Ein Partnerbörsen-Abzocker packt aus: Ich war zwölf Frauen
Die große Liebe suchen viele im Internet. Stundenlang chatten Männer mit Frauen in der Hoffnung auf eine reale Begegnung – und ahnen nicht, dass sie dabei nur ihr Geld verlieren. Hier erklärt ein Abzocker die Methode.
Meinen echten Namen darf ich nicht nennen, denn vor Beginn meiner Arbeit musste ich ein Non-Disclosure-Agreement unterschreiben, eine Geheimhaltungsvereinbarung. Wenn ich Interna preisgebe, muss ich 10 000 Euro zahlen.
Die Internetseite, für die ich gearbeitet habe, ist offiziell eine „Kennenlernplattform“. Männer und Frauen können sich dort anmelden und miteinander chatten, bei wechselseitigem Gefallen können sie sich zu einem Treffen in der realen Welt verabreden. 800 Frauen sind aktuell auf dieser Seite unterwegs.
Das Problem: Keine von denen existiert wirklich. Hinter jeder Frau verbirgt sich ein sogenannter IKM- Schreiber. Die Abkürzung steht für „Internet-Kontaktmarkt“. Sollte sich doch mal eine echte Frau auf der Plattform verirren und versuchen, sich anzumelden, wird ihr so lange ein technisches Problem vorgegaukelt, bis sie aufgibt.
Die Frauen, die wir IKM-Schreiber vorgaben zu sein, hatten jeweils einen Namen, eine Biografie und mehrere Fotos, die wir uns aus dem Internet zusammengeklaut hatten. Klischeenamen wie „HeißeBiene123“ mochte ich nicht, ich nannte meine Frauen schlicht Barbara, Tanja, Sarah, Michaela.
Vier Monate habe ich das gemacht, dann wurden meine Skrupel doch zu groß. Weil es ja nur darum ging, Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die zahlen pro Minute, in denen sie online sind. 30 Minuten kosten 60 Euro, wer ein größeres Zeitpaket kauft, erhält Rabatt.
Natürlich durfte ich unmöglich je einem Treffen oder auch nur einem Telefonat zustimmen. Genau das ist die größte Herausforderung jedes IKM-Schreibers: Männern die Hoffnung zu geben, bei uns könnten sie echte Beziehungen oder Affären finden, und sie gleichzeitig auf Abstand zu halten, ohne sie zu frustrieren.
Schweizer am zurückhaltendsten
Wir hatten Kunden aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, und ich muss sagen: Die Schweizer waren eindeutig die nettesten, stets zurückhaltend. Von den Deutschen und Österreichern kann ich das nicht behaupten, die wurden im Chat rasch aufdringlich, breiteten erotische Fantasien aus, verrieten mir ihre Sexvorlieben. Also nicht mir persönlich, sondern meinen fiktiven Frauen.
Wir hatten die Anweisung, Sexchats konsequent zu unterbinden. Nicht weil die Chefs uns Mitarbeitern den Schweinkram ersparen wollten.
Nein, es geht um etwas ganz anderes: Wenn sich ein Kunde in seine Sexfantasie reinsteigert und während des Chattens onaniert, hat er früher oder später einen Orgasmus. Dann ist sein Bedürfnis befriedigt, er wird höchstwahrscheinlich offline gehen und bringt kein Geld mehr ein.
Irgendwie auch Seelsorge
Was wir da gemacht haben, ist Abzocke, klar. Doch ich behaupte: nur zu 95 Prozent. Zu fünf Prozent ist es auch eine Dienstleistung. Ich habe in meinen Chats teilweise Seelsorge geleistet, wir hatten zum Beispiel einen Mann, der sich gerade von seiner Frau getrennt hatte und jetzt seine Tochter nicht mehr sehen durfte.
Dessen Kummer habe ich mir vier Mal die Woche angehört, ihn auch ernst genommen und getröstet. Das ist dann schon eine gewisse Hilfe, glaube ich.
Davon abgesehen handelt es sich bei den meisten Kunden um verheiratete Typen, die ihre Ehefrauen betrügen wollen. Die sind moralisch also auch nicht sauber, das half mir, eigene Bedenken kleinzuhalten.
Anfangs fand ich den Job sogar witzig. Wie naiv muss denn einer sein, im Internet Geld dafür zu bezahlen, fremden Frauen zu schreiben, die er nie kennenlernt – und trotzdem monatelang auf der Plattform auszuharren? Es scheint immer noch eine große Anzahl von Menschen zu geben, die sich mit dem Netz derart wenig auskennen, dass sie so etwas für normal halten.
