Vorher-nachher-Vergleich: Wie Berlin zur Autostadt wurde
Weniger Autos, mehr Fußgänger: Was die Verkehrssenatorin sich wünscht, ist nicht trivial. Der Kraftverkehr hat 130 Jahre Vorsprung. Eine Spurensuche in Bildern.
Barfuß spielten die Kinder auf der Brücke über die Ringbahn, patschten durch Pfützen mitten auf der Straße. Ein Sommer kurz vor der Jahrhundertwende an der Knobelsdorffstraße in Charlottenburg. Heinrich Zille fotografierte diese Szene nicht weit von seinem Zuhause: Hinter der Brücke links in der Sophie-Charlotten-Straße, wo die Bürgersteige fast genauso breit waren wie das Pflaster dazwischen.
Zille fotografierte auf solchen Ausflügen oft Reisigsammlerinnen, die mit schwer beladenen Handkarren aus dem Grunewald zurückkehrten. Aber ob er Autos ausweichen musste? Eher unwahrscheinlich, erst sechs Jahre zuvor hatte der erste Berliner die Zulassung für seinen Wagen erhalten und der Verkehr konzentrierte sich zunächst anderswo.
Ein "recht hässlicher Geruch"
Einen "recht hässlichen Geruch" habe es verbreitet, notierten Berliner Polizisten. Trotzdem verpassten sie dem Benz ein Kennzeichen: A-1 – das erste amtlich registrierte Auto der aufstrebenden Metropole, im Jahr 1892. Es sah mehr nach einer Kutsche aus und war kaum schneller als Pferdewagen. Ein herrliches Gefühl wird es doch gewesen sein, als einziger durch die Stadt zu knattern. Ohne Ampeln an Droschken vorbei, deren Kutscher die scheuenden Pferde mühevoll zurückhielten. Ganze Familien spazierten auf der Straße entlang und schauten den ersten Kraftkutschen neugierig nach. Das Motorengeknatter sollte bald zum ständigen Hintergrundgeräusch im anschwellenden Getöse der Großstadt werden.
120 Jahre nach Zilles Momentaufnahme an der Knobelsdorffbrücke würde kaum jemand seine Kinder dort freiwillig hinführen. Es stinkt stark nach Abgasen, die der Wind von unten in die Nase treibt. Schuld ist die verstopfte Stadtautobahn, die sich neben den Gleisen der Ringbahn entlang zieht.
Die Brücke, ein asphaltierter Nachbau, ist vom Schwerlastverkehr so stark beschädigt, dass die dicksten Brummis nicht mehr passieren dürfen. Auf dem Weg zu Zilles altem Wohnhaus fällt auf, wie schmal die Bürgersteige der Sophie-Charlotten-Straße geworden sind. Sonst wäre auch kein Platz für die quer zur Fahrbahn geparkten Autos. Ein Kind, das hier auf die Straße treten will, wird leicht übersehen.
Wenn die Stadt es nicht schafft, kostengünstige Wohnungen in der Nähe der Arbeitsplätze der Menschen zu organisieren, dann sollte die Stadt doch wenigstens dafür sorgen, dass die Leute, ohne Mondpreise bezahlen zu müssen, zur Arbeitsstelle kommen können.
schreibt NutzerIn snrab
"Gehen, Reiten, Radfahren und Viehtreiben"
Kinder um die Jahrhundertwende waren am Ende ihres Lebens Zeugen einer unglaublichen Transformation geworden. "Gehen, Reiten, Radfahren und Viehtreiben sind gegenwärtig durchweg gestattet", hieß es im preußischen Wegerecht von 1905. Doch im schneller und dichter werdenden Verkehr der Folgejahrzehnte störten Fußgänger und Radfahrer. Erst links schauen, dann rechts - sonst droht der Tod. Das gilt bis heute. Jede neue Fahrspur einer Ausfallstraße galt als Fortschritt, bis sich Stadtplaner in den Sechzigern langsam vom Leitbild der autogerechten Stadt abwandten.
