, die einzelne Nachrichten pushen und andere verschwinden lassen. Diese Mechanismen können den Einzelnen, wie der Online-Aktivist Eli Pariser gezeigt hat, in einen Tunnel der Selbstbestätigung und eine Filterblase der eigenen Interessen und Vorannahmen hineinlocken, die er womöglich irgendwann für ein naturgetreues Abbild der äußeren Welt hält. Auf diese Weise entsteht dann, wie etwa bei fanatischen Impfgegnern und ideologisch radikalisierten Verschwörungstheoretikern zu beobachten, das Paradox einer scheinbar breit akzeptierten Minderheitenmeinung, einer Privat-Wirklichkeit, die als allgemeine Realität erscheint.
Es geht also nicht mehr nur um die Ignoranz von Facebook, sondern darum, die drei Mächte der Öffentlichkeitsentstehung (das Individuum, der klassische Journalismus, die Digital-Monopolisten) gemeinsam zu betrachten, um die nun entstandene Debatte weiterzuführen.
Die Verwandlung der digitalen Gesellschaft in eine „redaktionelle Gesellschaft“
Ziel wäre die Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone, die Verwandlung der digitalen Gesellschaft in eine „redaktionelle Gesellschaft“ (Cordt Schnibben), die sich, neben dem privaten Vergnügen, an den Leitmaximen aufklärerischer Informationsvermittlung orientiert. Das hieße in der Konsequenz, dass ein normatives Verständnis der Entstehung von Öffentlichkeit an den Schulen und Universitäten gelehrt werden müsste, das auf der Höhe der Zeit ist.
Schulen und Universitäten könnten sich als ein Labor begreifen, als ein geschützter, aber doch von der aktuellen Medienwirklichkeit geprägter Raum, in dem die Mechanismen des Öffentlichen studiert und erprobt werden könnten, abseits privater Geschäftsinteressen, ohne Echtzeit-Hektik, aber in dem Versuch, die moralische Fantasie und das publizistische Vermögen aller Beteiligten zu schulen. Die Orientierung in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft besagt aber auch, dass die lächerlichen Ausflüchte derjenigen, die blanken Hass und zur Gewalt aufreizende Propaganda nicht löschen mögen, obwohl sich die Beschwerden häufen, politisch und juristisch nicht mehr länger tolerierbar sind. Und es bedeutet im Kern, dass niemand, der postet und publiziert, heute mehr so tun kann, als ginge ihn die Qualität des Öffentlichen nichts an.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen.
Bernhard Pörksen
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