Umweltaktivistin Maude Barlow: „In Hongkong war das Tränengas schlimm“
Man nennt sie Al Gore des Wassers: Maude Barlow streitet für bolivianische Bauern und mit kanadischen Polizisten. Und eine Flasche Wasser rührt sie nur im Notfall an
Mrs. Barlow, dürfen wir Ihnen ein Glas Wasser einschenken? Wir haben verschiedene Flaschen mitgebracht...
Ich trinke doch nur Leitungswasser. Das in Deutschland hat immer sehr gut geschmeckt.
Nehmen wir an, Sie müssten sich entscheiden. Es gibt drei Marken zur Auswahl: „Spreequell“ hier aus der Region, „Bonaqua“, ein Produkt von Coca Cola, und „Vittel“ aus dem Hause Nestlé.
Na gut, dann am ehesten das regionale. Aber nur, um die örtliche Wirtschaft zu unterstützen. Bonaqua oder Vittel, das macht keinen großen Unterschied – obwohl wir uns bei unserer Arbeit auf Nestlé konzentrieren. Zu denen gehören mehr als 70 Marken. Das sind aggressive Wasserjäger. Wie früher die Bergbauunternehmen gehen sie zu lokalen Quellen, pumpen dort für lächerlich wenig Geld das Wasser ab, und wenn es irgendwann nichts mehr gibt, verschwinden sie wieder. Warum sollte überhaupt jemand hierzulande Wasser aus der Flasche trinken? Das aus der Leitung ist auch sauber und gesund – und viel billiger.
Sie stehen seit 1988 an der Spitze des „Council of Canadians“, der größten Bürgerrechtsorganisation Ihres Landes. Heute nennen Sie manche „Al Gore des Wassers“. Wie kamen Sie zu diesem Thema?
Es begann, als ich mich mit der Globalisierung beschäftigte und durch die Welt reiste. Ich habe gemerkt, dass in vielen Ländern des Südens Frauen kilometerweit laufen müssen, um Wasser herbeizuschaffen. Mit einem Preisgeld habe ich mal dafür gesorgt, dass ein Dorf in Bolivien, nördlich von La Paz, ans Wassersystem angeschlossen wurde. Eine Frau nahm mich mit und zeigte mir einen Bach am Ende eines langen, steilen Hügels. Sie sagte: Beim Wasserholen von dort unten sind jedes Jahr Frauen gestorben, nun wird das nicht mehr passieren. Ein wundervoller Moment.
2010 gelang Ihnen und Ihren Mitstreitern ein Erfolg: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen erkannte den Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitärversorgung als Menschenrecht an. 900 Millionen Menschen bleibt dieses Recht weiter verwehrt. Was nutzt denen ein Uno-Papier?
Es gibt ein Folterverbot, und trotzdem existiert Folter. Klar ist, dass sich die Situation gerade in ärmeren Ländern nicht über Nacht verändern lässt. Aber jeder Staat ist verpflichtet, einen Plan zu entwickeln, und dann kann es auch finanzielle Unterstützung von der Uno geben. Was das Trinkwasser angeht, so sind die Zahlen der Vereinten Nationen besser als vor fünf Jahren. Sie behaupten sogar, es habe einen Durchbruch gegeben. Ich bin da skeptischer. Manche Länder verlegen einfach eine Leitung in eine Gemeinde und behaupten dann, damit hätte sich das Problem für alle Menschen im Umkreis erledigt. Vielleicht ist die Leitung aber dreckig oder das Wasser zu teuer.
Sie schreiben, im Westen sei es eine Mode geworden, immer eine Wasserflasche dabei zu haben.
Neulich hatte ich eine Veranstaltung an einer Schule. Danach kam ein 12-Jähriger auf mich zu und sagte: Ich verstehe, was Sie meinen, aber was machen Sie, wenn Sie plötzlich durstig sind und kein Wasser dabei haben? Ich habe ihm geantwortet: Es gab einmal eine Zeit, da sind die Menschen ohne Wasser aus dem Haus gegangen und trotzdem nicht verdurstet. Oder man füllt Leitungswasser in eine Thermoskanne und nimmt die mit.
