Bill Bryson über Brexit und Europa: "Ich finde Angela Merkel auf merkwürdige Weise attraktiv"
Er erforscht seit Jahrzehnten das Wesen der Briten und wundert sich immer noch: Bestseller-Autor Bill Bryson übers Gärtnern, Black Pudding – und sein Votum für die EU.
Bill Bryson, 64, geboren in Des Moines im US-Bundesstaat Iowa, wurde mit einem Buch über Großbritannien berühmt. Jetzt erschien das zweite Werk über seine Wahlheimat: „It’s tea time, my dear! Wieder reif für die Insel“. Der Bestsellerautor wohnt mit seiner Frau in der Nähe von London
Herr Bryson, komisch: Sie haben so gar keine Ähnlichkeit mit Robert Redford.
Nee. Ich bin ja auch viel jünger. Jedenfalls war ich das, als ich vor 20 Jahren durch die Appalachen gewandert bin, die Bergkette, die sich ein paar tausend Kilometer an Amerikas Ostküste erstreckt. Da war ich 44. Als Redford mich in seinem Film spielte, war er fast doppelt so alt.
Er hat das Buch verfilmt, das Sie über Ihre Wanderung schrieben, „Picknick mit Bären“ – mit sich selbst in der Hauptrolle. Fühlten Sie sich da sehr geschmeichelt?
Ich habe mich gefreut! Weil er ein kluger Mensch ist und intelligente Filme macht. In dem Moment, in dem Sie Ihr Buch an Hollywood verkaufen, können die ja damit anstellen, was sie wollen. Die hätten auch einen Pädophilen aus mir machen können, hätten es so drehen können, dass meine Ehe im Eimer ist – und jeder hätte es geglaubt.
Mal abgesehen vom Alter, haben Sie sich in Redford wiedererkannt?
Nein. Ich habe den Film 2015 auf dem Sundance-Festival das erste Mal gesehen. Da saß ich im dunklen Saal, meine Frau links von mir, Redford rechts, und plötzlich taucht er auf der Leinwand auf und nennt sich Bill Bryson. Ich wollte ihn anstoßen und sagen, das gibt’s doch nicht, das ist mein Name! Ich habe einen Moment gebraucht, um zu kapieren, dass er mich spielt. Aber das war nicht mein Haus oder mein Auto …
… und auch nicht Ihre Frau.
Die fand es ganz großartig, von Emma Thompson gespielt zu werden. Nach der Vorführung war Nick Nolte, der meinen Wanderkumpel spielt, ganz reizend zu ihr. Sie hat ihn für seine Darstellung gelobt, und er hat ihre Hand gehalten, ihr in die Augen geschaut und gesagt: Das bedeutet mir so viel.
Für Ihr neues Buch haben Sie Großbritannien von Süd nach Nord durchquert, zu Fuß, mit Bus und Bahn, mit dem Auto. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Dass jedes Jahr mehr Menschen von Kühen getötet werden als von Bullen. Ich gehe ja viel wandern. Früher bin ich immer quer über die Felder marschiert und hab’ die Kühe einfach mit einem Stöckchen verscheucht. Und plötzlich entdecke ich, dass ich mich jahrelang in Lebensgefahr gebracht habe. Ich bin heute nervöser.
Sie führen mit Ihrem neuen Titel, „It’s teatime, my dear“, schon wieder die Sachbuch-Bestsellerlisten in Großbritannien an. Muss erst ein Amerikaner kommen, um den Briten die eigene Insel zu erklären?
Ich sage als Außenseiter ein paar schmeichelhafte Dinge. Dass sie Humor haben und wie wunderbar London ist, so etwas kommt gut an.
Wie schon in Ihrem ersten England-Buch vor 20 Jahren loben Sie die Landschaft als eine der schönsten, wenn nicht die schönste der Welt.
Obwohl sie im Grunde unspektakulär ist. Ich komme ursprünglich aus Iowa, das ist ein bisschen wie England, mit den gleichen sanften Hügeln. Nur gibt es dort keine Kirchen und Dörfer, keine Hecken, keine gewundenen Straßen. In Iowa gibt es nur gigantische Felder, industrielle Landwirtschaft. Es ist eine Leistung, dass die Briten einen Großteil ihres Landes so bewahrt haben.
