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Florian Boesch in der "Dreigroschenoper". Die Österreicher lieben das Theater, gehen aber kaum hin, meint Karl-Markus Gauß.
© imago

Wie die Österreicher ticken: "Jammern ist bei uns eine alte Kulturtechnik"

Die Deutschen romantisieren ihr Nachbarland, findet der österreichische Publizist Karl-Markus Gauß. Was Thomas Bernhard mit Jörg Haider verbindet und halb Wien im Theater tut.

Herr Gauß, könnten Sie uns bitte mal schonungslos erklären, wer und was ein Piefke ist?

Euch Deutsche Piefkes zu nennen, entspringt einer österreichischen Obsession, die sich langsam zu einem bloßen Vorurteil abschwächt. Im Piefke ist gewissermaßen das österreichisch-deutsche Verhältnis anschaulich geworden: Den Deutschen braucht man, unter anderem als Touristen, aber man hält ihn für ein nicht so lebensfrohes Wesen wie sich selbst.

Hinter der Piefke-Verachtung meinen wir Deutsche auch so etwas wie Neid zu spüren. Billiger Selbstschutz von unserer Seite, oder ist da was dran?
Oh ja, da ist was dran. Der Piefke verkörpert jene Tugenden, für die man Deutschland insgeheim schon immer bewundert hat: Disziplin, Tüchtigkeit, Selbstvertrauen und dergleichen. Das aber verbunden mit einer höchst engstirnigen Persönlichkeit, die überall in der Welt überprüft, ob die Dinge gefälligst so sind wie zu Hause.

Klingt nicht besonders nett.
Naja, heute hat sich das stark abgemildert, auch weil wir inzwischen selbst einen Wohlstand haben, den wir früher mit Deutschland identifizierten.

Umgekehrt beneiden viele Deutsche nach wie vor die Österreicher, weil es der Fortschritt bei euch vermeintlich etwas ruhiger angehen lässt. Ein Irrtum?
Nein, kein Irrtum. In Österreich sind viele sozialstaatliche Errungenschaften, die in anderen Ländern längst kassiert wurden, noch leidlich unangefochten, in der Gesundheitspolitik oder bei den Renten und der Unterstützung von Arbeitslosen. Von außen wird uns das aber zunehmend vorgehalten, als Beharrung auf überholten Idealen.

Wirklich nur von außen?
Nein, die Kritik kommt langsam auch in Österreich selbst in Gang. Zugleich wächst die Angst vor „Modernisierungen“, die für viele mit der Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes und damit vor dem sozialen Abstieg verbunden sind.

Wird diese Angst nicht auch von der rechtspopulistischen FPÖ geschürt?
Sagen wir, sie wird von ihr ausgenutzt. Die FPÖ spielt sich als Schutzpatron der kleinen Leute auf, propagiert aber genau jene Wirtschaftspolitik, die kleine Leute in Bedrängnis bringt. Trotzdem ist es nicht leicht, der FPÖ politisch zu trotzen. Deren Funktionäre setzen dreist aufs Lügen, und überführt man sie, sagen sie grinsend: Was soll’s? Der Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer hat das als Wahlkämpfer bereits im Frühjahr virtuos praktiziert. Und jetzt, kurz bevor die wegen Behördenschlamperei für ungültig erklärte Wahl wiederholt werden muss, treibt er’s weiter so.

"Bei uns ist das Leben selbst eine Bühne", sagt Karl-Markus Gauß.
"Bei uns ist das Leben selbst eine Bühne", sagt Karl-Markus Gauß.
© Kurt Kaindl

Wobei die Frage bleibt, wieso Österreichs extreme Rechte derart stark ist, womöglich noch stärker als in Deutschland derzeit?
Die Deutschen waren ja relative Weltmeister im Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit. Wogegen die Österreicher nicht nur ihre Verstrickung in die Naziverbrechen verleugnet haben, sondern auch jenen Widerstand gegen den Nationalsozialismus verdrängten, auf dem eine demokratische Politik nach 1945 hätte aufbauen können.

