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Der Rebell. Als Kind übt Carlos Acosta Breakdance in den Straßen von Havanna. Doch sein Vater zwingt ihn zum Ballett.
© Sven Darmer

Ballettikone Carlos Acosta: „Ich schluckte Tausende Pillen“

Er tanzte als erster Schwarzer den Romeo: Spitzentänzer Carlos Acosta über Armut auf Kuba und das eigene Kaninchen zum Abendbrot. Ein Interview.

Herr Acosta, Sie waren einer der besten Balletttänzer der Welt. Eine andere Sportart beherrschen Sie gar nicht: Skifahren.

Ja, weil ich meine Füße nicht mehr gerade nach vorne ausrichten kann. Nach jahrelangem Balletttraining ist es meine natürliche Haltung, sie zu spreizen. Wenn ich laufe, sehe ich aus wie eine Ente. Mit Skiern würde ich fallen.

Sie begannen mit dem Ballett als Kind, vor zwei Jahren beendeten Sie Ihre Karriere, mit 43. Wie geht es Ihrem Körper?

Großartig, wenn man an die Bestrafungen denkt, die ich ihm während meiner Karriere zugefügt habe. Ich hatte fünf Operationen allein an einem Knöchel. Dort machte ein kleines Stück Knochen immer wieder Ärger, es musste aufwendig entfernt werden.

Ihre Karriere begann schon mit Schmerzen. Die Lehrerin nahm Ihr Bein und zog es in einer geraden Linie nach oben. Nicht sehr freundlich!

Ja, das tat weh. Der Körper ist das Instrument der Tänzer, das wollte sie wohl zeigen. Wir müssen zu 100 Prozent fit sein, aber manchmal hat man eben Kopfschmerzen, fühlt sich schlapp. Darum kümmern wir uns sehr um unseren Körper.

Und wenn es einem doch schlecht geht?

Dann knipsen wir den Schalter an, der uns in den Wettkampfmodus versetzt.

Sie haben nie Schmerzmittel genommen?

Ich habe Hunderte Pillen geschluckt, vielleicht Tausende, es war eine lange Karriere. Schmerzmittel sind schrecklich für den Körper, die Leber, das ist kein Geheimnis. Aber wenn Sie sich kurz vor dem Wettkampf in einer Krise befinden, können Sie nichts anderes tun. Sie müssen den Schmerz blockieren, um befreit tanzen zu können.

Ihre Karriere gilt als Märchen: vom armen Jungen zum Prinzen. Sie sind in Kuba geboren, waren bitterarm, hatten kein fließendes Wasser. Heute werden Sie mit Rudolf Nurejew und Mikhail Baryshnikov verglichen. Fühlt sich Ihr Leben märchenhaft an?

Ich muss mich immer noch kneifen. Alles sprach für mein Scheitern, ich wünschte ja selbst, dass es schiefgeht. Das Schicksal wollte es anders.

Vor allem Ihr Vater wollte es anders. Er war Lastwagenfahrer. Wie kam er auf die Idee, dass sein Sohn Ballett tanzen soll?

Es ging ihm darum, dass ich nicht auch Lastwagen fahren muss. Ich sollte es besser haben. In den 80er Jahren war ich begeisterter Breakdancer, tanzte draußen in den Straßen von Havanna. Eines Tages sah er mich, packte mich am Ohr und sagte: Du tanzt also gern? Unsere Nachbarin hatte ihm von einer Ballettschule im Zentrum erzählt. Dort gäbe es auch umsonst zu essen. Mein Vater dachte sich wohl, prima, das hält ihn weg von der Straße.

Im Film über Ihr Leben, der gerade ins Kino kommt, wird noch eine zweite Geschichte erzählt.

