zum Hauptinhalt
"Wir sind heute zu Ihnen gekommen..." - der Rest ist Jubel. Hans-Dietrich Genscher und sein Auftritt auf dem Balkon der Prager Botschaft am 30. September 1989 ist ein Gänsehaut-Moment der deutschen Geschichte.
© dpa

Hans-Dietrich Genscher: "Wir sind zu Ihnen gekommen ..."

Es ist einer der Gänsehaut-Momente der deutschen Geschichten. Zum 20. Jahrestag seiner Rede in der Prager Botschaft erinnerte sich Genscher hier 2009 selbst an den Moment.

Es gibt Ereignisse, die sehnt man herbei, man arbeitet dafür, man denkt stets daran, sie bewegen einen, und plötzlich zeichnen sie sich ab. So war es für mich mit der deutschen Vereinigung und mit dem Weg dorthin.

Als ich 1952 meine Heimatstadt Halle verließ und „in den Westen“ ging, war ich mir ziemlich sicher, es würde nicht ein Abschied für immer sein. Je tiefer die Spaltung wurde, umso mehr bewegte mich der Gedanke: „Was muss geschehen, damit alle Deutschen zusammen und in Freiheit leben können?“ Während der Verhandlungen über die Ost-Verträge hatte ich als Innenminister dafür zu sorgen, dass die Verträge vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben würden. Ab 1974 war ich dann selbst als Außenminister verantwortlich für die Außenpolitik. Besonders verpflichtet fühlte ich mich den Menschen in meiner Heimat, ihr Los zu erleichtern und das Tor zur Einheit zu öffnen. Das forderte ich in jedem Jahr vor den Vereinten Nationen. 1985 kam Gorbatschow. Bald schon rief ich dazu auf, ihn ernst zu nehmen und eine historische Chance nicht zu versäumen.

1989 war sie da, in der DDR brodelte es, vor allem nach der gefälschten Kommunalwahl.

Immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen in unsere Botschaften. Ich lehnte das DDR-Verlangen ab, sie schließen zu lassen. Über Ost-Berliner Rechtsanwälte hatte sich ein Verfahren entwickelt, das ihnen dann die Ausreise ermöglichte, wenn sie für einige Monate in die DDR zurückkehrten. Nachdem durch die mutige Entscheidung der ungarischen Regierung die ungarisch-österreichische Grenze am 11. September geöffnet wurde, schloss sich die tschechisch-ungarische Grenze. Die Zahl der Flüchtlinge in Warschau, aber vor allem in Prag, wurde größer und größer. Die damalige tschechoslowakische Führung machte zur Voraussetzung der Ausreise eine Zustimmung der DDR-Regierung.

Gesundheitlich war ich in einer miserablen Verfassung. Zuerst ein chirurgischer Eingriff im Nierenbereich, dann am 20. Juli ein Herzinfarkt. Die Verhandlungen mit der ungarischen Regierung konnte ich nur durch persönliche Mitarbeiter mit dem Außenminister Gyula Horn führen, bis es schließlich am 25. August 1989 im Schloss Gymnich zu dem Zusammentreffen von Bundeskanzler Kohl und mir mit Ministerpräsident Németh und Außenminister Horn kam.

In Prag gab es keine Fortschritte. Keineswegs genesen, ging es am 24. September 1989 nach New York. An meiner Seite meine Frau und zwei Kardiologen, mit bedenklichem Stirnrunzeln. Aber ich musste nach New York, dort würde ich DDR-Außenminister Oskar Fischer sprechen können und auch den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse. Zu Fischer hatte sich im Laufe der Jahre ein zwar kühles, aber respektvolles Verhältnis entwickelt, mit Schewardnadse war längst eine persönliche Vertrautheit entstanden.

Zuerst traf ich Fischer. Ich legte ihm die Lage dar. Es waren schon etwa dreieinhalbtausend Menschen in der Prager Botschaft. Ich verwies auf die katastrophalen Unterbringungsmöglichkeiten und auf die Probleme, die entstehen, wenn so viele Menschen, Männer, Frauen und Kinder auf engstem Raum zusammengedrängt sind. Er verwies auf die bisherigen Regelungen: Anwaltliche Vertretung, Rückkehr in die DDR und Ausreise nach mehreren Monaten.

