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Bombenexplosionen im Zentrum von Homs. Nabil wollte raus aus dem Kriegsgebiet und bat Tom um einen riesigen Gefallen.
© AFP

Flucht aus Syrien: „Glaubst du, dass du mir helfen kannst?“

Die Geschichte von Tom und Nabil bewegte 2014 viele unserer Leser. Es begann mit einem Urlaub in Syrien, Nabil bietet Tom ihm für einige Nächte einen Schlafplatz an. Zwei Jahre später, im Mai 2013, erreicht den Deutschen ein Hilferuf auf Facebook: Nabil will vor dem Krieg fliehen. Die Reportage über eine dramatische Rettungsaktion wurde am Dienstagabend mit einem CNN Journalist Award ausgezeichnet. Lesen Sie sie hier noch einmal nach.

Der Krieg erreichte Tom an einem Dienstag im Mai. In Göttingen, seiner Studienstadt, ist der Frühling noch nicht angebrochen, es regnet in Strömen. Das Semester hat gerade begonnen, Tom die ersten Vorlesungen hinter sich gebracht. Politik im Haupt-, Ethnologie im Nebenfach. An jenem Dienstag bekommt er eine Facebook-Nachricht, geschrieben auf Englisch, abgeschickt von einem Computer in Homs, Syrien:

Nabil Talab, 14. Mai 2013, 11:09 UTC+02

„Hey Tom! Wie geht es dir? Ich hoffe, du bist zufrieden und alles in deinem Leben läuft gut. Ich muss dich um einen Gefallen bitten. Einen riesigen Gefallen.“ Tom Scheunemann, dunkle Locken, Stoppelbart, ist einer jener Menschen, denen das Leben wenig Furcht zugeteilt hat und viel Neugier. Er ist alleine durch Südamerika gereist, studierte ein halbes Jahr im Sudan. Im Februar 2011 fliegt Tom in den Nahen Osten: erst nach Jordanien, dann nach Syrien. In Damaskus nimmt ihn ein Couchsurfer auf. Als Tom nach Homs weiterreisen möchte, bietet der Couchsurfer ihm einen Schlafplatz bei einem Freund an. Nabil, ein schmächtiger Medizinstudent, holt Tom am Busbahnhof in Homs ab.

Der Ort, drittgrößte Metropole Syriens, boomt zu dieser Zeit, Neubauten dehnen den Stadtrand. In einem dieser Häuser bewohnt Nabil ein Zimmer. Tom schläft auf dem Teppichboden.

Tagsüber schlendern Tom und Nabil durch die Stadt, die Abende verbringen sie in einer Bar. Sie spielen Tischtennis, trinken Bier. Nabils Englisch ist fließend und fehlerfrei. Er hört amerikanischen Rap und bewundert den Westen, wo jeder frei ist und Religion sich nicht in persönliche Belange einmischt. Sie adden einander bei Facebook und nach drei Tagen macht Tom sich auf den Weg nach Aleppo. Eine Reisebekanntschaft, wie sie jeder Backpacker unterwegs schließt, scheint hier ihr Ende zu nehmen. Tom denkt nicht, dass er noch einmal von Nabil hört.

Nabil Talab, 14. Mai 2013, 11:09 UTC+02

„Ich plane einen Besuch in Europa. Wie du weißt, ist es fast unmöglich, ein Schengen-Visum zu bekommen, besonders wenn man aus Syrien kommt. Darum muss meine Bewerbung perfekt sein und dafür brauche ich, wenn möglich, ein Einladungsschreiben. Glaubst du, dass du mir helfen kannst? Alles Liebe, Nabil.“

Als Tom die Nachricht liest, lebt er gerade in einer 4er-WG. Sein Zimmer ist geschmückt mit Mitbringseln: Muscheln aus Panama, eine Holzmaske aus Südafrika, Fotos aus Costa Rica, wo seine Freundin an einer deutschen Schule lehrte. Er spielt Handball und kellnert in einer Bar, am Wochenende kocht er mit Freunden indisches Curry. Zur gleichen Zeit sind am anderen Ende der Welt fünf Millionen Syrer auf der Flucht. Mehr als 70 000 sind schon gestorben. Tom weiß das, er sieht es in der Tagesschau, liest es in Online-Zeitungen. Dann denkt er an Syrien: an Daraa, wo die Revolution begann und wo Nabils Familie lebt. An Aleppo, das einmal wunderschön war und dessen Fluss nun Leichen anschwemmt.