Darum haben beim ersten Versuch der Präsidentenwahl im Mai 2016 fast 50 Prozent für Hofer gestimmt?
Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, die alle als Nazis zu verstehen. Aber natürlich haben sie einen Kandidaten der extremen Rechten gewählt. Der ihnen, wie all die Haudegen der neuen autoritären Bewegungen, laufend neue Feinde präsentiert, an denen sie ihre Wut austoben. Und dazu verspricht er die Rückkehr übersichtlicher Verhältnisse, fast schon eine heile Welt von gestern, die es nie gegeben hat.

Auch nicht während der Habsburger Monarchie?
Entgegen dem Anschein gibt sich Österreich alle Mühe, das Erbe der Habsburger, das ja nicht nur Schlechtes enthält, grundsätzlich zu verweigern.

Worin besteht denn dieses positive Erbe?
Vor allem im kulturellen und sozialen Reichtum unseres Landes. Der entstand auch dadurch, dass einst die begabten und mutigen Kinder aus Galizien und Mähren, aus Slowenien und Siebenbürgen in die Hauptstadt Wien strömten. Doch längst ist diese Vergangenheit in kitschige Sissifilme und dergleichen ausgelagert worden; sie dient nur noch als geistloses Klischee für die Tourismuswerbung.

"Wir gehen alles mit kreativer Schlamperei an"

Wiener Kaffeehäuser sind eine Institution. Hier mischen sich alle Schichten und Generationen. Im Bild das "Café Hawelka".
Wiener Kaffeehäuser sind eine Institution. Hier mischen sich alle Schichten und Generationen. Im Bild das "Café Hawelka".
© imago

Ist die reiche kulturelle Tradition Österreichs nicht bis heute auf Schritt und Tritt zu spüren, in der Architektur zum Beispiel, oder im Stolz auf einen geradezu opulenten Theater- und Musikbetrieb?
Das hat viel mit der Neigung von Kaisern, Adeligen und Erzbischöfen zur möglichst festlichen Repräsentation zu tun. Wem gehört das größte Schloss, wer lässt die schönsten Opern aufführen? Wobei das im 16. und 17. Jahrhundert auch ganz anders hätte kommen können. Österreich war ja ein Land, in dem die evangelische Bewegung in weiten Teilen fast schon gesiegt hatte.

Kaum vorstellbar – Österreich wäre so ein protestantisch-nüchterner Staat wie Preußen geworden?
Am Ende setzten die Habsburger und die Gegenreformation dem evangelischen Hang zur Innerlichkeit dann das betont Sinnenfreudige und Überschwängliche entgegen. Auch die Lust am Theatralischen kommt daher. Jeder deutsche Regisseur, der einmal am Wiener Burgtheater oder sonstwo in Österreich inszeniert hat, sagt: „So was gibt es bei uns nicht – die halbe Stadt redet nach einer Theateraufführung darüber, ob die toll war oder grässlich oder wenigstens eine Schweinerei.“

Halb Wien geht ins Theater? Da gratulier’ ich aber – wie der Kaiser zu sagen pflegte.
Ah was, kaum einer geht hin. Aber alle reden sie drüber. Der österreichische Architekt und Autor Friedrich Achleitner hat einmal sinngemäß gesagt: „Was brauch’ ich in meiner Stadt? Ich brauch’ ein Theater und ein Kino, in die ich nicht hineingehe, und ich brauche ein paar tolle Museen, die ich nie besuche. Aber ich weiß: Wenn ich wollte, könnte ich.“

Immerhin wollt ihr noch können. In Deutschland interessiert sich kein Schwein mehr fürs Theater.
Bei uns ist das Leben oft selbst eine Bühne. Es gibt hier viele Alltagstheatraliker. In jedem zweiten Postamt amtiert ein Kauz, der zwar seine Arbeit irrsinnig schlecht macht, aber dabei das Publikum blendend unterhält.

