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Talkgastgeberin Anne Will
© dpa

"Anne Will" zum Umgang mit Erdogans Türkei: Auf der Suche nach der Notbremse

Wie umgehen mit der Türkei und ihrem entfesselten Präsidenten Erdogan? Bei Talkgastgeberin Anne Will stritten die Gäste selten so intensiv und produktiv.

Was tun, wenn ein Land wie die Türkei so offensichtlich auf dem Kurs in eine autoritäre Scheindemokratie ist? Wie sich verhalten – nicht nur gegenüber den 78 Millionen Einwohnern dort, sondern auch gegenüber den drei Millionen Türkischstämmigen hier im Land, von denen die Hälfte die türkische Staatsbürgerschaft besitzt?

Darum ging es bei Anne Will am Sonntag, und diese Talkshow hatte Substanz. Sie war ein Highlight des öffentlichen, politischen Diskurses. Vorab zudem noch eine gute Nachricht, neben all den schweren Problemen: Die Fernsehsalons lernen. Mehrfach wurde jüngst in Talkshows nicht nur über die Türkei und Türken gesprochen, sondern auch mit Türken, mit Gästen, deren Herkunftsland die Türkei ist, und die den politischen Lagern dort zuzuordnen sind. Klar wurden dort die Positionen, die Trennlinien, die Dilemmata.

Deutschland als Wahlkampfarena für "türkische Despotie"?

Zur Will-Runde gehörte Can Dündar, ehemaliger Chefredakteur der türkischen Zeitung „Cumhuriyet“, der im Exil in Deutschland lebt. Erdogans Türkei, erklärte er, sei derzeit ein Regime, das Menschenrechte und Meinungsfreiheit mit Füßen tritt. Dezidiert trat er der Position entgegen, die türkischen Politikern in Deutschland Einreise oder Rederecht verweigern wollen: Souverän müsse man bleiben, als Demokratie: „Deutschland darf nicht ähnliche Verhaltensweisen wie die Türkei annehmen“, findet der Dissident, der Staat dürfe nicht über das Rederecht entscheiden. Fingen solche Diskussion erst an, dann nehme das „kein Ende mehr.“ 

Entsetzen signalisierte die Politikerin Sevim Dagdelen, Sprecherin für Internationale Beziehungen der Bundestagsfraktion in der Partei „Die Linke“. An die Adresse der Bundesregierung richtete sie den Appell, eine klare Sprache gegenüber der ins Autoritäre abgleitenden Türkei zu finden: „Ich möchte nicht, dass Deutschland zur Wahlkampfarena für die die türkische Despotie wird!“ Daher dürfe man AKP-Politiker nichts ins Land lassen. Auch solle in eine Türkei, die zur „zentralen Aktionsplattform für den islamistischen Terrorismus geworden ist“, nicht weiter Finanzhilfe geschickt werden. Bis 2020 seien insgesamt 1,5 Milliarden für „Menschrechtsschutz und den Ausbau des Rechtsstaats“ vorgesehen. „Das Geld“, so Dagdelen, „kann man auch gleich verbrennen!“ Wer schüttelte angesichts dieser Zahlen nicht den Kopf? Aber Kopfschütteln allein zeitigt eben selten diplomatischen Erfolg.

"Europa hat die Türkei verloren."

Dafür, dass man sich solchen Erfolg überhaupt noch vorstellen konnte, sorgte Günter Verheugen, der ehemalige EU-Erweiterungskommissar, der über Jahre mit Recep Tayyip Erdogan verhandelt und kommuniziert hat. Von der Türkei als einem großen, stolzen Land sprach Verheugen, einem Land, das von Europa im Stich gelassen, enttäuscht wurde. Mit dem Machtwechsel 2005 habe es eine Kehrtwende in der EU-Politik gegenüber der Türkei gegeben - unterschwellig wurde die Botschaft gesendet: „Wir wollen euch nicht.“ Das lag, so Verheugen, auch an Europas Vorbehalten gegenüber einem islamisch geprägten, potentiellen EU-Mitglied. Erst dieser Schwenk habe die Verhärtung am Bosporus hervorgerufen.

Dündar pflichtet ihm bei. Als er auf die Welt kam, sagte der heute Ende Fünfzigjährige, hatte die Türkei den Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt: „Europa hat die Türkei verloren, und die Türkei hat die Hoffnung auf Europa verloren“. Verheugen forderte ein ehrliches EU-Gipfeltreffen zur Frage, ob und wie ein Beitritt der Türkei erwünscht und denkbar wäre.

Verbote von Auftritten türkischer Politiker in Deutschland, erklärte Dündar, nützen der Sache nicht. So könne Erdogan Europa als Gegner vorführen und „sogar die Opposition auf seine Seite ziehen.“ Doch: „Ich rufe dazu auf, dass man protestiert.“ Mit Bedauern stellte Dündar, ein Freund des deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel fest, das Interesse am Unrecht in gegenüber Journalisten der Türkei sei erst erwacht, als Yücel, Reporter der Zeitung „Die Welt“, vor einigen Wochen in Ankara verhaftet wurde. Sein Fall macht seither Furore.