Aber Tom ist auch mit seinem eigenen Leben beschäftigt: Er muss Prüfungen bestehen und Geld verdienen. Von den Artikeln über Syrien bleibt eine flüchtige Beklemmung, aber in Wahrheit ist das Elend weit weg. Bis zu jenem Dienstag im Mai.

Als er Nabils Nachricht liest, ist Toms erster Gedanke: Bin ich stark genug? Will ich diese Verantwortung tragen?“

Und einen Moment später: „Ich muss. Ich kann ein Leben retten.“

Tom Scheunemann, 14. Mai 2013, 12:24 UTC+02

„Hi Nabil. Mir geht es gut … hab viel zu tun. Ich muss im Moment viel lernen. Natürlich werde ich alles tun, was ich kann, um dich hierherzubringen. Ich muss mich ein bisschen informieren: wie so ein Brief aussieht, was du brauchst und was ich schreiben muss. Ich melde mich wieder, wenn ich mehr Infos habe.“

Tom Scheunemann, 14. Mai 2013, 21:27 UTC+02

„Ich muss dich nur eines fragen. Willst du nach Europa kommen, um dich mal umzusehen? Oder ist das Teil eines größeren Planes? Möchtest du in Europa bleiben?“

Nabil ist ehrlich: Er will Syrien für immer verlassen und bittet Tom um Hilfe. „Ich hätte Nein sagen können“, sagt Tom, „er hätte es verstanden.“

Aber mit welcher Begründung? „Sorry, ich muss studieren“?

Göttingen hat eine große linke Szene, Tom wendet sich an die Antifa. Doch die helfen eher Flüchtlingen, die schon in Deutschland sind. Wie man jemanden legal ins Land bringt, wissen sie nicht. Er trifft sich mit einer Anwältin, kontaktiert Behörden. Die Ausländerbehörde ist nur knapp fünf Stunden pro Woche erreichbar: Montag, Dienstag und Mittwoch, von 14.00 bis 15.30 Uhr. Tom telefoniert zwischen den Vorlesungen.

"...du rettest mein beschissenes Leben"

Nabil in Syrien erträgt den Bürgerkrieg in seiner Heimat nicht mehr.
Nabil in Syrien erträgt den Bürgerkrieg in seiner Heimat nicht mehr.
© privat

Tom Scheunemann, 15. Mai 2013, 17:04 UTC+02

„Ich bin genauso verloren und verwirrt wie du…“

Nabil Talab, 24. Mai 2013 um 00:12 UTC+02

„Klar, Mann … Aber du rettest mein beschissenes Leben.“

Tom Scheunemann, 24. Mai 2013, 00:13 UTC+02

„Wenn ich es schaffe, ist es das Beste, was ich je getan habe.“

Die Informationen, die man Tom gibt, sind widersprüchlich. Anstatt aufzuzeigen, welche Möglichkeiten Nabil hat, schickt man ihn immer weiter: zur nächsten Zuständigkeit, der nächsten Anlaufstelle. Tom erkennt den einzigen Weg durch das Labyrinth der Vorschriften: Nur wer dem Staat nutzt, darf nach Deutschland. Ein Medizinstudent ohne Einkommen – wie Nabil – ergibt eine Verlustrechnung. Ein Touristenvisum wird damit aussichtslos.