Dennoch ging es in Teilen der Stadt auch zu Mauerzeiten noch vergleichsweise gemächlich zu. Das Foto der Kreuzberger Oranienstraße vermittelt diesen Eindruck. Ein paar Autos parkten um 1970 an den Straßenrändern, gemächlich schlenderten zwei Männer über die Straße. Welchen Verkehr sollte eigentlich die Ampel auf dem Bild regeln? Ein knappes halbes Jahrhundert später ist es vorbei mit der relativen Ruhe. Die grüne Bezirksbürgermeisterin spricht von "Chaosstraße" und will Autos am liebsten gar nicht mehr hineinlassen. "Radfahrerhölle" schimpfen Fahrrad-Aktivisten die O-Straße.
Auch auf der anderen Seite der Mauer blieb noch Platz am Straßenrand. Die großen Trabi-Ansammlungen fanden sich vor dem Palast der Republik oder am Bebelplatz. In Prenzlauer Berg, wo die DDR viele Altbauten sich selbst überlassen hatte, gab es bis zur Sanierungswelle nach der Wende massig Parkraum. Heute müsste man in der Christinenstraße die Autos fast schon stapeln.
Verkehrswende mit noch mehr Autos?
Die Verkehrswende soll besonders Fußgängern und Radfahrern zugute kommen, wenn der Platz in der Stadt gerechter verteilt wird. Die Verlängerung der Stadtautobahn A 100 über den Treptower Park hinaus, eigentlich vor Jahren beschlossene Sache, ist ins Stocken geraten. Ein drohender Volksentscheid über sichere und besser ausgebaute Radwege setzte den Senat so stark unter Druck, dass er die meisten Forderungen in ein Gesetz aufnahm. Die Stadt soll noch weit mehr Poller bekommen, die rücksichtslose Falschparker aussperren, besonders von Radstreifen auf der Straße. Nicht einmal der Parkplatz vor der Haustür gilt mehr als sicher.
Die Realität zeigt aber auch in eine andere Richtung: Das Auto ist in Berlin noch beliebter geworden, die Zulassungszahlen sind zu Beginn des Jahres 2018 auf 1,2 Millionen Fahrzeuge gestiegen. Wenn zukünftig schmutzige Dieselfahrzeuge durch Elektroautos ersetzt werden, mag sich die Luftqualität etwas verbessern, doch die Straßen bleiben voll. Mobilität verlagert sich nicht einfach vom Auto weg, auch nicht durch einen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr. Eher nimmt der Verkehr noch weiter zu. Lieferanten verstopfen die Straßen mit Online-Bestellungen, die kaum jemals alle mit dem Lastenrad transportiert werden können. Besonders dann nicht, wenn auch Lebensmittel an die Wohnungstür gebracht werden.
Auf Radwegen wird es enger, falls sich dort Elektro-Roller und E-Skateboards breit machen dürfen. Spielstraßen werden nicht von selbst zum Kinderspielplatz, nur weil dort ein Schild hängt. Und wer sitzt schon gerne auf einem Parklet genannten Inselpodest zwischen parkenden Autos, wenige Zentimeter neben dem fließenden Verkehr? Die Verkehrswende, sie muss erkämpft werden. Manchmal heißt das: Poller für Poller.
Weitere Vorher-Nachher-Bilder:
Wassertorplatz, 1900. Der Blick geht durch die Gitschiner Straße. Oben wurde die U1 gebaut, unten rumpelte eine Pferdekutsche über das Kopfsteinpflaster. Der Kutscher vorne auf dem Bock zog wohl am Kottbusser Tor die Zügel an. An der Nordseite standen die Häuser direkt an der Hochbahn. Die zweite Fahrbahn entstand später.
Kottbusser Tor, 1902. Mit dem Kinderwagen über die Skalitzer Straße.
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