Nach 20 Sekunden der nächste Kunde
Unter meinen Kunden waren Manager, Juristen, Ärzte, Verbandsvorsitzende. Jedenfalls gaben sie sich als solche aus. Manchmal habe ich mit mehr als zehn Männern simultan kommuniziert, das heißt, mir blieben höchstens 20 Sekunden, um einem Kunden zu antworten, dann war schon der nächste dran.
Dabei half uns die Software. Sobald ich eine Nachricht geschrieben hatte und Enter drückte, sprang das Chatfenster meines Programms zum nächsten Kunden – also demjenigen, der zu diesem Zeitpunkt am längsten gewartet hatte.
Damit ich nicht durcheinandergeriet, zeigte mir das Fenster jeweils das komplette Gespräch an, das ich an diesem Tag mit der jeweiligen Person geführt hatte.
Mithilfe des Programms sah ich auch, welche Erfahrungen meine Kollegen mit dem speziellen Kunden bereits gemacht hatten. Die entsprechende Liste wurde laufend erweitert.
Wenn mir also ein Kunde erzählte, er fahre nächste Woche nach Spanien in Urlaub, dann trug ich das ein, und alle anderen Mitarbeiter wussten ab sofort, wie sie ihn in Gespräche verwickeln konnten: indem sie zum Beispiel beiläufig erwähnten, dass sie dringend mal wieder Urlaub im Süden bräuchten.
Da hatte der Kunde gleich wieder was zu erzählen – und blieb online. Oder wenn jemand einen bestimmten Fetisch hatte, falls er sich zum Beispiel danach sehnte, verhauen zu werden, dann trugen wir auch das ein. Und schwupps lernte der Kunde in den folgenden Tagen auffällig viele Frauen kennen, die alle von sich behaupteten, gerne Männer zu schlagen.
Schulungen, Regeln und falsche Fotos
Den meisten Betrieb hatten wir zwischen 18 und 22 Uhr. Das wurde schnell nervig, weil es mich sozial einschränkte. Zum Beispiel war ich über Weihnachten mal mit meinen Eltern verreist, und wenn die abends zusammengegessen haben, saß ich am Nebentisch und musste chatten.
Zu Hause habe ich häufig im Bett gearbeitet, bequem im Pyjama, nebenher gegessen. Klingt erst mal lässig, aber im Grunde war die Arbeit ungemein stressig. Man darf ja auch nicht zwischendurch unterbrechen, um auf Toilette zu gehen. Die Kunden haben eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, die könnten abspringen. Deshalb habe ich den Laptop immer mit aufs Klo genommen.
Schichtdienst für die Liebe
Wir haben in Schichten gearbeitet, und die haben sich jeweils – ganz wichtig – um eine halbe Stunde überlappt. Wenn ich die Abendschicht und damit um 22 Uhr Schluss hatte, begann die Nachtschicht schon um 21.30 Uhr.
Die schrieb mit ihren Fake-Charakteren alle meine aktuellen Kunden an, versuchte, sie in Gespräche zu verwickeln. Sobald das gut lief, schrieb mir die Ablösung eine Nachricht, dass ich mich jetzt zurückziehen könne.
Für die Verabschiedung galt die Anweisung, bloß nicht über Müdigkeit oder übers Schlafengehen zu sprechen, weil die Kunden dann womöglich realisiert hätten, wie spät es schon ist.
Stattdessen benutzten wir Ausreden wie „Ich geh kurz mit dem Hund raus“ oder „Eine Freundin ruft grad an, muss unterbrechen“. Sodass die Kunden das Gefühl hatten, wir wollten gleich zurückkehren.
Nicht mehr als acht Stunden
Wir konnten auch sehen, wie lange ein Kunde bereits online war. Und es gab die Anweisung, nicht zu übertreiben. Nach acht Stunden sollten wir den armen Mann verschonen und gehen lassen. Was wiederum einen rein ökonomischen Hintergrund hatte: Wir wollten, dass die Person am nächsten Tag wiederkommt, sie durfte also nicht allzu frustriert sein.
Die ganzen Regeln und Strategien habe ich zu Beginn bei einer Schulung gelernt, wobei ich meinen Arbeitgeber nie persönlich kennengelernt habe, die ganze Kommunikation lief übers Internet. Eine Freundin, die auch dort arbeitete, hatte mir den Kontakt vermittelt.