Wo bleibt da der Genuss? Manchem schmeckt das eine Wasser eben besser als das andere.
Ich genieße das Leben auch. Aber alleine der Müll! Selbst hier in Europa sehe ich fast nur noch Plastikflaschen. Wenn Sie all die Wasserflaschen, die vergangenes Jahr verkauft wurden, in einer Kette aufreihen, würde diese 65 Mal zum Mond reichen und wieder zurück. Um eine Plastikflasche zu produzieren, braucht man Öl, etwa so viel, wie in ein Drittel der Flasche passt. Und da ist die Energie, das Wasser vielleicht um die halbe Welt zu verschiffen, noch gar nicht eingerechnet.
Peter Brabeck-Letmathe, Präsident des Verwaltungsrats von Nestlé, argumentiert, dass zum Beispiel in den USA für Wasser in Flaschen nur 0,004 Prozent des Süßwassers verwendet werden – das ist viel weniger als Industrie oder Landwirtschaft verbrauchen.
Im Vergleich hat er damit sicher recht. Aber wenn Nestlé in Ihrer Gemeinde das Wasser abpumpt, wie das in Kanada oft passiert, ist das kein Trost. Nimmt Ihnen jemand Ihr Blut, dann nutzt Ihnen die Tatsache, dass es in der Welt noch viel mehr Blut gibt, auch nichts. Außerdem werden die Zahlen, die Brabeck da nennt, bald veraltet oder sogar irrelevant sein. China ist in den vergangenen Jahren ein Riesenmarkt für Wasser in Flaschen geworden, in immer mehr Ländern entdecken die wohlhabenderen Schichten Flaschenwasser für sich. Und das ist nur ein Teil des Problems. Brabeck ist, unter anderem als Berater der Weltbank, einer von denen, die die Privatisierung von Wasser vorantreiben, zum Beispiel in Staaten wie Nigeria oder Pakistan.
Was stört Sie daran?
"Wasser sollte ein öffentliches Gut sein"
Wasser sollte ein öffentliches Gut sein. Es gehört nicht Peter Brabeck, sondern Ihnen genauso wie mir, es gehört zukünftigen Generationen, anderen Spezies, es gehört der Erde. Wir leben auf einem Planeten, dem das saubere Wasser ausgeht. Früher gab es diesen Mythos, Wasser werde immer im Überfluss vorhanden sein, aber Forscher haben inzwischen gezeigt, dass das nicht stimmt. Bald wird es zehn Milliarden Menschen geben, die immer mehr verbrauchen. Schon im Jahr 2030 soll die Nachfrage nach Wasser das Angebot um 40 Prozent übersteigen, laut einem Papier der Vereinten Nationen wird die Hälfte der Weltbevölkerung dann in Gebieten leben, in denen das Wasser knapp wird.
Brabeck schlägt vor, einen kleinen Teil des Wassers den Armen kostenlos zur Verfügung zu stellen und ansonsten auf die Kräfte des Marktes zu vertrauen.
Ich vergleiche das mit der Krankenversorgung. Wenn die privatisiert wird, unterstützen die Wohlhabenden, die sich eine gute Versicherung leisten können, nicht mehr die medizinische Behandlung anderer. Privatisiert man das Wasser, so fehlt der Antrieb, sauberes und gesundes Wasser für jeden bereitzustellen. Ich habe kein Problem damit, wenn Leute die Produktion meinetwegen von Autos und Laufschuhen privatisieren. Aber warum sollten wir den Zugang zu etwas, das wir alle zum Leben brauchen, in die Hände einiger Reicher geben, warum sollte es erlaubt sein, damit Handel zu treiben? Nein, wir müssen das Wasser schützen und außerdem sicherstellen, dass es gerechter verteilt wird.
Stimmt es, dass Sie jemand von Nestlé verfolgt?
Wann immer ich in Kanada einen Vortrag halte und oft auch in den USA, sitzt einer von denen im Publikum. Aber als Peter Brabeck an der Universität von Alberta in Kanada seinen Ehrendoktor erhielt, haben unsere Aktivisten die Veranstaltung auch gestört.
Wenn jeder Wasser umsonst bekommen kann, wird es dann nicht verschwendet?
