Interview mit Anna Loos: „Ich habe meine Eltern sehr enttäuscht“
Soll sie etwa Näherin werden? Die Planung beginnt mit einem DDR-Schulatlas. Hier erzählt Anna Loos die Geschichte ihrer Flucht.
Frau Loos, Ihr neues Album heißt „Werkzeugkasten“. Das passt zu Ihnen als Hobby-Schrauberin.
Heute mit diesen elektronischen Chips in den Autos kann ich nicht viel machen. Wenn der Wagen liegenbleibt, muss auch ich einen Notfalldienst rufen, der die Platine wechselt. Aber mit alten Autos kenne ich mich aus, weiß, wo was sitzt, was kaputt sein könnte.
Wertvolles Wissen.
Ich war mal für die Charity-Organisation „One“ unterwegs. Von Ghana nach Namibia, teilweise mit dem Flugzeug, teilweise mit dem Jeep durch die Wüste, von Dorf zu Dorf. Einmal fing der Wagen vorne an zu dampfen, der Fahrer war ganz aufgeregt, weil wir vor Sonnenuntergang an einem kleinen Flugplatz sein mussten. Mir war klar, das kann nur der Kühler sein. „Bringt mir mal eure Wasserflaschen“, habe ich gesagt, „und gebt dem Auto fünf Minuten Pause.“ Dann habe ich die Motorhaube aufgeklappt, den Kühler vorsichtig mit dem T-Shirt aufgemacht, Wasser reingeschüttet – und wir konnten weiterfahren. Einfache Sache, muss man nur wissen. Im Auto saß auch Bono, der Sänger von U2. Er war total beeindruckt. Seitdem bin ich für ihn die Anna, die alles kann.
Wie haben Sie die Schrauberei gelernt?
Durch meinen Vater und sein Autofaible. Er hat alte Gurken aufgekauft, ging in Ost-Berlin auf den Automarkt, wo auch mal West-Fahrzeuge landeten, natürlich megagebraucht. Die hat er sich in die Garage gestellt und wieder aufgemöbelt. Einmal fand er einen richtigen Cadillac. So wie der von Elvis Presley, vorne war ein Plattenspieler drin. Damit haben wir „Peter und der Wolf“ gehört.
Sie sind in Brandenburg aufgewachsen. Mit 16 haben Sie den Moped-Führerschein gemacht und als Erstes Ihre Maschine frisiert.
Ja, klar. Ich habe die Kolben geschliffen, damit sie schneller fährt. Weil die Stoßdämpfer so langweilig aussahen, habe ich mir welche für größere Motorräder gekauft, die geschwungen waren wie eine Kugelschreiberfeder. Mein Onkel arbeitete in der Galvanisation, der hat sie für mich verchromt, richtig schick.
Können Sie Menschen verstehen, die heute mit getunten Karren durch Berlin fahren?
Ich kann verstehen, dass jemand sein Fahrzeug liebt und es optimieren will. Neue Reifen rauf, tieferlegen, das Auto pflegen, da bin ich dabei.
Auch beim Tempolimit auf Autobahnen?
Auf einem Motorrad zu sitzen und Gas zu geben, das ist schon ein starkes Gefühl von Unabhängigkeit und Freiheit. Das kann kein Flieger oder Zug der Welt bieten. Aber sich auf einer normalen Straße um den Verstand zu rasen, wo man das Leben von Leuten riskiert, lehne ich ab. Finde ich fahrlässig – und begrüße, wenn das stärker geahndet wird.
Welche Motorradstrecke ist für Sie die schönste?
Die alte Straße nach Rügen hoch, von Berlin entlang der B96. Wir haben vor ein paar Jahren ein kleines Ferienhaus auf der Insel gebaut, da bin ich oft mit dem Motorrad hin. Ein Fischer nimmt mich mit raus auf die Ostsee zum Angeln. Ich habe dort tolle Angelkumpels. Thomas Rothe, dem der Prater in Prenzlauer Berg gehört, und Till, der Sänger von Rammstein.
Worüber unterhalten Sie sich mit Till Lindemann auf dem Boot?
Über Fische, über Musik, über Gott und die Welt. Leider haben wir das seit Langem nicht mehr gemacht, muss ich dringend ändern.
Eigentlich heißt es beim Fischen: Mund halten.
Stimmt für mich nicht. Endlich hat man Zeit, sich mit Freunden auszuquatschen. Auf dem Meer musst du nicht ruhig sein. Beim Angeln kriegt man einen Sauerstoffflash, am Ende holt man einen Fisch raus, der am selben Tag verarbeitet wird. Das ist einer der höchsten Akte der Entspannung.
Und wer tötet den Fang?
Ich mache es schnell, bevor die Fische groß leiden und ständig nach Luft schnappen. Wer essen will, muss auch draufhauen können.
„Nina Hagen hat mich fasziniert“
Kommen Ihre beiden Töchter mit zum Angeln?