Der Unterhaltungswert zählt in Österreich mehr als die Effektivität?
Wenn Sie irgendwo ins Gasthaus gehen – unsere Kellner sind alle Schauspieler, von gespielt liebenswürdig bis gespielt grantig. Spielen ist ihr Lebenselixier. Und die Gäste spielen oft genug mit.

Gehen deswegen so viele Künstler gern ins Kaffeehaus? Bei manchen österreichischen Schriftstellern wie Karl Kraus oder Egon Friedell hat man den Eindruck, sie hätten praktisch im Kaffeehaus gewohnt.
Und trotzdem sind das keine exklusiven Literatencafés. Im Kaffeehaus mischen sich alle Schichten, alle Generationen. Da sitzen die Pensionistinnen, da die Hofräte, dort drei anarchistische Studenten.

Toll! Anarchistische Studenten gibt es bei uns in Deutschland schon lang nicht mehr.
Da sehen Sie es, selbst in diesem Punkt sind wir Österreicher konservativ. Wir halten halt gern an gewohnten Dingen fest, an guten wie an schlechten. Und das Anarchische gibt diesem Konservativismus oft etwas Ungebärdiges.

Aber zu richtigen Revolutionen ist es in Österreich nie wirklich gekommen?
Vielleicht nicht zu großen Revolutionen, aber doch immer wieder zu sozialen Revolten, in allen Ecken des Landes. 1934 haben sich die Arbeiter in Österreich erhoben, in einem heldenhaften, verlorenen Kampf gegen den Faschismus.

Kann Österreich darauf bis heute stolz sein?
Könnte. Allerdings haben wir die rebellischen Traditionen so gründlich aus unserer Geschichte verdrängt, dass inzwischen viele meinen, es hätte sie gar nicht gegeben. Es ist davon nichts geblieben als die Neigung selbst biederer Bürger, Gesetze nicht sonderlich wichtig zu nehmen und gegen Regeln notorisch und lustvoll zu verstoßen.

Klingt sympathisch – und ist doch wahrscheinlich nicht immer wirklich lustig.
„Typisch Piefke“, würde der Österreicher jetzt antworten, „ihr Deutschen nehmt alles ernst, während wir es mit unserer kreativen Schlamperei viel humaner angehen.“ Wobei, manchmal treibt uns unsere Schlamperei an den Rand des Chaos. Wie jetzt, wo wir für eine unanfechtbare Präsidentschaftswahl fast ein Jahr brauchen.

Vor dieser Wahl am 4. Dezember steht der 100. Todestag des Kaisers Franz Joseph an. Wird dieses Datum gebührend gefeiert werden?
Offiziell schon, es gibt zum Beispiel eine große Ausstellung dazu, verteilt auf Schloss Schönbrunn und drei andere Orte in und bei Wien, dazu einige Fachkonferenzen.

Kein pompöser Festakt?
Nein. Ich glaube auch nicht, dass ein Funke der Begeisterung oder gar der Ergriffenheit auf die Gesellschaft überspringen wird.

Komisch. Wir Piefkes denken ja immer, ihr Österreicher hängt noch irgendwie an eurem Kaiser – oder wenigstens an der Epoche, die er verkörperte.
Dass ausgerechnet Franz Joseph als Repräsentant der guten alten Kaiserzeit firmiert, ist historisch betrachtet kurios. Schließlich hat der Mann sein Reich völlig fantasielos zugrunde regiert. Beliebt war er nicht sehr, außer vielleicht in seinen letzten Jahren. Da hat er sich, auch wegen seines Alters, eine Art Respekt als der oberste Beamte der Monarchie ersessen.

"Verdammt, das klingt fast nach mir"

Winteridylle. Deutsche kommen gern nach Österreich.
Winteridylle. Deutsche kommen gern nach Österreich.
© imago

Wenn nicht der Franz Joseph, erzeugt dann wenigstens Österreichs schöne Geografie – Land der Berge, Land der Seen – so etwas wie ein Nostalgiepotential?
Das ist nicht unser Verdienst.

