Nachtisch mit Fenchel und Pastinaken: Gemüse zum Dessert
Olivenölpudding, Avocado-Ingwer-Parfait und Tomatengratiné – ein süßer Nachtisch muss nicht mehr als Mousse au Chocolat oder Panna cotta daherkommen. Womit Spitzenköche heute experimentieren.
Interessant, murmeln die einen, igitt!, rufen die anderen. Gemüse zum Dessert? Sind die Veganer jetzt völlig durchgeknallt, oder was? Wollen uns die Gesundheitsapostel um jeden Genuss bringen?
Von wegen: Vor allem in der Spitzenküche werden Pastinaken, Avocado & Co neuerdings zur süßen Krönung des Menüs serviert. Im Beelitzer „Kochzimmer“ gesellt sich die Urkarotte zur gebackenen Banane, der „Feinschmecker“ feiert Thomas Yoshidas „frühlingsfrisches, bezaubernd aussehendes Dessert aus Erbse, Minze und Kokosnuss, eine nicht zu süße Symphonie aus Schaum, Creme und Gelee“ im Berliner „Facil“. Und Christian Hümbs, der für seine Gemüse-Desserts bekannte Chef-Patissier des „Haerlin“ im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten, legt die zarten inneren Blätter eines Kopfsalats mit weißer Schokolade, Gurke und Maracuja auf den Teller: „Schokolade und Salat bringen eine sanfte Süße, die Salatgurke Frische, die Maracuja fruchtige Säure“, so Hümbs.
Sterneköche stehen unter besonderem Originalitäts-Druck. Gäste, die ein paar hundert Euro für ein Dinner zahlen, geben sich nicht mit Schoko-Mousse und Crème brûlée zufrieden. Sie wollen überrascht, ja, überwältigt werden. Und Spitzenköche haben Lust am spielerischen Experiment, verfügen über Technik, Können und Ideen, um aus Erbsen und Möhren etwas zu entwickeln, was den Gästen mehr als ein „interessant“ entlockt. In den besten Fällen ein „wow!“.
Pastinaken-Birnen-Creme mit Schnittlauch
„Mohn – Pastinake – Rettich“ steht im Kreuzberger „Horváth“ als Dessert auf der Karte. Das klingt harmloser, als es ist. Sebastian Frank, gerade mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet, macht damit Kunststücke. Er röstet den Mohn stark an, das Öl kommt ins Schafsjoghurt-Parfait, der Mohn-Satz beim Servieren obendrauf, und die begleitende Pastinaken-Birnen-Creme wird mit den scharfen Trieben des Rettichs und eingelegten Radieschen mit Schnittlauch gekrönt.
Der Österreicher hat auch schon Petersiliensorbet und Olivenölpudding zum Nachtisch serviert. Der 35-Jährige, der bei den Hauptgängen ebenfalls einheimisches Gemüse in den Mittelpunkt rückt, stützt sich bei seinen ungewöhnlichen Desserts zwar auf die Techniken der klassischen Patisserie, aber bricht deren Traditionen auf. „Durch Gemüse kann man dem Ganzen einen kreativen Kick mitgeben, Nuancen der Aromatik erweitern.“
Als Frank nach dem Ende seiner Ausbildung 1999 anfing, selber in Spitzenrestaurants essen zu gehen, bekam er fast überall das Gleiche vorgesetzt: „Die Paradedisziplin der Patissiers war damals Dreierlei von Schokolade. Man hatte schon sechs, sieben Gänge gegessen, und dann kam Schokolade mit Schokolade mit Schokolade, die hat einem den Gaumen zugekleistert und den Bauch gefüllt.“ Frank setzt Schokolade lieber als Würze ein, auch im herzhaften Bereich.
Es geht um Harmonie
Mit ihren Gemüsedesserts wollen die Köche beeindrucken, nicht schocken. Neben Kontrasten geht es um Harmonie. Aus demselben Grund gibt man ja auch Zucker in die Salatsauce oder Tomatensuppe: nicht um den Geschmack zu übertünchen, sondern, umgekehrt, erst richtig rauszukitzeln. Man muss es ja nicht gleich wie die Lebensmittelindustrie machen, die tonnenweise Zucker – nach Fett der wichtigste Geschmacksverstärker – in ihre Produkte kippt. In 100 Gramm Ketchup stecken stecken schon mal 25 Gramm Zucker. Praktisch Marmelade.
Süß ist süß, und herzhaft ist herzhaft – eine so strikte Trennung existiert ohnehin nicht. Melone kann man mit Schinken als Vorspeise essen oder einfach so zum Dessert. In viele Nachspeisen kommt eine Prise Salz, in die Schokolade Pfeffer, während Rotkohl mit Johannisbeergelee gewürzt wird. Die Elsässer streichen sich die Leberpastete auf den Honigkuchen, und wer es noch nicht probiert hat: Erdbeermarmelade auf altem Gouda schmeckt ganz köstlich.
Gouda mit Marmelade
Ganz neu ist die Grenzüberschreitung also nicht. Karottenkuchen und Pumpkin Pie sind längst Klassiker, auf die sich selbst Vitamin-hassende Kinder stürzen, in schlechten Zeiten dienten Pastinaken als Bananenersatz. Tomaten und Erdbeeren sind einander so ähnlich, dass Niki Segnit in ihrem die häusliche Experimentierlust inspirierenden „Geschmacksthesaurus“ empfiehlt, sie einfach mal auszutauschen, den Burger mit Erdbeeren zu belegen und das Törtchen mit Tomaten.
