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Joel Simkhai hat ein Erfolgsmodell für das schnelle Kennenlernen kreiert.
© Promo

Dating Trend: Das Prinzip der Nähe

Vor fünf Jahren wurde in den USA das Dating revolutioniert. Joel Simkhai entwickelte „Grindr“, eine App für Smartphones. Wer ist gerade um die Ecke und will sich treffen? Ein Besuch in L. A.

Wenn Joel Simkhai in sein Büro geht, verkauft er Sex. Oder wie er es sagt: Er bringt Menschen zusammen. Indem er ihnen Bezahlabos oder Werbung anbietet. Für Grindr. Kennen Sie nicht? Dann sind Sie nicht schwul. Trotzdem beeinflusst die Firma – der Name steht für eine Smartphone-Applikation – Ihre Lebenswelt oder die Ihrer Kinder und Enkel. In den vergangenen fünf Jahren hat sich das Dating dank Grindr verändert. Menschen treffen sich nicht mehr nur in Cafés, Bars oder auf Kreuzfahrtschiffen, suchen nicht nur im Internet nach Partnern, plötzlich orten sie andere Singles mit dem Smartphone.

Schwule hat Joel Simkhai über Grindr zusammengebracht, meist für Sex. Heterosexuelle machen es ihnen nun mit der App Tinder nach. Halb Amerika und Deutschland reden darüber. Hast du schon? Willst du mal? Der US-Talkmaster Conan O’Brien hat im Juli für seine Show vor laufender Kamera Tinder ausprobiert. Es führte zwar nicht zu einem Date, aber spätestens seitdem kennt die Welt App-Dating. „Das ist ein bisschen wie Grindr“, erklärte er seinen Zuschauern, als wenn jeder wüsste, wie das auf Grindr so läuft.

Das Prinzip ist einfach: App öffnen, Fotos von Fremden anschauen, Kurznachrichten an sie schreiben, Treffen vereinbaren. LTR? NSA? DTF? Das sind keine Geheimdienste, sondern eingeführte Dating-Abkürzungen: Long Term Relationship (feste Beziehung), No Strings Attached (ohne weitere Verpflichtungen), Down To Fuck (äh, Sex?).

Erfunden hat diese Art des Aufeinandertreffens Joel Simkhai. Der US-Amerikaner mit israelischen Wurzeln hat vor fünf Jahren die erste Dating-App erdacht, die auf GPS-Daten basiert. Sie sortiert mögliche Partner nicht nach gemeinsamen Interessen, wie es Partnerbörsen tun, sondern geht danach, wer sich gerade in der Nähe befindet. Eine simple Idee, einfach zu schauen, wer um die Ecke verfügbar ist: 120 Meter entfernt? Gut. 1,2 Kilometer? Ach nee, zu weit.

Sunset Boulevard, Los Angeles. In einem viergeschossigen Glasbau, an den Seiten rot angestrichen, sitzt Grindr. Links eine Baumschule, rechts ein Bio-Café, gegenüber ein Hotel, das so heruntergekommen aussieht, dass es auch Kulisse für einen Horrorfilm sein könnte. Hinter der Eingangstür des Großraumbüros, Erdgeschoss, Office 101, schmiegen sich ein Dutzend Bücher aneinander. Es sind Klassiker der Schwulenliteratur, „Geschlossener Kreis“ von Gore Vidal, „Ein einzelner Mann“ von Christopher Isherwood. Knapp 30 Angestellte sitzen an Computern oder tagen in Konferenzräumen, die Castro oder West End heißen – Anspielungen auf Homo-Viertel rund um die Welt. Der Gründer sitzt normalerweise in einem verglasten Büro rechts vom Mini-Regal. Über seinem Büro steht „0 feet away“ – eine Referenz an das Prinzip der Nähe, auf das Grindr seinen Erfolg gründet.

