zum Hauptinhalt
Egon Bahr 1975 als Bundesminister.
© Imago

Nachruf: Egon Bahr: Der Wegbereiter

Die neue deutsche Ostpolitik – das war das Lebenswerk von Egon Bahr. Doch seine Gegner verunglimpften ihn wie kaum einen anderen. Ein Nachruf.

Egon Bahr, diesem von Gestalt so kleinen und von der Ausstrahlung her so großen Mann, war es bis in die letzten Lebenstage hinein vergönnt, für das zu werben, was sein politisches Leben mehr als ein halbes Jahrhundert bestimmt hatte: dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen solle. Dass im Gegenteil dieses Land, in dem der Keim für so viel furchtbare Zwietracht und Gewalt gelegt worden war, hinfort eine Rolle als versöhnende und ausgleichende Macht auf dem mit dem Blut vieler Schlachten und Grausamkeiten getränkten alten Kontinent spielen solle.

Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung haben am Ende jene Politik bestätigt, für die er unter dem Rubrum „Wandel durch Annäherung“ anderthalb Jahrzehnte geworben und die er unter bösen Diffamierungen an der Seite Willy Brandts durchgesetzt hatte. In der Nacht zum Donnerstag ist Egon Bahr gestorben, in Berlin, der Stadt, die ihm am Herzen lag.

Kein deutscher Politiker der Nachkriegszeit ist so wie Bahr und Brandt, die beiden Sozialdemokraten, verunglimpft worden, als Vaterlandsverräter und Erfüllungsgehilfe der Spalter Deutschlands. Sicher hat Bahr, wie fast jeder, dem der klare Verstand dies auch in hohem Alter noch erlaubt, seine Rolle und die seines Kanzlers angesichts der späteren Ereignisse in noch rosigerem Licht erscheinen lassen, als die historischen Fakten dies wohl hergeben – ob er tatsächlich immer an die Wiedervereinigung der Nation geglaubt hat, ob er nicht eher nur die Situation der Menschen im geteilten Deutschland erträglicher, freier, hoffnungsvoller gestalten wollte, sei einmal dahingestellt.

Dass es ohne seinen, Bahrs, ostpolitischen Ansatz weder den Moskauer noch den Warschauer Vertrag gegeben hätte, die wiederum Voraussetzung für Transitabkommen und Grundlagenvertrag waren und schließlich auch den Boden für den gesamten KSZE-Prozess bereiteten, ist heute zeitgeschichtlich unstrittig.

Er war Journalist, dann Politiker

Dabei begann das, was mit dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, endete, mit einer furchtbaren Enttäuschung, einer bleiernen Erkenntnis. Egon Bahr, 1922 im thüringischen Treffurt geboren, war seit 1960 Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin und in dieser Funktion auch Sprecher des vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt geführten Senats. Zuvor hatte der gelernte Journalist bei der „Berliner Zeitung“, der „Allgemeinen Zeitung“, dem Tagesspiegel und als Leiter des Bonner Büros des Senders RIAS gearbeitet.

Egon Bahr (rechts) 1979 als SPD-Bundesgeschäftsführer mit Ex-Kanzler Willy Brandt.
Egon Bahr (rechts) 1979 als SPD-Bundesgeschäftsführer mit Ex-Kanzler Willy Brandt.
© dpa

Der Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 überraschte die bundesdeutsche genauso wie die West-Berliner Politik. Willy Brandt wartete auf Hilfe, forderte aus Bonn mehr als moralische Unterstützung. Glaubte wohl auch, die Amerikaner, die ja im Westteil der Stadt eine ganz erhebliche militärische Präsenz hatten, würden der Frechheit Ulbrichts ein schnelles Ende bereiten. Aber US-Präsident John F. Kennedy machte unverschnörkelt klar, dass wegen der Einheit des de facto ja längst zwischen zwei politischen Systemen aufgeteilten Berlins niemand einen Dritten Weltkrieg riskieren würde. Die Freiheitsgarantien galten für den Westteil der Stadt, dazu standen die drei westlichen Alliierten auch. Mehr aber nicht. Selbst der Vorstellung, West-Berlin könne durch die Bundesregierung mitregiert werden, haben sie sich nie angeschlossen.

Ein Essential der sozial-liberalen Außenpolitik

Egon Bahr 1975 als Bundesminister.
Egon Bahr 1975 als Bundesminister.
© Imago

Willy Brandt hat diese Situation später einmal so charakterisiert: Der Vorhang ging auf, und wir sahen, die Bühne war leer. Aus diesem Gefühl des Alleingelassenseins entstand zuerst zaghaft, dann immer präziser gelebt und gestaltet das, was man später die „neue deutsche Ostpolitik“ nannte, als sie – neben der unerschütterlichen Einbindung in das westliche Bündnis – zum zweiten Essential der sozial-liberalen Außenpolitik der Ära Brandt/Scheel/Genscher geworden war.

Egon Bahr hatte sie erstmals am 15. Juli 1963 bei einem Vortrag vor der Evangelischen Akademie Tutzing als „Wandel durch Annäherung“ beschrieben. Die Politik zwischen den Blöcken wurde hinfort unter dem Motto beweglicher, dass man nicht über das reden solle, was ohnedies nicht zu ändern sei, sondern lieber die Spielräume des Miteinanders ausloten und nutzen. Die Hoffnung dahinter: Wer kommuniziert und zum Beispiel gemeinsame wirtschaftliche Interessen ausgestaltet, schafft ein Klima der behutsamen Annäherung und damit des Wandels.

