Interview zur Bedeutung von "GoT": „ ,Game of Thrones‘ spiegelt die Krise des Westens nach 9 11 “
Mehr als nur Fernsehen: Interview mit dem Philologen Markus May über die Fantasy-Serie als Stoff für Uni-Seminare – und ihre Nähe zum Zeitgeist.
Herr Professor May, sind Sie ein Fantast?
Als bayerischer Beamter muss ich die Frage entschieden zurückweisen. Scherz beiseite – eines meiner Interessengebiete als Literatur- und Kulturwissenschaftler ist die Geschichte der Fantastik als ein ästhetischer Modus und wie sich dieser Modus in den unterschiedlichen Gattungen und medialen Formen ausprägt. Die Imagination und das Imaginäre gehören zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen, ebenso wie die Rationalität. Deren Wechselverhältnis zeigt sich auf verschiedenste Weise in den Produkten nahezu aller Epochen der abendländischen Kultur – vom Kampf des Helden mit Seeungeheuern und Kyklopen in Homers „Odyssee“ bis hin zu den Comic-Superhelden des 20. und 21. Jahrhunderts à la Superman, Spiderman und den zurzeit immens populären fremden Welten der Science-Fiction oder der Fantasy. Mich interessiert dabei vor allem die kulturelle Bedeutung dieser Phänomene in ihren jeweiligen medialen und gesellschaftlichen Kontexten. Fiktionen sind immer symbolische Verhandlungen zeitgenössischer Problemlagen.
Sie arbeiten als Professor für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität. Wie weit war es für Sie zur Begeisterung für „Game of Thrones“?
Nachdem ich die erste Staffel von „Game of Thrones“ gesehen hatte, habe ich erst einmal die fünf bislang erschienenen Bände von George R. R. Martins Saga „A Song of Ice and Fire“ gelesen, auf der die Serie ja basiert. Ich war angetan von der Komplexität der dargestellten Welt und ihrer Charaktere, etwas, das sich nicht über jede Fantasy-Reihe sagen lässt. Vor allem in Hinsicht auf die Darstellung psychologischer wie ethischer und politischer Dilemmata unterscheidet sich „A Song of Ice and Fire“ doch vom Gros der Genre-Fantasy. Hier ist, bei allem Humor, den vor allem die Romane auch bieten, eine ästhetische Ernsthaftigkeit am Werk, die sehr in unsere Zeit passt, in der ebenfalls die klaren ideologischen Positionen und vormalig unhinterfragten Sicherheiten ins Wanken geraten sind. Es ist die Fantasy der Krise, die sehr genau das Bewusstsein der permanenten Krise widerspiegelt; ein Gefühl, das den Westen seit 9/11 nicht mehr verlassen hat. Wenn einmal eine Kulturgeschichte der 2010er Jahre geschrieben wird, bin ich sicher, dass „Game of Thrones“ als eine nicht zu vernachlässigende Erscheinungsform des Zeitgeistes darin Platz finden wird.
Sie geben Seminare zu „Game of Thrones“. Wie lässt sich Fernsehen für die Philologie fruchtbar machen?
Was mich als Kultur- und Medienwissenschaftler an dem Seminarthema reizt, ist nicht zuletzt der Medienvergleich zwischen Buchreihe und Serie. Welche spezifischen Möglichkeiten des Erzählens bieten die jeweiligen Medien, wie werden bestimmte Handlungselemente und Episoden, etwa die „Red Wedding“, im Buch und in der Serie umgesetzt? Welche Elemente der Geschichte können im Buch besonders ausgeleuchtet werden, welche in der Serie – und was bleibt im jeweiligen Medium auf der Strecke? Die gesamte Buchreihe ist polyperspektivisch erzählt, jedes Kapitel wird aus der Perspektive einer Protagonistin oder eines Protagonisten erzählt. Diese Mitsicht ermöglicht dem Leser eine Teilnahme an den Reflexionen, inneren Konflikten, unausgesprochenen Ängsten und Wünschen der Figuren. Die Erzählweise der Serie unterscheidet sich von dieser Fokalisation, obgleich (erzähl-)theoretisch eine analoge Technik zur Verfügung stünde, nämlich die subjektive Kamera, die man aus Filmen wie dem „Blair Witch Project“ kennt, wo die Kamera genau die Sichtweise einer Person wiedergibt. Dies wäre aber über die lange Dauer der Serie ermüdend. An einer Stelle setzt jedoch „Game of Thrones“ diese subjektive Kamera ein, und dies geschieht besonders effektvoll: als nämlich Bran nach seinem Sturz in der Gestalt seines Schattenwolfs durch den Götterhain in der Burg Winterfell streift. Erst als die Kamera nach unten in den Teich sieht und so das Spiegelbild wiedergibt, wird klar, dass es sich um die Perspektive des Wolfs handelt, in dessen Bewusstsein Bran geschlüpft ist. Hieran sieht man deutlich, dass jedes Medium nach einem ihm gemäßen Einsatz der ästhetischen Mittel verlangt.