Aber ist das England, das Sie lieben, nicht ein Museum?
Natürlich, die Hecken braucht man heute nicht mehr, Stacheldraht ist viel effizienter. Darin nisten jedoch keine Vögel. Die Landschaft ist nicht nur eine wirtschaftliche Angelegenheit, die für Arbeit und Essen sorgt. Ich würde sogar sagen, Erholung und Vergnügen sind inzwischen viel wichtiger. Eigentlich müsste die Nation die Farmer dafür bezahlen, dass sie das Land bewahren.
Das Sanatorium in Surrey, in dem Sie Anfang der 70er Jahre als junger Hilfspfleger Ihre Frau, damals angehende Krankenschwester, kennenlernten, ist heute geschlossen und in eine exklusive Wohnsiedlung umgewandelt. Sie nennen den Baustil der neuen Häuser „russische Gangsterarchitektur“.
"Die Briten waren sehr empfänglich für Schmeicheleien"
Da standen mal wunderbare alte Häuser im Stil der Arts-und-Crafts-Bewegung, Giebel, Backstein, mit Rosen bedeckt. Die wurden fast alle abgerissen und durch Dinger ersetzt, die aussehen, als kämen sie aus Las Vegas, mit riesigen, elektrisch gesteuerten Toren à la Hollywood. Eine Schande.
Der „Guardian“ nannte Ihren Ton im Vergleich zum ersten Buch „etwas gereizt“.
Eher mürrisch. Aber so bin ich immer gewesen.
Dabei lassen Sie in Ihrem ersten England-Buch „Reif für die Insel“ kein gutes Haar an Oxford, das Sie als eine einzige Ansammlung von Bausünden beschreiben – „hässlich“, „dumm“, „verrückt“.
Die wollten in den 70er Jahren allen Ernstes eine Durchfahrtstraße quer durch die Christ Church Meadow bauen und die alten Handwerkerhäuser im historischen Stadtteil Jericho abreißen.
Und Ihre Leser haben Ihnen, einem Amerikaner, die Kritik am Nationalheiligtum Oxford nicht übel genommen?
Wahrscheinlich haben sie sich mehr auf die Schmeicheleien konzentriert. Damals waren die Briten sehr empfänglich dafür, Gutes über sich zu hören.
Mehr als heute?
Sie mussten sich ganz schön umstellen. Anfang der 70er glaubten ja vor allem die Älteren noch, dass Großbritannien die wichtigste Nation der Welt sei. Sie dachten, sie hätten das Empire erfunden.
Die Zeiten, in denen zwei Drittel der Erdoberfläche britisch sind, waren doch längst vorbei.
Es hat aber eine Weile gedauert, bis sie sich damit abgefunden haben, einfach nur ein weiteres mittelgroßes europäisches Land zu sein.
Immerhin wollten die Briten 1975 in der Europäischen Gemeinschaft bleiben. Nun wird am 23. Juni über den Brexit abgestimmt – Ausgang unsicher.
Das hat viel mit Psychologie zu tun. Viele Briten glauben, die Europäische Union hindere ihr Land daran, so bedeutend zu sein, wie es ihm gebührt. Was ich bezweifele. Ich glaube nicht, dass irgendein europäisches Land groß genug ist, um auch nur Russland gewachsen zu sein. Ich komme ja aus einer Union und halte eine Föderation für den einzig erfolgversprechenden Weg.
Das Großbritannien von 1973 galt als der arme Mann Europas. Doch damals, schreiben Sie, waren die Verkehrsinseln mit Blumen bepflanzt, jede Kleinstadt hatte ihre eigene Bibliothek, es gab Dorfläden, Postämter und Sozialwohnungen.
Heute ist Großbritannien so reich wie nie zuvor, die Wirtschaft wächst und wächst. Und was passiert? Birmingham baut eine 189 Millionen Pfund teure Bibliothek – und entlässt ein paar Jahre später die Hälfte des Personals. Das ist doch absurd! Warum erhöhen sie nicht einfach die Steuern?
Sie würden freiwillig höhere Steuern zahlen?