Nur das Wasser selbst sollte kostenlos sein, aber Sie zahlen für den Service, dafür, dass das Wasser zu Ihnen geliefert wird. Das muss nicht so billig sein, dass es zu Verschwendung führt. Gleichzeitig sagt die Uno allerdings auch, dass niemandem Wasser vorenthalten werden darf, weil er nicht bezahlen kann. Lassen Sie uns doch lieber auf die wirklichen Verschwender schauen. In Nordamerika ist das Wasser zum Beispiel für Computerunternehmen subventioniert – und die verschmutzen es sogar. In meinem Heimatland, in der Provinz Alberta, zahlen die Ölunternehmen gar nichts für ihr Wasser.
In Berlin wurde die Privatisierung der Wasserbetriebe rückgängig gemacht, was kostspielig war...
... ich weiß, die ganze Geschichte war von Anfang an ein Fehler.
Gleichzeitig hat es in Südeuropa eine Welle von Privatisierungen gegeben. Sind Sie mit Ihrem Kampf gescheitert?
Das war eine Folge der Austeritätspolitik. Mittlerweile schlagen die Leute zurück. In Italien gab es ein Referendum, in dem sich eine Mehrheit gegen die Privatisierung aussprach. In Frankreich haben mehr als 40 Gemeinden, inklusive Paris, die Wasserversorgung wieder kommunalisiert. Und in Griechenland hat der oberste Gerichtshof die laufende Privatisierung von Wasserbetrieben gestoppt. Das sind große Erfolge. Überall merken die Leute: Wo privatisiert wird, gehen die Preise hoch, und der Service wird schlechter. Es ist ein Kampf, der auf der ganzen Welt ausgetragen wird. Aus Lateinamerika haben sich Suez und Veolia...
Das sind die zwei französischen Firmen, die die private Wasserversorgung international dominieren.
... zurückgezogen. Bolivien ist ein anderes Beispiel für Widerstand. Die Weltbank hat von dem Land verlangt, die Wasserversorgung zu privatisieren, nur unter dieser Bedingung gab es finanzielle Unterstützung. Bechtel, ein großes Bauunternehmen aus den USA, übernahm die Versorgung in Cochabamba in Zentralbolivien. Die haben nicht nur die Preise verdreifacht, sie haben sogar Gebühren von den Leuten verlangt, die Regenwasser auffingen. Eine Revolution brach los, die Armee musste einschreiten, Menschen wurden getötet. Eine neue Regierung hat sowohl Bechtel als auch Suez aus dem Land geworfen. Wenn Leute wie Peter Brabeck ihren Willen kriegen, dann werden wir bald Wasserkriege erleben, das garantiere ich Ihnen.
"Hinzukommen Kriege, bei denen Wasser als Waffe eingesetzt wird"
Das klingt alarmistisch. Der ehemalige Uno-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali hat schon Anfang der 90er Jahre baldige Wasserkriege vorausgesagt. Gesehen haben wir noch keine.
Ich glaube, dass Wasser schon jetzt ein zentrales Thema in Konflikten ist, zum Beispiel in Afrika oder in Israel und Palästina. Hinzu kommen Kriege, bei denen Wasser als Waffe eingesetzt wird. Zum Beispiel in Syrien, wo die Regierung den Rebellen die Wasserzufuhr abgestellt hat. In einer Welt, in der der Bedarf an Wasser steigt und das Angebot sinkt, wird so etwas noch häufiger vorkommen. Aber ich behaupte, auch das Gegenteil kann passieren: Die Verständigung über Wasser kann zu mehr Kooperation zwischen Staaten führen.
Laut dem „Institute for Water Education“ der Unesco braucht es mehr als 10 000 Liter Wasser, um ein Kilo Rindfleisch herzustellen. In dieser Zahl ist etwa das Wasser enthalten, das die Kuh, die später das Fleisch liefert, zu sich nimmt. Auch für ein Baumwoll-T-Shirt sind es mehrere tausend Liter.