Eine Landschaft steht doch nicht einfach so in der Gegend herum. Sie wird auch von den Menschen geprägt, die sie bewohnen.
Da haben wir erst recht keinen Grund, stolz auf uns zu sein. Statt unsere Landschaften zu erhalten, zersiedeln und zerstören wir sie. Das schaut oft grauslich aus.

Da gucken Sie aber schärfer hin als Ihre Gäste. Wer aus dem Ruhrpott oder dem Umland von Leipzig kommt, findet Österreichs Landschaften nach wie vor paradiesisch. Von den vielen schönen Schlössern, Burgen, Kirchen und Klöstern ganz zu schweigen.
Sicher, das kann sich sehen lassen, auch an großartigen Malern, Dichtern oder Komponisten besteht kein Mangel. Aber die Österreicher sind erst dann stolz auf ihre Künstler, wenn sie tot sind. Lebende Kulturschaffende hingegen werden gern als undankbare „Staatskünstler“ denunziert.

Schwingt da jetzt ein bisschen Selbstmitleid mit?
Nein! In manchen Aspekten seines Kulturbetriebs funktioniert Österreich, und ich meine das positiv, immer noch wie ein halbsozialistisches Land. Der Staat hat, bis jetzt, ein dichtes Netz von Förderungen und Unterstützungen, an dem große Stars ebenso partizipieren wie zahllose Künstler, die nie zu Ehren gekommen sind. Es kann einem österreichischen Künstler kaum passieren, dass er völlig heruntersandelt.

Also doch undankbare Staatskünstler?
Die Wahrheit ist: Jeder Künstler, gerade der, der möglichst viel bekommen hat, hat den Reflex, auf den Staat einzudreschen. Die Hand, die einen füttert, muss man beißen – das ist doch das einzig Ehrenvolle, das man machen kann!

Glaubt man Thomas Bernhard, gibt es eine spezifisch österreichische Ergötzung an Gemeinheiten, auch an denen, die einem selbst zugefügt werden.
Bernhard ist ja so populär, weil seine Kritik unüberbietbar radikal, aber dabei völlig ziellos blieb. Im Grunde war er in der Literatur das, was Jörg Haider in der Politik war. Ich erinnere mich an den Besuch eines spanischen Schriftstellers; der hatte Bernhards Österreich-Verunglimpfungen für bare Münze genommen und sich gewundert, dass er auf dem Weg vom Bahnhof in die Stadt nicht an marschierenden SA-Horden vorbei gekommen war.

Dennoch, Österreich-Liebe und Österreich-Hass lassen sich in der österreichischen Literatur nur schwer voneinander trennen. Und nicht nur da. Sie sind ja ein bekennender „Tatort“-Seher. Prägt diese Hassliebe zur Heimat nicht auch die Wiener Krimis?
Interessanterweise schimpfen die Zuschauer hier über keinen „Tatort“ so wie über den österreichischen. Das aber nicht, weil unser Land zu schlecht darin wegkäme, sondern weil die Wampe des Hauptdarstellers Harald Krassnitzer immer dicker wird, seine Kollegin ein grauenhaftes Kostüm getragen hat, die Wiener Dialektausdrücke falsch ausgesprochen wurden oder was auch immer.

Geguckt wird trotzdem?
Immer wieder. Das Jammern ist eine alte österreichische Kulturtechnik, es hat nichts mit echter Ablehnung zu tun. Der Jammerer fraternisiert sozusagen mit den schlechten Zuständen; er will sie nicht ändern, bloß über sie lästern. Wie gesagt: Konservativ mit anarchischem Einschlag.

Könnte man es auch mit diesem Zitat zusammenfassen: „Österreich ist ein Labor, in dem mit dem Untergang als Witz experimentiert wird“?
Verdammt, das klingt fast nach mir.

Stimmt. Es steht in Ihrem Buch „Der Alltag der Welt“.

Rainer Stephan

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