Ich habe einmal eine Tour auf der Ostsee mit ihnen gemacht und ein bisschen geschummelt: Der Fischer hatte fette Wattwürmer besorgt, da beißt jeder Fisch. Ich wollte, dass es für meine Kinder ein Erfolgserlebnis wird, aber es hat sie nicht so begeistert. Sie finden es langweilig, so lange auf dem Boot zu sein, und dann stinkt das auch alles.
Schade, oder?
Nein. Ist doch schön, etwas allein zu machen. Ich möchte gar nicht, dass meine Kinder überallhin mitkommen. Sie sollen eigene Interessen entwickeln.
Sie spielten als Jugendliche in einer Punkband mit dem programmatischen Namen …
… „Leck mich am Arsch“. Genau!
Wie fanden das Ihre Eltern?
Schrecklich. Ich habe meine Haare toupiert, mir die viel zu große Motorrad-Lederjacke meines Vaters angezogen, in seine alten Handschuhe Nieten reingemacht und in meine Hosen Löcher. Wenn meine Mutter sagte „So geh’ ich mit dir nicht raus“, ging mir das runter wie Öl. Ich habe mir geschworen, dass ich das meinen Kindern nie sagen werde. Bis heute geglückt.
Ihre Mutter war bestimmt froh, als Sie danach Opernsängerin werden wollten.
Meine Eltern fanden das total bescheuert. Ich bewunderte eine bulgarische Opernsängerin am Stadttheater Brandenburg, Jana Michailowa. Nach einer Aufführung habe ich ihr am Bühneneingang aufgelauert und sie gefragt, ob sie mich unterrichten könnte. Musste ich natürlich bezahlen. Mein Vater hat in der Papierverarbeitung gearbeitet, da habe ich mich in den Ferien an die Maschine gestellt. Ich habe Flaschen weggebracht, um Pfand zu kassieren, meinen Vater überredet, mit dem Hänger Schrott einzusammeln und zu verkaufen.
Wie kamen Sie bloß vom Punk zur Oper?
Mich hat Nina Hagen fasziniert. Sie war für mich eine Punkerin, die eigentlich Opernsängerin gewesen ist. Bei meiner Oma liefen Maria Callas und Mario Lanza. Einerseits die dramatische Callas, andererseits totaler Schmalz, beides berührte mich. Ab 13 lernte ich Gesang, bis ich abgehauen bin.
Sie sind mit 17 aus der DDR geflüchtet, weil Sie nicht Musik studieren konnten.
An der Musikhochschule Hanns Eisler haben sie mich nicht genommen, obwohl die Prüfung gut verlaufen ist. Mein Vater war damals stellvertretender Leiter in einem Betrieb. Sein alter Chef hätte es gern gehabt, dass er seine Position übernimmt. Aber mein Vater wollte nicht in die Partei eintreten. Der Preis war ihm zu hoch. Vielleicht war das für uns alle nicht so gut.
Das hat Sie die Zulassung zur Erweiterten Oberschule gekostet und war der Grund, dass Sie kein Abitur machen durften?
Glaube schon. Ich war eine sehr gute Schülerin, es bestand kein Grund, mich nicht aufzunehmen. Nach der Entscheidung musste ich zur Berufsberatung. Mir wurden drei Sachen vorgeschlagen, auf eine sollte ich mich bewerben. Medizinische Fachhochschule, Krippenerzieherin, Bekleidungsfacharbeiterin, also Näherin. Ich habe gedacht: Das hat gar nichts mit mir zu tun.
Und da haben Sie den Entschluss gefasst, zu fliehen?
Ich hatte den großen Schulatlas auf dem Schoß und dachte: „Alles klar, wie komme ich von hier in den Westen?“ Dann ratterte es bei mir im Kopf, ich hab’s geplant, ziemlich naiv, alles in ein kleines Buch notiert, meine Ideen, meine Wut. Meinen Eltern habe ich nichts gesagt. Ich wusste ja, was mit Leuten passiert, die in Fluchtpläne eingeweiht sind.
Woher wussten Sie das?
Meine ältere Schwester wurde verhört, weil sie die Fluchtpläne einer Freundin kannte. Abends holte die Stasi sie ab, wies ihr nach, dass sie im Café mit der Freundin darüber gesprochen und den Wohnungsschlüssel bekommen hatte. Sie wurde verurteilt zu zwei Jahren auf Bewährung wegen „Beihilfe zum ungesetzlichen Grenzübertritt“. Trotzdem habe ich meine eigenen Pläne meiner besten Freundin gesteckt. „Wenn du mich nicht mitnimmst, verpfeif’ ich dich“, hat sie gesagt. Das war mir eigentlich recht, denn ich hatte schon ein wenig Angst im Hinblick auf die Flucht.
„Ich habe meine Eltern sehr enttäuscht“
Sie sind 1988 zuerst in die damalige Tschechoslowakei gefahren. Wie war Ihre Stimmung?