Ich bekam bloß eine Postadresse, an die ich meine Rechnungen schicken sollte. IKM-Schreiber sind Freiberufler, jeder muss ein eigenes Gewerbe anmelden. Verdient habe ich zwischen acht und 20 Euro pro Stunde, das schwankte je nach dem Umsatz der Seite. 60 Prozent gehen an den Betreiber, die restlichen 40 Prozent werden unter den Mitarbeitern aufgeteilt.
Eine halbe Stunde zum Anfixen
Es gibt auch eine Hierarchie unter den Kollegen. Zum Beispiel braucht es einen erfahrenen Spezialisten für den Erstkontakt, denn die ersten 30 Minuten hat der Kunde umsonst, erst danach muss er sich anmelden und blechen. Also ist es wichtig, dass der Kunde in dieser halben Stunde angefixt wird. Ich habe zwei Monate gebraucht, bis ich zum ersten Mal den Erstkontakt übernehmen durfte.
Wer als IKM-Schreiber anfängt, bekommt von den Kollegen eine Handvoll bereits existierender Identitäten geschenkt. Im Laufe der Zeit bastelt man sich dann weitere Profile zurecht.
In meinen vier Monaten waren das mindestens zwölf Stück, was ganz schön aufwendig ist. Allein die Bildersuche: Pro Profil benötigte ich mehrere Fotos, nämlich eines als Profilbild, das muss jugendfrei sein, ist gesetzlich so festgelegt.
Die anderen können ruhig einen erotischen Touch haben, die behalte ich in der Hinterhand und verschicke sie im Laufe eines Gesprächs, wenn mich der Mann darum bittet. Als gute Quelle für Fotos haben sich Amateurporno-Seiten erwiesen, zum Teil auch solche, auf denen Männer Nacktfotos ihrer Exfreundinnen hochladen, um sie bloßzustellen. Je amateurhafter die Aufnahme und je mieser die Beleuchtung, desto überzeugender.
Das falsche Foto hochgeladen
Einmal war ich leichtsinnig und habe Bilder einer Dame verwendet, die wohl ein großer Star in der weltweiten Amateurpornoszene ist – so eine mit riesigem chinesischen Tattoo auf dem Rücken, eigentlich unverwechselbar. Tatsächlich hat mich ein Kunde darauf angesprochen. Der hat aber nur gesagt: „Wow, du siehst der Dings echt ähnlich. Bist du mit der verwandt?“
Klar unterlaufen einem Fehler. Gelegentlich habe ich Kerle mit falschem Namen angesprochen, dann kam gleich: „Ach, schreibst du etwa noch anderen Männern?“ Ich habe mich immer entschuldigt und betont, es sei nichts Ernstes. In meinem Programm konnte ich sehen, dass der Kunde selbst gleichzeitig mit vier oder fünf anderen Frauen chattete.
Einige Männer, die schon länger auf der Seite unterwegs sind, haben sich auf ihrem Computer ein Word-Dokument mit Textbausteinen angelegt, die sie nur kopieren müssen. Das weiß ich, weil ich mit manchen Kunden im Laufe der Zeit unter verschiedenen Identitäten kommuniziert habe, und die haben immerzu die gleichen Formulierungen benutzt.
Eine verheiratete Frau ist die beste Tarnung
Um das Risiko eigener Patzer gering zu halten, sollte man sich auf fünf Frauen beschränken, die man zur selben Zeit spielt. Bei mir war das immer ein ausgewogenes Spektrum: eine ganz junge Frau, so Anfang 20, Studentin. Dann eine Anfang 30, die schon einen Job hat, aber noch keine Kinder. Dazu noch zwei verheiratete Frauen zwischen 40 und 50 und eine ältere über 60.
Am leichtesten ist es, in die Rolle einer verheirateten Frau mit Kind und am besten noch einem Hund zu schlüpfen, da hat man genug plausible Ausreden, warum es in den nächsten Tagen schon wieder nicht klappt mit einem Date im realen Leben.
Leider sind manche Kunden extrem hartnäckig, wollen sich unbedingt verabreden. Die schicken einem Links von Hotelzimmern, die sie buchen wollen. Oder schlagen vor, sich an der nächstgelegenen Autobahnraststätte zu treffen.
Ein klares Nein sollte man vermeiden, sonst verliert der Kunde das Interesse. Besser, man spielt die schüchterne Prinzessin: „Hey, das geht mir jetzt zu schnell, wir kennen uns doch gar nicht, ich will mir erst sicher sein.“ Ganz zur Not bekommt man plötzlich die Grippe.
Protokolliert von Sebastian Leber.
Michelle Apate
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