Tom Scheunemann, 9. Juni 2013, 15:34 UTC+02

„Hey, ich habe eben gelesen, dass die syrische Armee die Rebellen nach Norden abdrängt … Angeblich wollen sie Homs heute oder morgen einnehmen. Bitte sag mir, wie es dir geht oder ob du abhauen kannst. Bist du sicher, dort, wo du jetzt bist?“

Nabil Talab, 9. Juni 2013, 19:43 UTC+02

„Hallo mein Freund, mir geht es gut. Ich lerne jeden Tag Deutsch. Ja, sieht so aus, als würden die nächsten Tage ziemlich scheiße werden. Aber wir kommen schon klar …“

Homs wird „das Herz des syrischen Aufstandes“ genannt. Die Front zwischen Rebellen und Assad-Truppen verläuft mitten durch die Stadt. Im Juni 2013 beschießt die Artillerie der syrischen Armee abtrünnige Viertel mit Mörsern und Raketen. Auch das Haus, in dem Nabil einst lebte, wird getroffen. Der ganze Bezirk steht schon lange leer, die Bewohner sind geflohen. Zurück bleiben Mauern, von Einschlägen durchsiebt. Jene Bar, in der Tom und Nabil vor zwei Jahren Bier tranken, ist verschwunden – die gesamte Altstadt ist eine Ruine. Scharfschützen haben in der Stadt Posten bezogen. Die Erschossenen verbluten in den Straßen.

Als die Kämpfe losgingen, floh Nabil in einen Stadtteil, wo hauptsächlich Assad-Anhänger leben. Deshalb hat er Strom, Wasser und Internet. Aber wie lange noch?

Nabil Talab, 26. August 2013, 01:42 UTC+02

„Alle Zeichen stehen auf Krieg mit den Amerikanern.“

Tom Scheunemann, 26. August 2013, 08:14 UTC+02

„Ja, die deutschen Medien sagen dasselbe.“

Tom ruft nun bei Kliniken an und versucht, Nabil einen Praktikumsplatz zu besorgen. Er richtet ein Konto für ihn ein. Schreibt Anfragen an Ärzte und Aktivisten. Mehrere Stunden verbringt er pro Woche damit. Dabei versucht Tom, so nüchtern wie möglich zu bleiben. Die Bürokratie beschäftigt ihn, aber sie schützt ihn auch. Vor den Bildern der Kämpfe in Syrien, der Frage, wer Schuld hat am Leid der Welt und warum er, Tom, in einer studentischen Idylle lebt und Nabil in einer zerstörten Stadt. Er hält sich an seine Aufgabe, aber es gelingt nicht immer, die Distanz zu halten. Manchmal denkt Tom daran, Nabil einfach zu holen: mit dem Auto in die Türkei und an die syrische Grenze. „Da ist ein Mensch im Krieg, und ich bin seine einzige Chance“, sagt Tom. „Wenn ich scheitere … Was dann?“

Tom ist für Nabil Seelsorger und Anwalt zugleich. Manchmal schreibt Nabil täglich. Ein Konflikt, tausende Kilometer entfernt, ist Tom auf einmal ganz nah. Er bemüht sich, im Alltag nicht an Nabil und Syrien zu denken. Sonst, so fürchtet er, schafft er die Uni nicht. Doch der Krieg ist immer bei ihm: Er sitzt ihm im Nacken, wenn er an der Uni büffelt, begleitet ihn durch den Abend, wenn er im „Pools“ Cocktails mixt. Tom bekommt Rückenschmerzen, sein Kiefer tut weh, weil er in der Nacht mit den Zähnen knirscht. Der Krieg hat sich in seinem WG-Zimmer eingenistet, er blickt ihm ins Gesicht, wann immer er den Computer anschaltet.

„Ich war manchmal so müde davon“, sagt Tom heute. Was ging ihn diese Not im Nahen Osten eigentlich an? Warum ließ er sich davon sein Leben trüben? „Man schämt sich schnell für solche Gedanken“, sagt er. Er machte weiter.

Der Angriff der Amerikaner bleibt aus.

Tom Scheunemann, 1. September 2013, 14:25 UTC+02

„Wie geht es dir, mein Freund? Es sieht aus, als ob der Angriff der Amerikaner sich ein wenig verzögert. Wie ist die Situation bei dir? Hoffe, euch geht es gut. Grüß deine Freundin von mir. Die Welt vergisst euch nicht, solange ich das nicht tue. Und das werde ich nicht ;)“

Nach unzähligen Anrufen und E-Mails findet Nabil ein Krankenhaus, das bereit ist, ihn als Hospitanten aufzunehmen. Zusätzlich organisiert Tom einen Sprachkurs in Hamburg und bittet seine Mutter, die Verpflichtungserklärung zu unterschreiben. Sie willigt auch ein, Nabil für die erste Zeit aufzunehmen.