Wir hatten zwischendurch Heulattacken, es lief ja nicht wie geplant. Wo wir über die Donau nach Ungarn wollten, waren riesige Wälle, dazu Grenzposten. Ein Stück weiter war der Fluss so wild und breit, da war selbst uns Deppen klar, dass wir nicht die Luftmatratze aufblasen und rüberschwimmen können. Wir haben ein paar Tage gebraucht, bis wir eine Stelle fanden, wo die Donau schmaler war. Als wir den Fluss überquert hatten, waren wir aufgebraucht, zermürbt und hungrig. Nach Ewigkeiten kamen wir in einem Dorf an, haben irgendwo geklopft. Lass die doch die Bullen rufen, haben wir gedacht, gehen wir halt für zwei Jahre in den Knast und werden freigekauft. Eine ältere Frau öffnete die Tür, ging ans Telefon, wir glaubten, das war es jetzt. Aber sie rief ihre Kinder an, die fuhren uns zur Botschaft der Bundesrepublik nach Budapest. Von dort sind wir über Österreich nach Deutschland gekommen.
Welchen Plan hatten Sie?
Klos putzen, Strecke machen, irgendwas. Dann bekam ich im Auffanglager in Gießen einen Anruf von meiner Tante. Meine Eltern hatten von der Flucht erfahren und ihr Bescheid gegeben. Sie nahm uns in ihr Haus bei Hamburg auf. Im Herbst kam ich aufs Gymnasium nach Wedel, eine merkwürdige Zeit.
Weil es eben doch ein anderes Land war?
Allein das Schulsystem mit den Kursen. Da gab es die stellvertretende Direktorin, eine sehr steife Dame mit weißem, toupiertem Haar. Die hat mich nach zwei Wochen zu sich zitiert, weil ich berlinert hab. Ick hab halt so geredet, wa. Da hat die mich rundgemacht: Wir sind ein elitäres Gymnasium, du musst dich anstrengen, ordentlich Hochdeutsch zu sprechen. Danach saß ich im Unterricht und habe mich bemüht, „ich“ anstatt „ick“ zu sagen, obwohl ich echt andere Probleme hatte.
Drüben in der DDR wurden Ihre Eltern verhört.
Ja. Doch die Stasi konnte ihnen nichts nachweisen. Auf meinen Vater waren sie im Betrieb angewiesen, meine Mutter brauchten sie auch als Krankenschwester. Sie sagt immer, die Pubertät gab’s bei mir nicht. Ich bin vielleicht scheiße rumgelaufen, aber ich habe sie nie angebrüllt. Meine Eltern waren schockiert, dass ich einfach so abgehauen bin. Ich habe sie damals sehr enttäuscht.
Kann man das je wieder gutmachen?
Ich glaube schon. Nachdem ich gemerkt habe, was meine Flucht mit ihnen macht, habe ich versucht, die beiden immer wieder ans Telefon zu bekommen. Die ersten Male konnten wir gar nicht reden, weil sie nur geweint haben. Heute weiß ich, dass die Pubertät einfach die egoistischste Lebensphase ist. Ich würde so etwas nicht mehr machen, aber zu dieser Zeit war mir alles egal. Scheiß’ auf die anderen, ist doch mein Leben.
Haben Sie einen Abschiedsbrief hinterlassen, bevor Sie flohen?
Nein. Ich habe ihnen erzählt, dass wir zur Oma meiner Freundin fahren, und meine Freundin hat ihren Eltern erzählt, dass wir zu meiner Oma fahren. Mein Vater hat ziemlich schnell kapiert, was lief. Er hat mir später zu Weihnachten ein Paket überreicht. Darin lagen der alte Schulatlas und das Tagebuch, in das ich mit Pfeilen meinen Weg eingezeichnet hatte. Wir haben uns totgelacht.
1989 fiel die Mauer. Haben Sie in dem Moment gedacht: Hätte das nicht bitte etwas früher passieren können?
Nein. Als ich die Bilder aus Ungarn im Fernsehen sah, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass die Mauer wirklich fällt. Ich war zu der Zeit in einer Schulband, die unbeliebtesten Nerds machten zusammen Musik. Am 9. November platzte der Hausmeister in unsere Probe: „Du musst nach Hause zu deiner Tante!“ Ich konnte es nicht fassen. Wir haben natürlich sofort versucht, meine Familie an die Strippe zu bekommen, die Nachbarn, keine Chance. Und dann standen meine Eltern ein paar Stunden später vor der Tür.
Wie sprechen Sie heute mit Ihren Töchtern über die Wende?
Geschichten über mein damaliges Leben sind für sie wie Märchen. Ich glaube, dass die Trennung zwischen Ost und West im Kopf noch so lange existiert, wie es die Generation gibt, die die Teilung erlebt hat. Wir Wendekinder sind die glücklichsten Menschen der Erde. Ich fühle mich privilegiert, weil ich beides erlebt habe, dass ich den Osten kannte.
Warum sind Sie in den 90er Jahren nicht in den ehemaligen Osten zurückgezogen?
Irgendwann sind wir nach Kreuzberg, an die Adalbertstraße, aber mit dem Kinderwagen über den Kotti, das fand ich nicht so toll. Prenzlauer Berg war mir zu aufregend, zu viele Touristen. Also ab nach Steglitz. Dort ist es wie im Dorf: Die Kinder gehen sonntags zum Bäcker, und am Montag mache ich die Runde und bezahle.