Doch etwa 150 Journalisten befinden sich derzeit in der Türkei in Haft, Dündar selber hatte in derselben Haftanstalt gesessen wie Yücel. Einmal pro Woche durfte er seinen Anwalt sehen, einmal im Monat ein Familienmitglied. Die Einzelhaft sei „eine Art Folter“ gewesen, und „Deniz ist im Moment wie eine Geisel dort gefangen“. Viele der Inhaftierten wüssten monatelang nicht einmal, warum sie in Untersuchungshaft genommen wurden, in der sich sogar Mitglieder des Verfassungsgerichts befinden.

Zugeschaltet aus dem ARD-Studio in Istanbul war Ilkay Yücel, die Schwester von Deniz Yücel, wie er in Hessen geboren, die ihren Bruder im Gefängnis besuchen will. Sie hoffe, dass sich die Bundesregierung weiter für ihren Bruder einsetzt, sagte sie intelligent verhalten, und ließ sich auch durch emotionale Fragen nicht aus der diplomatischen Reserve locken, die in ihrer aktuellen Lage geraten ist. Tatsache ist: In keinem Staat der Welt sind mehr Journalisten inhaftiert, als in der Türkei - was auch daran liegt, dass es dort, anders als in Staaten, die bereits autoritäre Regime sind, überhaupt zahlreiche Journalisten gibt. 

"Wo ist die rote Linie?"

Can Dündar hofft indes, dass mehr als die Hälfte der türkischen Bevölkerung gegen das Referendum stimmt, dessen Erfolg de facto eine Präsidialdiktatur ermöglichen würde. Es ließen sich kaum mehr Eskalationsstufen denken, als die der vergangenen Tage und Wochen: Die Inhaftierung Yücels, die Auftrittsverbote türkischer Wahlkämpfer in Deutschland, und zuletzt eine Aussage Erdogans, der Yücel als „Agenten“ bezeichnete und von Deutschlands „Nazi-Methoden“ sprach. Justizminister Heiko Maas hatte die Rolle, die Bundesregierung zu verteidigen. Die aktuellen Vorwürfe aus Ankara seien „so abstrus infam und abwegig“, dass sich die Frage stelle, ob es nicht „zu blöd“ sei, sie überhaupt zu kommentieren. Doch ein Einreiseverbot für türkische Politiker würde nur schaden.

„Wo ist denn die rote Linie?“ forderte Sevim Dagdelen ihn heraus? Doch auch Maas will, wie Dündar, „nicht zu den gleichen Mitteln wie Herr Erdogan greifen.“ Dagdelens Gegenvorschlag: Man solle es halten wie die Niederländer oder Österreicher, die türkische Wahlkampfauftritte untersagten. Warum, fragte sie zudem zornig, „zahlen wir 630 Millionen Euro an Vorbeitrittshilfen zur EU für die Türkei?“

Auch Armin Laschet, stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU, stemmte sich gegen die Argumente von Dündar und Heiko Maas: „Ich finde, dass dieser Wahlkampf in Deutschland nicht stattfinden dürfte.“ Sein persönlicher Wunsch zur Person Erdogan: „Ich will ihn nicht hier sehen!“ Doch wich er der direkten Will-Frage aus, ob man die Auftritte türkischer Wahlkämpfer in Deutschland unterbinden solle. „Deeskalieren“ solle man schon.

Türkei macht "Schmutzarbeit für Europa"

Mit einem Abbruch der Gespräche, warnte Maas, treibe man die Türkei in die Hände von Putin. Sekunden der Ratlosigkeit waren mitten in der heftigen Debatte zu spüren, Sekunden, in denen das akute Dilemma seine Wucht offenbarte. Kluge Diplomatie, das wurde in jeder Minute klarer, ist jetzt das kostbarste Gut. Und der Suche nach der diplomatischen Notbremse in der verfahrenen Lage galten die besten Kommentare – die von Verheugen.

Die Bundesregierung, so Verheugen, dürfe es „nicht Landräten oder Bürgermeistern überlassen, ob türkische Politiker hier auftreten“. Vielmehr müsse man „souverän reagieren, wie ein demokratischer Rechtsstaat es tun sollte“. Die Türkei mache die „Schmutzarbeit für Europa“, indem sie die Flüchtlinge fernhält, und die Millionen, die hier im Land türkische Politiker  hören wollen, hätten einen Anspruch darauf.

Verheugen, das schien nach dieser produktiven Abendrunde klar, wäre jetzt der optimale Vermittler für deutsch-türkische Schlichtungsgespräche. „Fragt ihn doch!“ wollte man nach der Diskussion ausrufen. Fragt ihn am besten, noch ehe Außenminister Sigmar Gabriel am Mittwoch seinen türkischen Kollegen Mevlüt Cavusoglu in Deutschland trifft. Ja, fragt den.

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