Tom beginnt, an seiner Bachelor-Arbeit zu schreiben, „Nationalismus in Irakisch-Kurdistan“. An Weihnachten schmückt er mit seinen zwei Brüdern den Baum in seinem Elternhaus. Abends spielen sie Scharade.

Im Januar bekommt Nabil einen Termin in der deutschen Botschaft in Beirut. Nabils Motivation soll überprüft werden. Dafür fährt Nabil in den Libanon. Wer ist dieser Tom, fragt ihn die Sachbearbeiterin. Ein echter Freund, antwortet Nabil.

Nach dem Gespräch meldet er sich: Es sei gut gelaufen, er mache sich auf den Weg zurück nach Homs. Nabil will seine Sachen holen, Syrien ein letztes Mal Lebewohl sagen. Viel übrig ist davon ohnehin nicht mehr.

Tom packt währenddessen seine Sachen in Kisten. Sein Studium ist bald zu Ende. Ihm fehlen 15 Seiten seiner Bachelor-Arbeit, und er fragt sich, welchen Weg er danach einschlagen wird.

"Mein lieber Freund. Ich bin raus."

Nabil in Syrien erträgt den Bürgerkrieg in seiner Heimat nicht mehr.
Nabil in Syrien erträgt den Bürgerkrieg in seiner Heimat nicht mehr.
© privat

Nabil Talab, 14. Januar 2014, 19:47 UTC+01

„Ich hoffe, ich halte dich mit meinen Scheiß-Problemen nicht auf“.

Tom Scheunemann, 14. Januar 2014, 19:48 UTC+01

„Jetzt ist es ja fast vorbei. Nur noch Hoffen und Warten.“

Zwei Tage später, am 16. Januar 2014, nach fast einem Jahr und mehr als 5000 Facebook-Nachrichten, reißt der Kontakt ab. Nabil antwortet nicht auf Mails, das Handy ist aus. Seine Freundin Mariam weiß nicht, wo er steckt, Freunde fahren in den Norden, um ihn zu suchen. Am Grenzübergang zum Libanon verliert sich seine Spur.

„Ich dachte: Es ist vorbei“, sagt Tom. „Er liegt irgendwo angeschossen im Straßengraben. Oder er wird gefoltert. Oder er ist tot.“

Tom geht noch immer in die Bibliothek und arbeitet an seiner Bachelor-Arbeit. Er schafft es nicht, sich zu konzentrieren. Einmal bricht er zusammen und weint stundenlang. Tom trauert um einen Menschen, den er kaum kennt. Trauert, weil er Nabil nicht helfen konnte. Weil er am Ende machtlos war gegen die deutschen Visa-Bestimmungen und Assads Schergen. Der Krieg, ein Nebel, der über Toms Leben lag, hatte sich gerade gelichtet. Nun zieht er sich zu.

Vier Wochen später erhält Tom eine Nachricht.

Nabil Talab, 10. Februar 2014 um 07:24 UTC+01

„Hallo, mein lieber Freund. Ich bin raus. Ich lasse dich wissen, wie es weitergeht. Mir geht’s gut. Mein Körper ist nur ein bisschen schwach. Ich kann nichts tun. Außer heulen wie ein Baby.“

Tom Scheunemann, 10. Februar 2014 um 17:57 UTC+01

„Mein Freund, ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin. Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Jeden Tag meine Nachrichten gecheckt.“

Tom Scheunemann, 10. Februar 2014, 17:57 UTC+01

„Ich hab mir die Augen ausgeweint. Mehrmals!“

Kurz hinter der Grenze war Nabil festgenommen worden. Zufällig, willkürlich. Und genauso wahllos ließen ihn die syrischen Behörden nach einigen Wochen wieder frei. Nach seiner Rückkehr ist Nabils Tonfall verändert. Seine Nachrichten, die selbst in Kriegszeiten leicht und scherzhaft blieben, klingen plötzlich düster.