Ich sagte ihm, dazu sei niemand mehr bereit, es müsse ein direkter Weg gefunden werden. Mein Eindruck: Außenminister Fischer nahm meine Argumente ernst, und er wollte helfen. Seine Reaktion: Er wolle darüber nach Rückkehr nach Ost-Berlin mit Honecker sprechen. Ich musste ihm sagen, bis zu seiner Rückkehr in zwei oder drei Wochen hätten wir nicht mehr Zeit. Bei unserem zweiten Treffen in New York fragte ich: „Wo liegt Ihr Problem?“ Antwort: Man müsse die Souveränität der DDR wahren, deshalb müssten die Leute zurückkehren. Ich bot ihm zwei Alternativen an:

Erstens: DDR-Konsularleute kommen in unsere Botschaft und stempeln dort die DDR-Pässe, dann rollen die Züge über die tschechisch-bayerische Grenze.

Zweitens: Die Züge fahren durch die DDR in die Bundesrepublik.

Nachdenklich nahm er meine Vorschläge auf, er müsse mit Ost-Berlin sprechen. Meine Rückkehr war für Freitag, den 29. September vorgesehen. Mein UN-Besuch 1989 verlief gänzlich anders als normalerweise. Die Gespräche über die Flüchtlinge in Prag hatten absoluten Vorrang. Am Donnerstag, dem 28. September, sprach ich mit Eduard Schewardnadse ein zweites Mal und noch eindringlicher. Sind Kinder dabei? Ja, Hunderte, die leiden besonders. Seine Antwort: „Ich helfe Ihnen.“

Das zweite Gespräch machte er möglich, wenn ich sofort kommen könne. Da bei mir der ganze Tag für Gespräche im Hotel vorgesehen war, standen keine Fahrzeuge zur Verfügung. Was tun in der spätnachmittaglichen Hauptverkehrszeit in New York? Ein Taxi? Wir hätten mehr als eine Stunde gebraucht. Mein Mitarbeiter Frank Elbe hatte die richtige Idee. Er hielt ein Fahrzeug der New Yorker Verkehrspolizei an. Er sagte: „Wir müssen dringend zur sowjetischen Botschaft.“ Antwort: „Na und.“ Er zeigte auf mich und sagte: „Das ist der deutsche Außenminister!“ Achselzucken, dann sagte er, es gehe um die Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Antwort: „Steigen Sie ein.“ Mit Blaulicht und Sirene erreichten wir die sowjetische Botschaft, das Gespräch mit Schewardnadse konnte sofort beginnen.

Die Zeit verrann. Am Freitagmorgen, bis wenige Stunden vor der Abreise, gab es immer noch nichts

"Ich sprach ins Dunkle hinein" - Wie Genscher den Moment erlebte

Botschaft
Zelte für die DDR-Flüchtlinge stehen im Innenhof des deutschen Botschaftsgelände in Prag. -
© dpa

Neues. Sollte ich nochmals bei Oskar Fischer oder bei Eduard Schewardnadse intervenieren? Während wir noch darüber nachdachten, kam ein Anruf des Ministerbüroleiters von Fischer: Es lohne sich immer, mit Oskar Fischer zu sprechen, der Ständige Vertreter der DDR werde mir am nächsten Morgen in Bonn – ich hatte Fischer meinen Abreisetermin mitgeteilt – im Auswärtigen Amt die Einzelheiten bekanntgeben. Das war die erlösende Nachricht. Noch aus New York rief ich sofort Helmut Kohl mit der guten Nachricht an, anschließend informierte ich Rudolf Seiters, den Chef des Bundeskanzleramtes. Der DDR-Vertretung ließ ich meinen Dank für die Bemühungen Fischers ausrichten und hinzufügen, ich würde den Ständigen Vertreter der DDR nicht im Auswärtigen Amt, sondern im Bundeskanzleramt empfangen. Auch in dieser wirklich dramatischen Lage wollte ich „Kleiderordnung“ wahren, die DDR war für uns nicht Ausland, deshalb war für den Ständigen Vertreter der DDR das Bundeskanzleramt zuständig. Rudolf Seiters bat ich, an dem Gespräch teilzunehmen.

