Digitalisiertes Leben: Auf dem Tablet serviert
Smarte Autos, smarte Haushalte, Städte, Fabriken – bald wird der Mensch nur noch mit Touchscreens interagieren. Brauchen wir einen neuen Führerschein für "digitales Leben"?
Ein Auto ist ein Auto. Es hat vier Räder, einen Motor und ein Lenkrad. Oder etwa nicht? Neuerdings scheint das uns so vertraute Gefährt semantisch ins Schleudern gekommen zu sein. Ein Auto, haben wir mittlerweile gelernt, besteht vor allem aus Software, manchmal ist auch Malware im Spiel. Martin Winterkorn erklärte kürzlich – da war er noch Volkswagen-Chef – ein Auto werde bald „ein rollendes Smartphone“ sein. Mittlerweile weiß die ganze Welt: Die VW-Smartphones wurden absichtlich mit Viren verseucht.
Sollen wir uns auf das lenkradfreie Zeitalter freuen?
Das Auto hat sich bereits radikal verändert und verändert sich weiter – und nicht nur Managern und Vorständen entgleitet dabei die Kontrolle. Auch die Spielräume der Autofahrer schrumpfen. Lenkräder, so erläuterte Google-Projektleiter Chris Urmson vor einigen Tagen, seien wie auch Pedale lediglich „Symbole des manuellen Fahrens“ und deshalb bei den selbstfahrenden Autos des US-Konzerns nicht mehr vorgesehen. Aus Sicht der Entwickler ist die Umsetzung von Innovation damit konsequent zu Ende gedacht. Warum sollte man Menschen Handlungsmöglichkeiten vorgaukeln, wo keine mehr sind? Weg mit dem antiquierten Oberflächendesign! Am besten ändern die Marketingabteilung der Unternehmen auch gleich die Begrifflichkeiten und bezeichnen Autofahrer künftig als „Auto-User“.
Die Frage ist nur: Sollten wir uns auf das anbrechende lenkradfreie Zeitalter freuen – oder davor gruseln? Urmson erwähnte weiterhin, dass er seinem 12-jährigen Sohn den Führerschein ersparen will. Vermutlich muss der junge Mann auch nicht mehr lernen, wie man Türen mit einem Schlüssel öffnet, wie man papierne Landkarten liest, wie man Teppiche staubsaugt oder wie man einen Puls misst. Auch das sind vom Aussterben bedrohte Kulturtechniken. Apps, Roboter oder Wearables (tragbare Minicomputer wie Smartwatches) erledigen viele solcher Aufgaben längst schneller und effizienter. Das Internet der Dinge schreitet voran. Aus Städten werden Smart Cities, aus Fabriken Smart Factories, aus Häusern Smart Homes. Alle elektronischen Geräte werden vernetzt und fernsteuerbar. Sensoren erfassen permanent Daten und geben sie an die Cloud weiter. Im Hintergrund laufen automatisierte Steuerungsprozesse. Die Geräte bekommen ein Gedächtnis, sie sind lernfähig und können untereinander kommunizieren. Der Mensch muss oder soll nur noch punktuell eingreifen.
Apps gegen Tinnitus auf Rezept
Zwar gibt es hier und da noch Datenschutzbedenken, von philosophischen Zweifeln dagegen ist in der Öffentlichkeit wenig die Rede. Wieso auch? Die allgegenwärtige Informationsverarbeitung, das so genannte „ubiquitous computing“, hilft Abläufe zu optimieren, Zeit zu sparen und Ressourcen zu schonen. Mehr Sicherheit, mehr Komfort, mehr Freiraum für die Nutzer – so lauten die Versprechungen. Das Individuum scheidet als Fehlerverursacher aus und muss sich außerdem um viele lästige Details des Alltags nicht mehr selbst kümmern. Und erfüllt sich nicht nebenbei auch ein Menschheitstraum, wenn schwere Maschinenparks allein durch sanftes Gleiten von Fingerspitzen auf Touchscreens kontrolliert werden können?