Nabil Talab, 10. Februar 2014, 21:20 UTC+01

„Die Welt ist ein furchtbarer Ort, mein Freund.“

Nabil Talab, 10. Februar 2014, 21:20 UTC+01

„Als ich einsaß, habe ich keine einzige Träne geweint. Jetzt kann ich nicht aufhören.“

Tom Scheunemann, 10. Februar 2014, 21:21 UTC+01

„Dort, wo du gerade bist, ist die Welt vielleicht furchtbar … Aber bitte vergiss nicht … Sie kann so wunderschön sein.“

Tom vermutet, dass Nabil in der Haft gefoltert wurde – aber er hakt nicht nach. So wie er nie nach Nabils Motiven gefragt hat. In seiner Selbstlosigkeit ist Tom pragmatisch. Nabil ist kein politischer Aktivist, er wird nicht gesucht wie andere, die sich im syrischen Widerstand engagieren. Ihnen bei der Flucht zu helfen, wäre vielleicht dringender nötig. Aber Nabil hat eine Ausbildung, die in Deutschland angesehen und rar ist. Um mehr als ein Leben zu retten, spürt Tom, reicht seine Kraft nicht. Aber dieses eine Leben zu schützen hat er sich zur Pflicht gemacht. „Die Welt ist so ungerecht“, sagt Tom. „Und jetzt, nur dieses eine Mal, kann ich etwas ändern.“

Im März 2014 besteigen Nabil und seine Freundin in Homs das Auto eines libanesischen Bekannten. Er bringt die beiden an die Grenze, verhandelt mit den Soldaten am Checkpoint. Nabil bekommt sein Visum für zwei Monate. Mit seiner Freundin bezieht er ein Zimmer in Beirut, das 700 Dollar kostet. Im Libanon gibt es kaum Arbeit; der Flüchtlingsstrom aus Syrien hat die Stimmung zusätzlich angeheizt. Nabil lebt von Erspartem und hofft jeden Tag, dass das Visum aus Deutschland kommt.

Nabil Talab , 3. April 2014, 15:32 UTC+02

„Hey Kumpel. Hab die Botschaft heute angerufen. Weißt du was?!? Ich hab das Visum. 6 Monate.“

Tom Scheunemann, 4. April 2014, 16:33 UTC+02

„WAAAAAAAS???????????????“

Tom Scheunemann, 4. April 2014, 16:34 UTC+02

„Haben wir es geschafft?“

Tom Scheunemann, 4. April 2014, 16:37 UTC+02

„Unglaublich.“

In Beirut senkt sich der Abend über die Minarette und Kirchtürme, und Nabil packt. Drei Hosen, fünf T-Shirts, ein Pullover, zwei Hemden. Eine deutsche Zeitschrift, die ihm ein Austauschstudent geschenkt hat. Dazwischen, sorgfältig verstaut, ein Stapel so dick wie ein Daumen: Dokumente. Zeugnisse, Urkunden, Ausweiskopien. Ein Leben in Klarsichthüllen. Zum Schluss legt er seinen Pass auf den Koffer. Auf Seite sieben klebt das deutsche Visum. „Es ist das Wertvollste, was ich je besessen habe“, sagt Nabil.

Nabil hat die Aura eines Philosophiestudenten: schmales Kinn, eckige Brille. Ein Kindergesicht, aber zu ernst für sein Alter. Er spricht leise, in seinen Bewegungen liegt Höflichkeit, aber auch Scheu. Ein Jahr ist vergangen, seitdem er Tom die erste Nachricht schrieb. Wortlos zeigt Nabil auf seine Turnschuhe: ein Paar grau-schwarze Sneaker. Nabil hat sie im Gefängnis bekommen. „Sie erinnern mich daran, warum ich gehe“, sagt er schließlich, „und nie wieder zurückkomme.“

Nabil hat den Krieg in Syrien vom ersten Moment an erlebt. Er stand auf dem Balkon seines Elternhauses in Daraa, als plötzlich der Strom ausfiel. Er hörte Schüsse, es mussten hunderte Patronen sein. „Bald bricht die Hölle los“, dachte Nabil in diesem Moment. Er sollte recht behalten.