In New York ging es zum Flugplatz. Normalerweise schlief ich in der Maschine auf einer provisorisch als Bett hergerichteten Sitzbank, doch diesmal war meine innere Erregung zu groß, ich habe nur wenig geschlafen.

Begriff eigentlich die Welt, was sich in 20 Tagen ereignet hatte? Als Ungarn am 11. September 1989 die Grenze öffnete, gab es wütenden Protest aus Ost-Berlin und nur 20 Tage später eine Kehrtwendung. Ost-Berlin sagte Ja zur Ausreise aus Prag. Viereinhalbtausend ebenso verzweifelte wie entschlossene und mutige Menschen hatten es bewirkt. Es hatte sich gelohnt, dass wir an der gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit festhielten, und es hatte sich gelohnt, dass wir – das Auswärtige Amt – trotz Druck und Kritik unsere Botschaften selbstverständlich für jeden Deutschen aus der DDR offen hielten, so schwierig die Lage in den Botschaften, vor allem in Prag, war. Nicht für jeden im Westen war das selbstverständlich.

Am Morgen kam ich in Bonn an, ich nahm ein Bad, frühstückte mit meiner Frau, und dann ging es ins Auswärtige Amt, wo ich am Samstagmorgen im engsten Kreis eine Lagebesprechung abhielt. Dann ging ich ins Bundeskanzleramt, wo ich den Ständigen Vertreter der DDR empfing. Er teilte mit, dass man sich für die zweite Alternative, die Ausreise über die DDR entschieden habe. Die Ausreise könne noch am Abend dieses Samstags, am 30. September 1989, beginnen.

Ich sagte daraufhin, es sei voraussehbar, dass es unter den Flüchtlingen erheblichen Widerstand gegen die Fahrt durch die DDR geben werde. Es sei deshalb nötig, dass ich nach Prag reise, dort direkt zu den Flüchtlingen spreche und als vertrauensbildende Maßnahme im ersten Zug mitfahre, den zweiten Zug werde dann Minister Seiters begleiten. Der Ständige Vertreter wollte darüber mit seiner Regierung sprechen, dann kam das Einverständnis. Später wurde dieses Einverständnis zurückgezogen, ich ließ es darüber nicht zum Streit kommen, denn ich wollte Gegnern der Lösung in Ost-Berlin keine Chance geben, das Projekt doch noch zum Scheitern zu bringen. Für mich war es schwer verständlich, dass sich Ost-Berlin für die Fahrt durch die DDR entschieden hatte, denn Züge mit tausenden von Flüchtlingen durch die DDR – das musste wie ein Fanal wirken. So kam es dann auch.

In Prag wurden wir von dem Staatssekretär im Außenministerium auf dem Flugplatz offiziell begrüßt, dann ging es in die Botschaft. Vor der Botschaft standen zahlreiche Journalisten, darunter viele von Fernsehanstalten und Fotografen. Ich bat um Verständnis, dass keiner von ihnen mit in die Botschaft kommen könne. Mir ging es allein darum, den Gegnern der Lösung in Ost-Berlin jedes Argument, wie das großer Publizität, zu nehmen. So erklärt es sich, dass das bekannte Fernsehbild vom Balkon eine so schlechte Qualität hat. Nur einem Fernsehkameramann war es gelungen über ein Nachbarhaus in den Botschaftsgarten zu gelangen, dort war er allein auf die Lichtquelle an seiner Kamera angewiesen.

Als ich die kleine Eingangstür in dem großen Tor durchschritten hatte, stellte ich fest, dass selbst der Torbogen für die Aufstellung von Betten – drei übereinander – genutzt wurde. Ich schob mich hindurch, betrat das Treppenhaus des Palais Lobkowicz und stieg hinauf über Menschen hinweg, die auf den Treppenstufen lagen. Manche hatten offensichtlich schon alle Hoffnung aufgegeben, und viele realisierten auch nicht, wer da über sie hinweg stieg.

