Harald Martenstein: Freiheit für Erdogan!
Bei der EU darf jetzt die Liveübertragung aus dem Parlament abgeschaltet werden, falls ein Abgeordneter etwas sagt, das der Parlamentspräsident für „diffamierend“ hält. Wo führt das hin? Eine Glosse.
Aus der Türkei kommen gute Nachrichten für Raucher. Das Gesundheitsministerium hat hunderttausende Anti-Raucher-Broschüren einziehen lassen. Warum? Weil dort in plakativer Weise das Wort „Nein“ vorkommt. Dies könne als Aufforderung verstanden werden, beim Referendum über die offizielle Einführung einer Erdogan-Autokratie ebenfalls mit „Nein“ zu stimmen. Der Film „No!“, in dem es um ein Referendum gegen den chilenischen Präsidenten und Massenmörder Pinochet geht, wurde aus der Datenbank Digitürk getilgt. Beides berichtet der Journalist Bülent Mumay, natürlich nicht in einer türkischen Zeitung, sondern in der deutschen FAZ. Ein mutiger Mann. Er scheint noch auf freiem Fuß zu sein.
Regierungssprecher Seibert sagt, dass man immer und überall die Meinungsfreiheit verteidigen muss, sogar ein Antidemokrat wie Erdogan müsse in Deutschland frei sprechen dürfen. Ja, sicher, die Meinungsfreiheit muss auch für Meinungen gelten, bei denen es einem die Fußnägel hochrollt. Deutschland sagt: Freiheit für Erdogan! Im EU-Parlament geschieht zeitgleich das Folgende.
Demokratie auf europäisch
In Parlamenten ist es üblich, dass der Parlamentspräsident Abgeordneten das Wort entziehen kann, wenn sie Hasspredigten halten. Ob er das zu Recht tut oder ob er sich irrt – auch Präsidenten irren, nicht nur in der Türkei – kann jeder Wähler selbst überprüfen. Bei der EU darf jetzt die Liveübertragung aus dem Parlament abgeschaltet werden, falls ein Abgeordneter etwas sagt, das der Präsident für „diffamierend“ hält. Die Reaktion des Abgeordneten, die Proteste seiner Fraktion, eine eventuelle Entschuldigung, all das soll unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Aber das reicht noch nicht. Die Rede darf aus den Aufzeichnungen des Parlaments getilgt werden, TV-Aufnahmen werden gelöscht, es ist, als sei sie nie gehalten worden. Ein bisschen erinnert das an den Roman „1984“.
Demokratie auf europäisch. Künftige Historiker werden, wenn das Praxis wird, kaum noch in der Lage sein, Debatten dieses Parlaments lückenlos zu rekonstruieren und die angeblich diffamierenden Ansichten von Oppositionellen, rechten wie linken, überhaupt zu prüfen. Womöglich werden die Historiker sich schwer damit tun, überhaupt noch von einem „Parlament“ im klassischen Sinn zu sprechen. Ein Kennzeichen von echten Volksvertretungen ist ja der offene, manchmal heftige Streit vor den Augen der Wähler, des Souveräns.
Die Kritik am Demokratiedefizit der EU kommt nicht nur von Populisten, sie kommt auch von Grünen, Liberalen und Linken, sie ist berechtigt. Auf diese Kritik reagiert die EU, indem sie Demokratie weiter einschränkt. So trägt sich die schöne europäische Idee, fürchte ich, selbst zu Grabe. Aber: Freiheit für Erdogan!