Die haben es Christian Hümbs mit ihrer Vielseitigkeit besonders angetan. Der Hamburger kombiniert sie zum Beispiel mit Zartbitterschokolade, Wacholder und Kerbel. Auch mit den Texturen experimentiert der Konditor und Koch, der gerade sein erstes Buch veröffentlicht hat („Richtig backen“, Dorling Kindersley) gern. Macht aus der Tomate Chips, Eis und Biskuit, verblüfft mit einer Gratiné, die intensiv nach Tomate schmeckt, aber nicht nach ihr aussieht, so klar, wie sie ist.
Desserts werden leichter
Der 36-Jährige liebt schon mal einen Knalleffekt. Und seinen Thermomix. „Durch die technischen Möglichkeiten ist in der Küche inzwischen alles möglich.“ Die reife Tomate besteht ja zu 80 Prozent aus Wasser. Wenn Hümbs die Feuchtigkeit mit seinem Hochleistungsdörrgerät rauszieht, „bleibt am Ende der reine Geschmack, die Süße der Frucht“. Das kann man, nicht ganz so extrem, zu Hause nachmachen: indem man Tomaten, mit etwas Zucker bestreut, bei niedriger Temperatur stundenlang im Backofen trocknet.
„Desserts werden leichter“, so Hümbs, Ob aus Geschmacks- oder Gesundheitsgründen, viele mögen’s heute nicht mehr so zuckersüß. In der fortgeschrittenen Nachtischküche greift man daher auf die natürliche Süße von Produkten wie Gemüse zurück, das, anders als Zucker, eigene Aromen und Facetten mitbringt. Erbsen, Möhren, Paprika … Wenn man erst mal anfängt zu überlegen, fragt man sich bald, was ist eigentlich nicht süß?
„Es gibt nichts, was man nicht zum Dessert verarbeiten kann“, glaubt Sebastian Frank. Wurzelgemüse – „vollmundig süß“ – eignet sich besonders gut. Der Winter ist daher die beste Zeit zum Experimentieren, jetzt haben Kürbis, Möhren und Pastinaken, Petersilienwurzeln, Sellerie und Topinambur, Rote Bete und Süßkartoffeln Hochsaison.
Wobei: Ist das überhaupt noch Gemüse – oder schon Frucht? Oder ein multifunktionales Zwitterwesen. Maronen zum Beispiel kann man, mit Puderzucker karamellisiert, zu Suppe verarbeiten oder, püriert und mit Schlagsahne vermischt, zum Nachtisch servieren. Der als Ravioli- wie als Kuchenfüllung prädestinierte Kürbis wird ganz offiziell als „Fruchtgemüse“ bezeichnet, während Rhabarber, bei uns vor allem bekannt aus Kuchen und Kompott, in Wirklichkeit ein Gemüse ist.
Rote Bete macht den Kuchen saftig
Veganern kommt die neue Dessertkultur natürlich besonders gelegen. Denn geraffelte Zucchini lockert den Kuchen auf, Rote Bete macht ihn saftig, und auch bei der cremigen Avocadomousse merkt man nicht, dass Eier und Sahne fehlen. In der regulären Küche allerdings ist das Gemüse Ergänzung, nicht Ersatz. So wie in Julie Andrieus Kochbuch „Alles Gemüse“ aus dem Gerstenberg Verlag, das Lust aufs heimische Experiment macht: Avocado-Ingwer-Parfait, Fenchel-Apfel-Crumble, Rote-Bete-Muffins mit Aprikosen – die Rezepte der Französin sind ungewöhnlich, aber nicht kompliziert.
Was sie ebenfalls mit Sterneköchen und Eispatissiers verbindet: Das Gemüse tritt nicht als Solist auf, sondern immer als Teil eines Orchesters. Die Dosis macht’s. Mit Fenchelsamen gewürzte Orangenkekse etwa schmecken sehr apart, Karotte an Karotte an Karotte dagegen wäre ein Overkill. Außerdem, warnt Christian Hümbs, kommt man dann der Vorspeise zu nahe, die ihrerseits lieblicher geworden sei, vor allem um den nachfolgenden Fisch nicht mit zu starken Aromen zu erschlagen. „Der ist ja extrem sensibel.“ Für einen harmonischen Bogen im Menü arbeitet Hümbs gerade beim „Pre-Dessert“ auch noch stärker mit herzhaften Zutaten, als sanfteren Übergang. Normalerweise komme nach dem Hauptgang mit rotem Fleisch, kräftiger Sauce und schwerem Rotwein ein Schnitt – und mit dem Dessert was ganz anderes.
Farbe auf dem Dessertteller
Noch einen Vorteil haben Kräuter und Gemüse: Sie bringen Farbe auf den Teller. Klassische Desserts wie Panna cotta oder Mousse au Chocolat kommen meist weiß oder braun daher. Erbsen dagegen leuchten in zartem Grün, Kürbis strahlt in kräftigem Orange, die Bete knallt rot.
Dass das Gemüse im Dessert eine reine Modeerscheinung ist, die wieder verschwindet, glaubt Sebastian Frank nicht. Dazu ist ihre Vielfalt zu reizvoll. Der Österreicher liebt die Spannbreite zwischen cremig und crunchig, zwischen vollmundig süßem Wurzelgemüse und wässrigen Tomaten, mag den Biss des Stangenselleries. Den vakuumiert er in einer Salz-Zuckermischung mit Vanille und Zitronenzesten, friert ihn zur Gratiné und bricht ihn später über ein cremiges Dessert. Kontraste schaffen, Spannung auf dem Teller aufbauen: Darum, so der Chef des „Horváth“, geht’s ja bei jedem Gericht. Egal ob herzhaft oder süß. Denn, ergänzt Christian Hümbs, „der Mund langweilt sich schnell“.
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