Selbstverständlich! Meiner Meinung nach hat der Staat die Pflicht, seine Bürger mit guten Straßen, Schulen, Bibliotheken, Krankenhäusern zu versorgen. Aber die konservative Regierung ist so darauf fixiert, die Steuern zu senken, dass sie alles dafür tut, um den Bürgern ein paar Pfund mehr in der Tasche zu versprechen. Und die Menschen wollen dieses Geld haben. Sie sind selbstsüchtiger geworden.
Die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich überall auf der Welt.
Großbritannien ist den USA ähnlicher geworden. In mancher Hinsicht ist das gut, weil das Land heute dynamischer und ehrgeiziger ist. Ich dachte nur, die würden das hier mit den öffentlichen Aufgaben besser managen. Das war schließlich einer der Gründe, warum ich nicht mehr in den USA lebe und Europa bewundert habe. Amerika ist ein ausgezeichneter Ort, um krank zu werden, wenn man sehr wohlhabend oder gut versichert ist. Dumm nur, dass die meisten nicht die richtige Versicherung haben.
Inzwischen haben Sie selber einen britischen Pass und dürfen über den Verbleib in der EU abstimmen.
Mit Sicherheit werde ich dafür sein!
Für viele Briten sind Sie ein Einwanderer und damit Teil des Problems.
Sie sehen die Einwanderer als etwas Homogenes, als wären alle gleich. Und die britische Regierung vertritt die Haltung, dass jede Einwanderung schlecht ist. Da schwingt viel Rassismus mit. Wenn der Durchschnittsbrite Muslime demonstrieren sieht, glaubt er, es handele sich um Einwanderer. Die meisten von ihnen sind jedoch Briten, wurden hier geboren. Es ist das einzige Land, das sie kennen, das kann man nicht rückgängig machen.
Immerhin hat London jetzt mit Sadiq Khan einen muslimischen Bürgermeister.
Die meisten Immigranten arbeiten hart und leisten einen positiven Beitrag. Doch Immigration ist ebenso wie der EU-Austritt ein Thema, über das viele Briten eher emotional denken und nicht mit ihrem gesunden Menschenverstand.
Warum wollten Sie Brite werden?
Ein Anwalt hat mir dazu geraten, es vereinfacht den ganzen Papierkram. Ich erkläre den USA damit, dass mein Zuhause jetzt Großbritannien ist.
Dafür mussten Sie einen Test bestehen. Erinnern Sie sich noch an die schwierigste Frage?
"Engländer frohlocken im kältesten Wasser"
Die Frage, die ich nie vergessen werde: wer ein Mann namens Sake Dean Mahomet war. Er hat das Shampoo in Großbritannien eingeführt. Ich glaube, er kam aus Indien, und damit wollten sie wohl zeigen, wie aufgeschlossen das Land ist.
Immerhin haben Sie bestanden. Fühlen Sie sich jetzt mehr als Brite oder als Amerikaner?
Ich werde immer wieder gefragt, für wen wir etwa bei Olympischen Spielen fiebern würden, meine Frau ist ja Engländerin. Also, wenn es um Sport geht, haben wir uns vom Patriotismus gelöst. Ich war für einen Kubaner, weil er der bessere Boxer war. Und bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney wollte ich, dass Cathy Freeman die 800 Meter gewinnt, nicht weil sie Australierin ist, sondern weil ich sie für eine reizende Person halte und sie die Aborigines vertreten hat.
Einer der kulturellen Unterschiede, den Sie in Ihrem Buch hervorheben, ist die Art und Weise, wie Briten sich vergnügen. Sie warnen sogar ausdrücklich: Vorsicht, wenn die im Meer ihren Spaß haben!
Sie haben kein Gespür für Kälte. Das Wasser rund um die Insel ist das kälteste, das man sich vorstellen kann. Trotzdem sieht man Briten darin frohlocken. Ich habe es einmal versucht, bin sofort wieder raus und geh nie wieder rein.
Das hat vielleicht mit der berühmten englischen „stiff upper lip“ zu tun.
Dieses „Beklag dich nicht, mach einfach weiter“ prägt den britischen Charakter. Wenn mit mir etwas nicht stimmt, wenn ich operiert werden muss oder so, rede ich stundenlang darüber. Engländer würden sagen, oh, es ist nicht schlimm. Sie wischen es weg, als wäre es ihnen peinlich.