In Homs, wo Nabil studierte, fuhren bald nicht mehr Busse durch die Stadt, sondern Panzer. Sobald es dunkel wurde, zuckten Explosionen durch den Himmel, und wenn Nabil morgens aus dem Haus kam, stieg er über die Opfer der Nacht. Die Geschäfte schlossen, es gab keine Lebensmittel mehr. Und ständig riefen die Eltern seiner Kommilitonen bei Nabil an: Der Sohn sei nicht nach Hause gekommen, ob Nabil wüsste, wo er steckt. „Da war klar: Er ist weg. Im Gefängnis oder tot“, sagt er, und nichts an seinem Ton ändert sich.

Als sie Nabil an der Grenze festnahmen und an die Wand stellten, ihm die Hände auf dem Rücken fesselten und die Augen verbanden, da dachte er an Deutschland. Daran, dass die Menschen dort morgens zur Arbeit gingen und Familie hatten und ihre Tage ein Ziel und einen Sinn. Daran, dass irgendjemand in der deutschen Botschaft gerade seine Papiere sichtete und er dafür am Leben bleiben musste.

Tom Scheunemann, 9. April 2014, 22:35 UTC+02

„Mann, ich kann immer noch nicht glauben, dass es geklappt hat.“

Tom Scheunemann, 9. April 2014, 22:36 UTC+02

„Schätze, ich glaube es erst, wenn du am Flughafen ankommst.“

Um halb fünf morgens kommt das Taxi, außer Soldaten ist niemand auf den Straßen. Im Dunkel läuten Kirchenglocken. Nabil und Mariam, seine Freundin, stapeln ihre Koffer im Fond. Sie sehen einander ähnlich: beide schmal, die Haltung leicht gebückt, als müssten sie sich vor etwas ducken. Auch Mariam ist gefoltert worden, auch sie hat dank der Hilfe eines deutschen Bekannten ein Visum bekommen. Gemeinsam fahren sie das letzte Mal durch die Straßen von Beirut.

Der Taxifahrer gibt Gas, 70 km/h, dann 80. Vorbei an Stacheldraht-Verhauen, an Sandsäcken und Panzersperren. Mit 90 km/h rast das Taxi durch die schiitischen Viertel Beiruts, wo im Winter jeden Monat eine Bombe explodierte. Der Krieg hat Nabil bis hierher verfolgt.

Er sieht aus dem Fenster und kann nicht verhindern, dass ihm die Tränen kommen. Hält Mariams Hand so fest, dass seine Fingerknöchel weiß werden. Das letzte Mal kreuzt Assad ihren Weg: „Hafiz al Assad“, die Stadtautobahn von Beirut, biegt über eine Brücke nach Südosten ab. Aber wenn man die Strecke Beirut–Damaskus sucht, sagt Google Maps: Wir konnten keine Route berechnen.

„Ich werde Syrien vermissen.“ Es geht Nabil nicht leicht über die Lippen. Die Gastfreundschaft der Menschen wird ihm fehlen, dass ein Fremder gleich ein Freund ist. In Deutschland, hat Nabil gehört, gehe man mit Ausländern nicht gut um.

Als Nabil Tom anschrieb, hatte er keine Hoffnung, dass Tom wirklich antworten würde. „Ich dachte, er liest die Nachricht und vergisst sie dann wieder“, sagt Nabil. Jede Woche rechnete er damit, dass Tom aufgeben würde. Bestimmt sind nicht alle Deutschen so, sagt Nabil, aber wenn es nur ein Paar Toms gibt, ist es ein gutes Land.

Um 6.40 Uhr hebt das Flugzeug ab.