Das nennt man virtuelles Wasser. Wer eine Menge Lebensmittel oder Produkte importiert, importiert also auch viel Wasser – unter Umständen aus Ländern, in denen dieses Wasser fehlt. Der Bundesstaat Karnataka, der sich selbst das indische Silicon Valley nennt, leidet unter Wassermangel, fördert aber die Exportindustrie. Meine Regierung hat gerade erst ein Handelsabkommen mit China unterzeichnet, und solche Aspekte spielen da gar keine Rolle. Was ist unsere Verantwortung, wenn ich lese, dass 50 Prozent der Flussläufe in China verschwunden sind?
Andererseits hat die wirtschaftliche Entwicklung in China ein paar hundert Millionen Menschen aus der Armut befreit.
Und vielleicht in eine neue Form der Armut gebracht – zumindest diejenigen, die neben einem dieser versiegten Flüsse leben. Ein ökonomisches Modell, das auf der Zerstörung der Umwelt basiert, ist nicht nachhaltig.
Sie wollen, dass wir alle unser Leben ändern?
Ist es wirklich nötig, dass wir in Kanada Erdbeeren im Januar kaufen können? Ich bin nicht gegen den Markt, wohl aber gegen die Exzesse: gegen die Freihandelsabkommen, mit denen multinationale Konzerne Regierungen erpressen können, und gegen eine Steuerpolitik, die den Reichen so viel Macht gibt. Ich glaube nicht, dass man individuell etwas verändern kann, es braucht die Regierung, es braucht Gesetze.
Ihr Heimatland hat in Europa ein gutes Image...
Ich frage mich, warum.
Es gilt als friedlicher, sozialer und ökologisch bewusster als Ihr Nachbar, die USA.
Unter der derzeitigen Regierung von Stephen Harper wurden sämtliche ökologischen Schutzmaßnahmen für Wasser abgeschafft. Alles im Dienste der Ölindustrie. Und jetzt soll, wie Sie wissen, Kanada Russland als Europas Energielieferant ablösen, diesem Ziel wird alles untergeordnet. Wir sind sehr wütend und werden Harper 2015 abwählen, glauben Sie mir.
Mrs. Barlow, selbst wenn Sie sich aufregen, wirken Sie so entspannt.
Zorn ist Verschwendung. Wenn ich Vorträge halte, fragen mich die Leute immer, wie ich mit meiner Wut umgehe. Ich antworte dann: Ich komme hierher und mache Sie wütend, das gibt mir ein gutes Gefühl. Wenn man das Glück hatte, in Kanada oder Deutschland in ein komfortables Leben hineingeboren worden zu sein, hat man die Pflicht, etwas zurückzugeben. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Er hat damals in Kanada den Protest gegen die Todesstrafe angeführt. Er war ein Kreuzzügler. Als in Toronto 1960 das letzte Mal Menschen gehenkt wurden, demonstrierte er mit einem Schild vor dem Gefängnis.
Sie haben mal gesagt, Sie hätten schon auf allen fünf Kontinenten Tränengas abbekommen. Wo war es am schlimmsten?
In Hongkong war es schlimm. Da war ich für Tage krank, irgendwas war da drin. Ich bin für gewaltfreien Widerstand. Nach dem 11. September 2001 waren viele Protestbewegungen entmutigt. Man hatte Angst, als Terrorist zu gelten. Ich habe das Gefühl, dass sich in Europa im Moment mit dem Widerstand gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP wieder etwas bewegt.
Geht die Polizei auf Demos heute anders mit Ihnen um als vor 30 Jahren?
Tränengas macht keine Unterschiede. Aber Sie haben sicher recht: Es ist von Vorteil, wenn man älter ist und eine Frau. Es gibt da eine wirklich süße Geschichte. Neulich haben wir vor dem Parlament in Ottawa protestiert, und ich war eine der Ersten, die über die Absperrung geklettert sind. Ein Polizist, ein großer Kerl, kam auf mich zu und sagte: Mam, könnten Sie bitte wieder über den Zaun klettern? Und ich: Es tut mir wirklich leid, aber nein, das kann ich nicht. Er hat es noch dreimal versucht, und dann sagte er: Wenn ich meiner Frau heute Abend erzähle, dass ich Maude Barlow verhaftet habe, wird sie mich umbringen. Ich habe ihm gesagt: Erklären Sie ihr, es war alles meine Schuld.
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