Nach Ihren Erfahrungen: Was interessiert, was fasziniert die Studierenden daran besonders?
Meine Seminare zu „A Song of Ice and Fire“/„Game of Thrones“ sind Teil unseres Masterstudiengangs „Medienkulturwissenschaft“, der eine starke Ausrichtung auf solch transmediale Themenstellungen hat; insofern sind die Studierenden schon für theoretisch und methodisch fundierte Vergleiche zu interessieren. Darüber hinaus haben in diesem speziellen Fall natürlich auch die Studierenden teil an dem internationalen Hype eines Phänomens der populären Kultur. Dieses Thema affiziert die Studierenden wahrscheinlich direkter als ein Gedicht von Andreas Gryphius. Daneben lassen sich die Seminare auch für die in der Serie respektive Buchreihe verhandelten Themen wie die Problematisierung von Gender-Rollen, die Zusammenhänge von Ethik und Macht, die Zwänge der Realpolitik, spieltheoretisch fundierte Strategien, epistemische Verunsicherungen und Diskursmacht begeistern.
Mal ehrlich, was an dieser Saga ist nicht hanebüchen?
Natürlich wissen wir, dass sich ein Mensch nicht in einen Käfer verwandeln kann, aber wenn man dieses Handlungsmoment nicht für die Dauer der Lektüre akzeptiert, so kann man etwa Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ nicht rezipieren. Man muss sich auf die Parameter der Fiktion schon einlassen können. Erst dann kann man hinter den Chiffrierungen tiefere Sinndimensionen erkennen. Die Drohung eines universellen, Jahre andauernden Winters als Folge eines globalen Ungleichgewichts, etwas, das sich anschickt, das menschliche Leben auszulöschen – ich glaube, in Zeiten des über uns hereinbrechenden Klimawandels liegt das unserem Bewusstsein und unseren Befindlichkeiten nicht allzu fern. Jeder Rezipient, Zuschauer oder Leser gleicht ja immer die Schilderungen der Fiktion mit seinen eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen, Wünschen und Ängsten ab – wir können gar nicht anders. Daraus erklärt sich auch die spezifische Wirkung von Fiktionen, und „Game of Thrones“/ „A Song of Ice and Fire“ sind in dieser Hinsicht besonders nah am Zeitgeist.
Besseres Verständnis von Prozessen
Taugt „Game of Thrones“ tatsächlich zur Welterklärung?
Ich würde nicht sagen, dass „Game of Thrones“ Welterklärung in einem umfassenden Sinn leistet – das ist Aufgabe der Wissenschaften wie Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie –, sondern allenfalls zum besseren Verständnis von Prozessen in der Wirklichkeit beitragen kann. In der modellierten Reduktion der fiktiven Spielwelt erkennt man solch prozessuale Mechanismen vielleicht leichter als in der komplexen und kaum zu durchdringenden Realität unserer Welt.
Lassen sich horizontal erzählte Megaserien wie „GoT“, „House of Cards“ als moderne TV-Romane klassifizieren?
Die narrative Grundeinheit der Serie, die Episode, ist in Aufbau und Funktion durchaus dem Kapitel eines Romans vergleichbar. Auch bezüglich des Detailreichtums der porträtierten Welt, die, mit Roland Barthes gesprochen, den „Realitätseffekt“ der Fiktion hervorruft, lässt sich eine Parallele zwischen den modernen Serien und der klassischen Romanliteratur, insbesondere der des 19. Jahrhunderts, ziehen. Und nicht zuletzt ermöglicht die horizontale Erzählweise auch einen höheren Grad an Komplexität bei den Charakteren und der Handlungsentwicklung.
Waren Sie mit dem Finale zufrieden?
Mir schien nach all den Verstrickungen und Brüchen mit den Genre-Konventionen und den Zuschauererwartungen, die diese Serie bis dahin lustvoll zelebriert hatte, nur der völlige Untergang dieser epischen Welt als der einzige Schluss, der in Einklang mit den bis zu diesem Zeitpunkt etablierten ästhetischen Gesetzen stünde, wünschenswert. Die totale Apokalypse, das irreversible Verschwinden dieser Welt und ihrer allzu menschlichen Menschen, hätte nicht nur ein künstlerisch konsequentes Ende der Serie bedeutet, sondern auch ein starkes Statement in Sachen Posthumanismus geliefert. Doch eine derartige Radikalität hätte das Gros der Zuschauerinnen und Zuschauer enttäuscht. Insofern ließe sich das einigermaßen konventionell gehaltene Serienende, bei dem es ja dennoch nicht ohne Opfer abging, durchaus rechtfertigen. Es bleibt abzuwarten, ob in der Zukunft einmal ein Medienunternehmen auch noch diesen Schritt hin zu einer totalen Desillusion des Publikums wagt. Oder mit den Worten eines deutschen Comedians: „Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.“
Das Interview führte Joachim Huber.
Markus May ist Professor am Institut für Deutsche Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.