Gibt es etwas, wofür Sie sie bewundern?
Ja: das Talent, sich ein Hobby zu wählen. Vögel beobachten, Malen, Wandern – nur ein Hobby, und das machen sie dann richtig gut. In den USA dagegen geht man ein Jahr lang tauchen, im nächsten widmet man sich der Fotografie … Wenn Sie in einem amerikanischen Haus einen Schrank öffnen, entdecken Sie all die abgelegten Hobbys.
Was ist mit Ihnen?
Ich gehe gern wandern mit meiner Frau.
Sie schwärmen nicht nur für die parkähnliche englische Landschaft, Sie haben selbst einen Garten. Über den reden Sie nie, obwohl Gärtnern in England eine sehr große Rolle spielt.
Ich finde es schwer, über Gärten zu schreiben, ohne dass es langweilig wird. Ich arbeite mit Vergnügen im Garten, was ich mache, nenne ich das hirnlose Gärtnern. Ich grabe total gern, schiebe die Schubkarre herum, während meine Frau das denkende Gärtnern betreibt: Pflanzen setzen, Entscheidungen fällen. Davon hält sie mich fern. Sie sagt: Nimm die Schubkarre und fahr zum Kompost.
Auch Deutschland kommt in Ihren Büchern kaum vor. Dabei haben Sie dem „Guardian“ verraten, dass Sie die deutsche Kanzlerin mögen: Angela Merkel „wirkt weise, empathisch und zum Knuddeln“.
Also, ich finde sie auf eine merkwürdige Weise attraktiv. Ich werde nie vergessen, wie Angela Merkel einmal Silvio Berlusconi vom Flughafen abgeholt hat. Und der lässt sie stehen, um mit seinem Handy zu telefonieren. Was für ein lächerlicher Affront. Darauf macht sie so ein Gesicht, dem man ansah, was sie von Berlusconi hält. Großartig. Das war der Moment, in dem ich merkte, ich mag sie.
Was vermissen Sie als Amerikaner in England?
Baseball. Und das Wetter. Das ist in den USA viel dramatischer. Schnee, Stürme, Blitz und Donner ... In England fällt höchstens mal ein bisschen Regen. Was ich noch vermisse: Die Amerikaner sind viel positiver. Wenn sie ein Problem haben, sagt der Amerikaner, was können wir tun, um es zu lösen? Der Brite erklärt Ihnen ausführlich, warum man es nicht lösen kann. Das sehe ich ja an meiner Frau. In einer Krise sind die Briten großartig, dann ziehen alle an einem Strang. Aber im Alltag …
Es heißt, Sie ziehen den amerikanischen Bacon dem britischen vor.
Der amerikanische ist viel knuspriger. Mir schmecken auch die englischen Würstchen nicht besonders. Und Black Pudding rühre ich nicht an. Allein die Vorstellung: getrocknetes Blut!
Und wer versteht Ihre Witze besser?
Ich würde sagen, die Briten. Sie mögen Albernheiten und Absurditäten. In Amerika wird der Humor nicht so kultiviert. Das ist etwas, worauf die Briten enorm stolz sind, ihr Witz.
Herr Bryson, was glauben Sie, wie werden die Briten abstimmen?
Ich bleibe optimistisch, dass sie, wenn es drauf ankommt, erkennen, dass sie Teil einer größeren Gemeinschaft bleiben müssen.
Und wenn nicht?
Das hätte schreckliche Konsequenzen. Großbritannien wäre nicht nur Russland, China und den USA bei Wirtschaftsverhandlungen nicht gewachsen. Es würde auch von Ländern wie Indien herumgeschubst werden, würde entdecken, dass es ein kleines, belangloses Land ist. Und weiß der Himmel, was aus dem Rest von Europa wird. Vielleicht würde die EU auseinanderfallen.
Vielleicht löst sich das Vereinigte Königreich auf.
Kann sein. Dann würde Schottland herausfinden, dass es als unabhängiges Land politisch in der gleichen Situation ist wie beim Fußball: Es würde in der ersten Runde rausgekickt.