Fluechtline
Mutter und Tochter verabschieden sich. -
© dpa

Im Arbeitszimmer des Botschafters saßen wir zusammen mit Botschafter Huber, der mit seiner französischen Frau in seiner wunderbaren menschlichen Art zu einem wirklichen Herbergsvater für tausende deutscher Mitbürger geworden war. Durch seine Art hatte er auch seine Mitarbeiter und auch alle, die – vor allem vom Deutschen Roten Kreuz – nach Prag entsandt worden waren, immer wieder motiviert. Auf dem Balkon konnte ich – geblendet von der Kameralampe – nur die vielen Menschen, die zwischen den Zelten standen, in Umrissen erkennen. Ich sprach ins Dunkle hinein. Schon der Beginn: „Liebe deutsche Landsleute“ ging im Jubel unter. Dann die entscheidenden Worte: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise“, der Rest „heute möglich geworden ist“ ging im Jubel unter. Großer Beifall, als ich sagte, der erste Zug werde noch am selben Abend fahren. Er sei für Familien mit Kleinstkindern vorgesehen. Und dann die Beschreibung der Reiseroute durch die DDR und der befürchtete Stimmungswandel. „Nein niemals.“ Es war die Angst, die DDR könnte die Züge anhalten und die Leute herausholen. Jetzt zeigte sich, wie richtig es war, dass ich nach Prag gekommen war. Ich fuhr fort: „Sie wissen, dass ich selbst einmal die DDR verlassen habe. Sind Hallenser hier?“ Von überall her hörte man „Ja“ und dann: „Ich kann Sie gut verstehen, aber ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts geschehen wird.“ Das war ein großes Wort, aber ich vertraute der DDR-Führung – wie sich zeigte, zu Recht.

Dennoch, als ich nach der Rückkehr die Mitteilung erhielt, der erste Zug sei in Hof angekommen, fiel mir doch ein Stein vom Herzen. Der Rückflug war problemlos, aber die tiefe innere Erregung, die mich seit Stunden bewegte, blieb. Auf dem Balkon war ich froh gewesen, vor mir die feste Steinmauer zu haben, denn schwere Herzrhythmusstörungen plagten mich. Kein Wunder nach dem Auf und Ab der letzten Tage, nach der Anspannung bei meinen Verhandlungen in New York, nach den Wechselbädern der Stimmung und natürlich auch den körperlichen Anstrengungen.

Ich bin nicht sicher, wie Professor Kessler und sein Oberarzt, die mich begleitet hatten, diese Nachinfarkttherapie beurteilten. Aber es musste sein. Wenn man ein öffentliches Amt von dieser Verantwortung hat, muss man es ganz und gar ausfüllen, oder man muss es aufgeben. Im Flugzeug von Prag nach Bonn empfand ich meine körperlichen Probleme zum ersten Mal, aber viel stärker waren unendliche Dankbarkeit, tiefe Freude und Demut. Ich fragte mich, was wird das, was heute geschieht, bedeuten? Es wird tiefe Wirkungen haben, es wird den Widersinn der Mauer noch stärker ins Bewusstsein der Menschen bringen. Das wird die Mauer nicht lange überleben lassen. Wie lange? Das konnte niemand sagen.

Ja, es war der entscheidende Schlag gegen die Mauer. Die Flüchtlinge, die nichts anderes wollten, als leben zu können, wie es ihren Vorstellungen entspricht, hatten es bewirkt. So, wie die Menschen am 9. Oktober 1989 in Leipzig und überall in der DDR. Die Mauer wurde vom Osten her zum Einsturz gebracht. Das war ein wirklicher Volksentscheid – das war Demokratie von unten.

Hans-Dietrich Genscher ist in der Nacht zum 1. April im Alter von 89 Jahren gestorben. Lesen Sie hier Reaktionen auf seinen Tod, ein Nachruf und einen Kommentar zur Liebe der Ostdeutschen zu Genscher.

Zur Startseite