Aus Sicht von Philosophen und Medienwissenschaftlern markiert das ubiquitous computing den Übergang vom digitalen zum post-digitalen Zeitalter. „Wir leben zwar noch in der Epoche digitaler Medien, aber diese sind so selbstverständlich und alltäglich geworden, dass sie nicht mehr reflektiert, sondern schlicht genutzt werden. Das führt zu einem Verlust von kritischer Distanz“, sagt Wolfgang Ernst, Professor für Medientheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Der Mensch wird Teil eines Mensch-Maschine-Verbunds. Er kontrolliert und wird zugleich kontrolliert.“ Im Gesundheitssektor lässt sich die Entwicklung derzeit besonders deutlich beobachten. Der Körper ist zu einer Andockstation für externe Software geworden. Krankenkassen bezuschussen smarte Armbänder, die Herzfrequenzen messen, Bewegungsprofile erstellen und Kalorienverbrauch dokumentieren. Es gibt Apps für Asthmatiker und Apps gegen Tinnitus, letztere sogar schon auf Rezept.
Was hält die digitale Welt im Innersten zusammen?
Für den Großteil der Nutzer bleiben all diese Vorgänge, Messungen und Big Data-Auswertungen allerdings ein Buch mit sieben Siegeln. Man kann das durchaus als Anzeichen einer fortschreitenden Entmündigung sehen. Der post-digitale Mensch gibt mit der Verantwortung für seinen Körper, seinen Haushalt, sein Auto auch sein Herrschaftswissen ab. Was passiert da hinter den Screens? Was hält die digitale Welt im Innersten zusammen? Spätestens seit sich Smartphones und Tablets als Daten- und App-Verwaltungszentralen durchgesetzt haben, ist das Aufschrauben und Reingucken faktisch keine Option mehr. „Mit der dramatischen Miniaturisierung der aktiven Bauteile in elektronischen Kommunikationsmedien wurden die Medienvorgänge selbst undurchsichtig“, meint Ernst. „Frühere Nutzer von Radio und Fernsehen waren noch imstande, die Technik ansatzweise zu durchschauen.“
Und damit auch zu reparieren – oder für eigene Zwecke umzufunktionieren. Im 20. Jahrhundert war das Innenleben von Autos, Motorrädern, Toastern oder Telefonen noch keine Geheimwissenschaft. Die Lust am Fräsen, Bohren und Schweißen trieb Generationen von jugendlichen Tuning-Experten zu kreativen Höchstleistungen, während in den Hobbykellern des Bürgertums Schraubenzieher und der Lötkolben regierten. Gelegentlich waren die Manipulationen sogar politisch motiviert: „Der ‚Volksempfänger‘ in der Epoche des Nationalsozialismus konnte mit entsprechender Medienkompetenz umgebaut werden, um etwa auch englische Programme zu empfangen“, sagt Ernst.
Brauchen wir im digitalen Zeitalter einen neuen Führerschein?
Heute scheitern die meisten Digital Natives schon daran, vorinstallierte Apps von der Oberfläche ihrer Smartphones zu entfernen. In tiefere Sphären der Geräte können ohnehin nur noch die Programmiereliten der Unternehmen oder versierte Hacker eindringen, um dort Funktionsweisen zu ändern oder Datenströme umzulenken. Allen anderen ist der Zugriff verwehrt. Denn wer mit mathematischen Algorithmen nicht vertraut und unfähig ist, Quellcodes zu entziffern, der kann nur auf vorgegebene Buttons und Symbole klicken. Der Berliner Medientheoretiker zieht angesichts dieser Entwicklung einen wenig schmeichelhaften historischen Vergleich: Wenn Nutzern nur noch beigebracht wird, auf Icons zu klicken, dann wird die post-digitale Gesellschaft bald wieder der des Mittelalters ähneln, „als den Analphabeten in den Kirchen Bilder mit Bibelgeschichten gezeigt wurden, statt ihnen Lesen und Schreiben beizubringen.“
Aber welche Wege könnten zu neuer technischer Aufklärung führen? An den Universitäten setzt sich zunehmend der Ansatz „open the black box“ durch; das Institut für Medienwissenschaft an der HU unterhält für das Aufschrauben und Analysieren von elektronischen Medien eigens ein Labor. Doch auch das erreicht nur wenige. Vielleicht wäre es an der Zeit, wirklich über die Abschaffung des alten Führerscheins und die Einführung eines neuen nachzudenken. Ein Kurs, in dem man lernt, wie Software, Sensoren, Datenauslese, Automatisierung, Fernsteuerung und Tracking zusammenwirken. Und dann muss es natürlich noch einen Aufbaukurs „Gesetzeswidrige Software erkennen und verhindern“ geben – der richtet sich aber speziell an Führungskräfte und Vorstandvorsitzende.