Ja, die stimmt auch. Als junger Mann schlich sich mein Vater einmal in ein Kino für Weiße. Er sah dort einen Stummfilm mit Tänzern im Tutu, japanische Regenschirme, so sagte er dazu. Er war fasziniert, liebte die Musik – da wurde er rausgeschmissen. Fortan träumte er vom Ballett. Und jetzt, da sich mir, seinem jüngsten Sohn, diese Tür öffnete, wollte er, dass ich die Gelegenheit nutzte. Das ist das Schöne an meiner Geschichte: dass ein Lkw-Fahrer diese Vision hatte, aus seinem Sohn einen Balletttänzer zu machen.

Eine Vision, die Sie aus vollem Herzen ablehnten.

Ich wollte Fußballer werden. Mein Vorbild war Pelé.

Sie schwänzten die Ballettschule und kickten lieber. Ihr Vater prügelte Sie dafür fast zu Tode.

Ich schulde ihm alles. Er wusste nicht, wie er mich anders als durch Schläge Disziplin lehren sollte. Seine Mutter war sehr brutal zu ihm gewesen, und er gab es an mich weiter.

Vergeben Sie ihm?

Da ist nichts, was ich ihm vergeben müsste.

Er hat Sie verprügelt!

Seine Schläge waren Ausdruck seiner Frustration. Ich war dabei, mein Leben zu verschwenden. Rebellierte. Aber stellen Sie sich vor, ich hätte es so gemacht, wie ich das damals wollte. Wo wäre ich heute?

Was denken Sie?

Nicht hier mit Ihnen.

„Ballett war meine Erlösung“

Hoch hinaus. 2015 feierte Acosta sein 26-jähriges Bühnenjubiläum im London Coliseum.
Hoch hinaus. 2015 feierte Acosta sein 26-jähriges Bühnenjubiläum im London Coliseum.
© imago/Zuma Press

Nachdem Sie sich so lange und so heftig dagegen gewehrt haben, Ballett zu lernen – wann fingen Sie an, es zu mögen?

Als ich das erste Mal das Nationalballett von Kuba sah. Da war ich 13. Ich erinnere mich vor allem an einen Tänzer, der die Frauen mit einer Hand hochheben konnte. Ich dachte: Wow, wie cool ist das denn! Ich wollte die Muskeln haben, das Athletische, diese Mühelosigkeit. Außerdem war am Internat ein Lehrer, der Choreografien nur für mich entwickelte. Ich bekam bei Aufführungen plötzlich die Hauptrolle. Wenn Leute dir sagen, dass du etwas kannst, beginnst du das selbst zu glauben.

Was war es, was Sie konnten und die anderen nicht?

Wenn mich jemand anwies: Streck dein Bein!, hab ich es nicht mehr vergessen. Ich konnte alles direkt umsetzen. Außerdem war ich sehr athletisch, konnte springen und hatte einen starken Körper, meine Oberschenkel waren kräftig. Das hat mir schon früh erlaubt, Schritte zu tanzen, die sonst nur Profis beherrschten. Außerdem hatte ich Spaß. Das sieht man in dem Film, als ich 16 war …

… da durften Sie Kuba verlassen und an einem Wettbewerb in Lausanne teilnehmen, der Ihnen den internationalen Durchbruch bescherte.

Sie können da mein Lächeln beobachten. Die Technik, das ist die Pflicht. Das Extra, die Kür, das konnte ich besonders gut. Ich war glücklich auf der Bühne, das sah jeder.

Sie berichten von Ihrem Lachen, Ihrem Glück. Dabei haben Sie in Kuba gelernt, dass das Leben selten schön ist. Ihr Vater verbrachte zwei Jahre im Gefängnis, Ihre Schwester war schizophren, zu essen hatten Sie wenig. Erinnern Sie, wie sich Hunger anfühlt?

Er war selten von Dauer. Die Revolution bot allen ein Sicherheitsnetz, wir bekamen Reis, schwarze Bohnen und Gurken. Und wenn es mal nichts gab, halfen die Nachbarn aus mit einem Ei.

Einmal kamen Sie nach Hause und rochen Fleisch.