Tom Scheunemann, 10. Mai 2014, 12:07 UTC+02

„Das ist vielleicht unsere letzte Facebook-Unterhaltung.“

Drei Stunden und 3000 Kilometer entfernt kocht Tom sich einen Kaffee. Das Wochenende liegt noch als Schatten unter seinen Augen. In Göttingen hat er bis morgens den Geburtstag eines Freundes gefeiert, zu Funk getanzt, „Mexikaner“ getrunken. Er kaut auf einem Brötchen und checkt seine E-Mails. Später steigt er in den ICE nach Frankfurt. Windräder ziehen vorbei, im Bordrestaurant gibt es Königsberger Klopse. Toms Mutter ruft an. Sie hat ein Zimmer hergerichtet. Holzmöbel, hellblaue Wände, über dem Bett ein Kunstdruck von Miró. Sie will dem Besuch noch etwas kochen. Ob Nabil Schweinefleisch isst? Tom zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht mal, wie viele Geschwister er hat“, sagt Tom, als er aufgelegt hat. „Muss ich das, um ihm zu helfen?“

Tom Scheunemann, 10. Mai 2014, 12:08 UTC+02

„Was für ein komisches Gefühl. Ich werde mich daran gewöhnen müssen, dir ins Gesicht zu sprechen.“

Am Flughafen Frankfurt leuchten orange Transparente: „Stilllegung der Nordbahn“, „Müde Kinder lernen nicht.“ Wutbürger haben die Eingangshalle belegt. „Nabil wird sich freuen“, Tom muss grinsen. „Endlich legale Demos!“

Er sieht auf die Anzeigetafel, Ankunft 18.25 Uhr, Ausgang B1. Gleich nach dem Flug aus Barcelona, vor der Maschine aus Tel Aviv.

Ein Jahr hat Tom für diesen Tag gekämpft. Es ist der Beginn eines neuen Lebens für Nabil und gleichzeitig das Ende von Toms Verantwortung. Bald, sagt er, wird Nabil selbst ins Migrationszentrum gehen können, er wird einen Job finden oder Asyl beantragen. „Ich kann ihn gehen lassen“, sagt Tom. Sie werden nicht mehr Flüchtling und Fluchthelfer sein, sondern Freunde. Tom will Nabil den Jahrmarkt zeigen und den Hamburger Hafen.

„Sie sind gelandet“, sagt Tom. „Wahnsinn.“

Einen Raum weiter wuchtet Nabil zwei Koffer vom Band, dazu zwei Mal Handgepäck. Mariam hat noch eine Extra-Tasche: darin Reis und Tomaten, Bulgur, Zwiebeln und Labne. Sie hat gehört, dass das Essen in Deutschland teuer sei, und hütet den Beutel wie einen Notgroschen.

Nabil war noch nie an einem derart großen Flughafen. Eine Halle voller Glas und Stahl, die Luft ist kalt und klar. Überall Rolltreppen, Türen, gewundene Gänge. Nabil fährt sich durch die Haare, sein Atem ist hastig. Es ist der schönste Tag, aber er spürt nichts als Angst. Über der letzten Tür steht „Exit“, dabei ist es für Nabil der Eintritt in ein Leben voller Pünktlichkeit und Ordnung, aber ohne den syrischen Sonnenschein und ohne den gewürzten Reis, den seine Mutter ihm immer kocht. Es wird Jahre brauchen, bis Nabil Deutschland sein Zuhause nennen kann. Er weiß das, will sich anstrengen: Deutsch lernen, mit dem Rauchen aufhören, im Bus immer ein Ticket lösen. Aber wird das genug sein?

Und dann ist da Tom. Was soll er zu ihm sagen? "Wie geht's dir? Was hast du die letzten drei Jahre gemacht?"

Was ist ein guter erster Satz, nachdem dir jemand das Leben gerettet hat?

Dann öffnet sich die Glastür. Dahinter steht Tom.

Nabil Talab, 10. Mai 2014 um 12:18 UTC+02

„Bis dann und dort!“

Tom Scheunemann, 10. Mai 2014, 12:20 UTC+02

„Bis dann. Wir sehen uns!“

Tom macht ab Herbst seinen Master in Politikwissenschaft. Er lebt in Hamburg. Nabil ist Praktikant in einer Klinik in Kassel. Weil sein Visum bald ausläuft, bemüht er sich um eine Stelle als Arzt.

Mitarbeit: Jan Ludwig

Diese Reportage ist für den CNN Journalist Award im deutschsprachigen Raum nominiert worden.

Alexandra Rojkov

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