Tatsächlich ist Joel Simkhai gerade tausende Kilometer entfernt. Der 37-Jährige ist zu einem Geschäftstermin nach London verreist. Per Skype ruft er dann an. Das Internet funktioniert bei ihm gerade schlecht, ein wenig irritierend für eine Firma, die auf drahtlose Verbindungen angewiesen ist. Das Bild ist eingefroren, dann ist Joel Simkhai mal nicht zu hören, vielleicht sieht der Grindr-Gründer deshalb leicht unentspannt aus. Kurze schwarze Haare, große Augen, ein gehetzter Blick.

„Ich habe mich immer gefragt, wer in meiner Umgebung so ist wie ich“, erklärt Joel Simkhai seinen Impuls, warum er sich Grindr ausgedacht hat. „Wer in meinem Umkreis ist schwul? Wer hat Lust, sich mit einem Mann zu treffen?“ Zehn Meter hinter der Bürowand könnte ein Kerl hocken, Joel Simkhai würde ihn nicht sehen, dank Grindr kann er ihn nun orten. Wie auf einem Präsentierteller zeigt ihm die App jene Männer, die sich in unmittelbarer Nähe des Benutzers befinden.

Die klassische Idee von „Junge trifft Junge in einer Bar“ hat Simkhai nie gelebt. Als Teenager in einer Kleinstadt im Bundesstaat New York hat er ein paar Freundinnen, so richtig funkt es nicht. Er bemerkt, dass er anders ist. Zu seinem Glück erobert in den späten 90er Jahren gerade eine neue Erfindung die privaten Haushalte: das Internet. Mit 18 Jahren loggt er sich zum ersten Mal in einen schwulen Chatroom bei AOL Online ein, legt sich einen Alias-Namen zu, Dolceguy76 („weil ich im Jahr davor in Italien war“), und lernt Schwule kennen. Ein Spaziergang, ein Kaffee, Sex, alles ist möglich. „Diese Anonymität hat mir gefallen“, sagt Joel Simkhai.

Das Phänomen ist kein schwules. Auch heterosexuelle Menschen beginnen, sich über Chatrooms zu verabreden. Die Hollywood-Romanze „E-Mail für dich“ setzt dem 1998 filmisch ein Denkmal. Meg Ryan und Tom Hanks finden per virtuellen Flirt zusammen, so wie Joel Simkhai seine ersten Freunde online kennengelernt hat. „Was mich immer frustriert hat: Bei den Onlinediensten spielte nie eine Rolle, wo sich jemand befand.“ Da passiert es, dass er sich mit einem Mann gut versteht – und erst bei Frage 16 feststellt, dass dieser 600 Kilometer weit weg lebt.

In den nuller Jahren tauchen erste Onlineplattformen auf, die schon nach Städten geordnet sind. Es ist nun möglich, Fotos hochzuladen, mit der technischen Qualität steigen aber die persönlichen Ansprüche (eine Nachricht könnte so lauten: „Bist du zwischen 1,80 Meter und 1,85 Meter, gut trainiert, blond und keine Nervensäge?“). Der Computer wird zum Vermittler. Menschen mit Internetanschluss, so stellt eine Studie der Stanford University 2012 fest, haben eine größere Wahrscheinlichkeit, einen Partner zu finden, als Menschen ohne.

Joel Simkhai arbeitet inzwischen bei einer New Yorker Firma, die im Netz Magazin-Abonnements verkauft. Er lebt online, arbeitet online, aber auf der Straße ist er offline. Das ändert sich im Juli 2008 mit dem iPhone 3G – dem ersten Smartphone, das GPS-Daten verwendet und Apps von Dritten anbietet. Joel Simkhai denkt über seinen Traum nach, investiert 5000 US-Dollar, beauftragt Programmierer und entwickelt Grindr als Gratis-App. Im März 2009 kommt sie auf den Markt – nun aus Los Angeles.