Das waren meine Kaninchen. Meine Mutter hatte sie gebraten und zwang mich, sie zu essen. Sie waren köstlich, aber es tat ungeheuer weh.

In einem Interview sagten Sie mal: „Leben bedeutet Schmerz.“ Wie haben Sie Ihre Kindheit ausgehalten?

Ballett war meine Erlösung. Mein Leben hatte plötzlich einen Sinn. Als ich merkte, dass mir die Leute applaudierten, wurde ich süchtig. Ich erkannte, dass ich mein Talent einsetzen kann, um mein Leben drastisch zu verbessern. Hindernisse können auch Ansporn sein, in Lösungen zu denken.

Mit 18 wurden Sie Tänzer am English National Ballet in London. Wie haben Sie sich denn da ernährt?

Fleisch, Pasta, viel Gemüse.

Primaballerinas am Bolschoi gelten ab 45 Kilogramm als schwer vermittelbar.

Die Tänzerinnen müssen leicht sein, damit wir Männer sie hochheben können. Leider ist das ein großer Kampf für die Frauen. Einige werden krank, es gibt Fälle von Bulimie. Von meinen Partnerinnen war aber keine betroffen.

Hatten Sie nie Lust, Big Macs zu verspeisen?

Doch, gerade in den ersten Jahren, als ich Kuba verlassen durfte. Ich verschlang Pancakes und Waffles in den USA, in Italien die ganze Palette: Pizza, Pasta, Parmaschinken, Croissants. Ich habe so viele Kalorien verbrannt, konnte alles essen. Heute ernähre ich mich vor allem pflanzlich. Meine Frau lebt vegetarisch. Ich versuche, mitzuziehen. Nur wenn ich viel tanze, brauche ich Fleisch, sonst nehme ich zu stark ab.

Verraten Sie uns ein paar Ballett-Tricks! Sie drehen sich unentwegt im Kreis. Wie schaffen Sie es, dass Ihnen nicht schwindlig wird?

Man muss nach jeder Drehung einen einzigen Punkt fixieren. Wenn du alles um dich herum wahrnimmst, wird dir schwindlig.

Die Drehung auf einem Bein, die Fouetté, gilt als die schwerste Ballettbewegung. Im dritten Akt von „Schwanensee“ führt Antiheldin Odile sie 32-mal hintereinander aus. Woher weiß die Tänzerin, dass sie bei 32 ist?

Wiederholen, wiederholen, wiederholen, dann entwickelt man das, was wir Muskelgedächtnis nennen. Der Körper macht automatisch das Richtige. Man lernt, die Bewegung mit der Musik zu verschmelzen. Die Melodie sagt, was wir tun müssen – und der Körper folgt automatisch.

„Ich persönlich habe keinen Rassismus erlebt“

Nach seinem Abschied vom Londoner Royal Ballet gründete Acosta in Havanna sein eigenes Ensemble.
Nach seinem Abschied vom Londoner Royal Ballet gründete Acosta in Havanna sein eigenes Ensemble.
© imago/itar-tass

Sie waren der erste schwarze Romeo. Macht es einen Unterschied, ob ein Romeo schwarz ist oder weiß?

Es sollte keinen machen. Aber er ist da. Ich persönlich habe keinen Rassismus erlebt, alle, die meine Karriere befördert haben, waren weiß. Aber in Kompanien mit 80 Tänzern finden Sie vielleicht zwei Schwarze. Und die sind wahrscheinlich keine Haupttänzer.

Glauben Sie, dass es Ihnen vielleicht sogar geholfen hat, schwarz zu sein?

Die Welt hat darauf gewartet. Anders sieht es bei den Frauen aus. Es gibt nur eine schwarze Primaballerina, Misty Copeland in den USA.

Ihr wurde gesagt, dass sie eine zu breite Nase und einen zu kräftigen Körper fürs Ballett hätte.

So was ist mir nie begegnet.

Das Ballett ist eines der ganz wenigen Gebiete, wo Frauen zumindest in der Vergangenheit die Hauptrolle spielten.

Früher ging es immer um die Ballerinas, die Männer waren nur dazu da, sie hochzuheben. Das hat sich mit Vaslav Nijinsky verändert, er war sehr schlank, fast androgyn, konnte springen. Die Leute kamen, um ihn zu sehen. Heute sind Männer und Frauen gleichberechtigt.

Ihre Karriere hat Ihnen viele besondere Momente beschert. In London standen Sie halb nackt in einer Umkleide und trafen eine echte Prinzessin.

Lady Di! Es war ziemlich komisch. Ich war sprachlos. Sie hat mich nach meinem Namen gefragt, und ich wusste gar nicht, wovon sie spricht, verstand kaum Englisch. Ich habe einfach nur Jaja gesagt.

In Kuba lernten Sie Fidel Castro kennen. Wie war er denn?

Groß! Sehr charismatisch. Ich hatte Angst vor der Begegnung – so viel Macht. Aber er war angenehm, ging ja gern auf die Straßen.

Wie kommt es, dass Sie gehen und zurückkommen konnten, während andere Tänzer das nicht durften und geflohen sind?

Ich hatte das Glück, dass zum Beispiel Ben Stevenson vom Houston Ballet nach Kuba kam, um mich anzuheuern. Er hatte gehört, dass ich festsaß, und gab mir einen Vertrag. Den habe ich legal abgeschlossen, ein Visum erhalten und eine Art Steuer an die Regierung bezahlt. Andere mussten sich absetzen – und dadurch haben sie mit ihrem Land gebrochen.

Ihr Vater glaubte wie viele Kubaner an die Götter der Santeria-Religion, ein Erbe der afrikanischen Sklaven. Er opferte Tiere.

Er war überzeugt, dass mein Erfolg auf seinen Opfergaben beruhte.

Woran glauben Sie?

An meine Kinder, meine Kraft, meine Überzeugungen. Ich will die Menschen gut behandeln, freundlich sein. Und an die Neugier. Ich möchte alles lernen, muss viel aufholen, was ich in meiner Kindheit verpasst habe. Mein erstes Buch las ich mit 25, „Fänger im Roggen“ von Salinger. Ich wusste, ich muss lesen, um selbst schreiben zu können. Also habe ich es Seite für Seite studiert.

Ihr ganzer Stolz ist heute ein Jaguar von 1955 ...

... ich liebe Oldtimer.

Was für Musik hören Sie beim Autofahren? Rachmaninoff? Oder immer noch „Thriller“ von Michael Jackson, wie als Kind in Kuba?

Gar keine! Es gab ja kein Radio, keine Anlage in den alten Autos. Der Jaguar war Schrott, als ich ihn gekauft habe. Das hat Jahre gedauert, ihn zu restaurieren. Und ich habe ihn authentisch gehalten, ohne Musik.

Tanzen Sie je einfach zum Vergnügen, auf Partys?

Klar!

Und dann starren alle Sie an?

Früher, ja. Aber wissen Sie, ich habe Zwillingstöchter, die zwei Jahre alt sind. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wann ich das letzte Mal in der Disko war. Dafür tanze ich mit unserer älteren Tochter, sie ist sechs und schon sehr athletisch.

Hoffen Sie, dass sie zum Ballett geht?

Nein. Wir zeigen ihr alles, sodass sie gucken kann, was ihr gefällt. Klavierspielen, Flöte. Sie rennt sehr schnell, im Judo wirft sie den Lehrer um. Und sie schafft 34 Liegestütze. Können Sie sich das vorstellen: 34! Furchterregend.

Wie viele schaffen Sie selbst?

Weniger. Ich weiß nicht, ob mir gefällt, dass sie schon so stark ist. Das Wichtigste ist doch, dass sie ein kleines Mädchen sein darf.

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