Aus einem Mann sind nun fünf Millionen Nutzer pro Monat weltweit geworden. Nur auf den Südseeinseln Nauru und Tuvalu hat niemand Grindr-Profile, in 192 anderen Staaten plaudern Männer miteinander, sogar wo Homosexualität verboten ist wie in Uganda, Sri Lanka oder den Emiraten. 177 000 Männer sind in Deutschland angemeldet, 58 000 davon in Berlin. Die meisten Nutzer hat Grindr in London, beinahe 264 000 Männer sind dort aktiv. In Brasilien hat sich während der Fußball-Weltmeisterschaft die Nutzerzahl um 31 Prozent erhöht. Wohl nicht, weil man nur Ergebnisvorhersagen austauschte. Die „Vanity Fair“ schreibt über das Phänomen: „Willkommen in der größten und furchterregendsten Schwulenbar der Welt“.

Das „Kompliment“ hat Simkhai schon oft gehört. Auf Grindr ein Foto zu posten, bedeutet, sich ohne T-Shirt und natürlich mit einem Tipptopp-Oberkörper abzubilden, der Kopf ist optional zu sehen. Es ist das kapitalistische Schaufensterprinzip auf Dating angewendet: Wir tragen unsere Haut zu Markte. „Kritiker werfen uns vor, Menschen auf körperliche Attribute zu reduzieren“, sagt Simkhai. „Ich habe kein Problem damit. Wir sind visuelle Wesen, Männer mehr als Frauen. Wir fällen Entscheidungen, ob wir jemanden attraktiv finden, doch danach, ob er oder sie uns körperlich anspricht. Niemand denkt: Oh, was dieser Kerl wohl für einen tollen Beruf hat! Nein, die erste Reaktion ist, Mensch, sieht der gut aus.“

Joel Simkhai hat seine App ständig offen. Erhält er eine Nachricht, brummt sein Smartphone kurz. Auf dem Profil steht 1,68 Meter, 68 Kilo, weiß. Ob er in einer Beziehung ist? Will er nicht preisgeben. Warum er nichts über sich hineinschreibt? „Was hat da ein Text zu suchen?“ Der Mann ist ein visuelles Wesen.

Lange war das zwanglose Treffen per Smartphone ein Vorrecht der Schwulen. Die haben mit Scruff (für bärtige Kerle) oder Mister (für Ältere) sogar Apps entwickelt, die auf Untergruppen spezialisiert sind. Heterosexuelle sahen angewidert oder neidisch zu. Bis Tinder 2012 gegründet wurde. Hier finden Frauen und Männer zusammen – allerdings weniger direkt. Auf Grindr können Benutzer jeden anderen anschreiben, bei Tinder muss der potenzielle Partner erst einmal zustimmen, damit er Nachrichten bekommen kann. Bei Grindr werden Millionen Fotos in privaten Chats hin- und hergeschickt, ein Nacktbild gehört zum Standard. Tinder ermöglicht es (noch) nicht, Fotos in die Nachrichten zu integrieren. Ein bisschen Romantik soll das erste Date wohl doch noch haben. „Zu langsam“, findet Joel Simkhai. Dass Nachrichten manchmal erst Tage später beantwortet werden, sei Männern nicht schnell genug, glaubt er. „Die wollen das in Echtzeit.“ DTF, NSA, jetzt, hier. Sex. Eben: „Menschen miteinander verbinden.“

Die Liebe kann aus drei Buchstaben erwachsen. Etliche Paare lernen sich über Grindr oder Tinder kennen, vielleicht nur schneller und direkter. Es gibt weniger Blumensträuße am Anfang und mehr Checklisten („Größe? Alter? Haarfarbe?“). Es gibt plötzlich mehr Möglichkeiten – und mehr Verantwortung. Seinen Partner zu betrügen, war nie einfacher. „Das ist nicht die Schuld der Technologie“, sagt Joel Simkhai, „sondern der der Menschen, und wie sie diese Technik benutzen.“ Ist jemand in der Nähe, mit dem man darüber reden kann?

Ulf Lippitz

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