Die christdemokratische Opposition geißelte Bahrs Politikkonzept als „Wandel durch Anbiederung“. Tatsächlich litt jede bundesdeutsche Ostpolitik bis zum Fall der Mauer darunter, dass sie weitgehend auf den Kontakten zwischen Regierungsstellen basierte und dadurch die Bürgerrechtsbewegungen in der DDR und im Ostblock wenig offizielle Unterstützung aus dem Westen fanden. Jeder aber, der sich in diesen Jahren, ob als Politiker oder Journalist, in der DDR oder in Osteuropa bewegte, erlebte, dass sämtliche Botschaften der Bundesrepublik – und die Ständige Vertretung in Ost-Berlin – unaufgefordert Kontakte mit den Dissidenten arrangierten.

Als Sonderbotschafter nach Bonn

Die geschmähte Politik des „Wandels durch Annäherung“ nahm den Platz der gescheiterten CDU-Illusion der „Annäherung durch Wandel“ ein, jener Zwangsvorstellung, der Kommunismus müsse sich ändern, bevor man mit seinen Repräsentanten reden dürfe. Als Willy Brandt Außenminister der Großen Koalition unter der Kanzlerschaft von Kurt-Georg Kiesinger wurde, begleitete Egon Bahr ihn als Sonderbotschafter nach Bonn. Erst in dieser Funktion und später als Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und danach Staatssekretär des (ab 1969) Kanzlers Willy Brandt verhandelte er in Moskau den Gewaltverzichtsvertrag, der am 12. August 1971 in Moskau unterzeichnet wurde.

Nicht nur die Bonner Opposition, auch die westlichen Alliierten beobachteten diese im Geheimen geführten Gespräche mit äußerstem Misstrauen. In Washington, London und Paris sorgte man sich, die Deutschen könnten, wie schon im deutsch-russischen Vertrag von Rapallo 1922, wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, durch eine Sondervereinbarung mit der Sowjetunion wiederum Sonderbeziehungen zwischen beiden Ländern aufbauen, die sich zu Lasten Westeuropas entwickeln könnten.

Der Brief zur Deutschen Einheit, der den Moskauer Vertrag begleitete und in dem die sozial-liberale Bundesregierung das friedliche Streben nach staatlicher Einheit betonte, zerstreute das Misstrauen eher formal als substanziell. Wie weitgehend und langanhaltend diese Bedenken in der CDU/CSU waren, zeigte sich im Vorfeld des Zwei-plus-Vier-Vertrags im Zögern von Bundeskanzler Helmut Kohl, die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze unverrückbar festzuschreiben.

Ein strukturierter Denker

Ist die Ostpolitik nun die Willy Brandts oder die von Egon Bahr? Natürlich trägt der Außenminister, trägt der Kanzler die Verantwortung. Dass er die Richtlinien der Politik bestimmt, steht ja nicht aus dekorativen Gründen im Grundgesetz. Faktum ist aber, dass Brandt sein ganz politisches Leben lang ein Zögerer und Zauderer war, Bahr hingegen ein streng strukturierter Denker mit einem Hang zum Spielerischen. Ihn reizte es, Grenzen auszutesten, in Verhandlungen zu taktieren. Auch ohne Bahr hätte es irgendwann, Jahre später, in der bundesdeutschen Politik ein Aufbrechen der verhärteten Fronten gegenüber der DDR und der Sowjetunion gegeben. Aber dann wäre die deutsche Politik zum Getriebenen der internationalen Interessenlage geworden. Aus dem Bau der Berliner Mauer, die natürlich eine Niederlage der offiziellen Bonner Deutschlandpolitik war, zog Bahr die Schlussfolgerung eines völligen Neuanfangs. Das ist seine eigentliche Leistung.

Was Bahr erst später verriet

Egon Bahr (rechts) 1979 als SPD-Bundesgeschäftsführer mit Ex-Kanzler Willy Brandt.
Egon Bahr (rechts) 1979 als SPD-Bundesgeschäftsführer mit Ex-Kanzler Willy Brandt.
© dpa

Zwischen Bahr und Brandt gab es das, was man eine Männerfreundschaft auf Distanz nennen könnte. Beide waren eher verschlossene Menschen, geprägt von den Verletzungen der Vergangenheit, durch Emigration bei Brandt und menschliche Erniedrigung durch die Nazis bei Bahr. In den 60er und 70er Jahren gab es das Bild vom Koch und vom Kellner in der Politik noch nicht. Aber keinen Moment kam Zweifel auf, wer welche Rolle spielte.

Erst nach der Wiedervereinigung wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass die Moskauer Gespräche Bahrs mitnichten ohne Kenntnis der USA erfolgten. Vielmehr hatte sich die Regierung Brandt über sogenannte „back channels“, vertrauliche Gesprächskontakte mit der amerikanischen Politik unterhalb der offiziellen Ebene, der Unterstützung Washingtons versichert. Die China-Russland-Politik von Präsident Richard Nixon bestimmte die politische Großwetterlage zwischen Ost und West. Die parallel laufenden Vier-Mächte-Gespräche in Berlin belegten, dass Brandt und Bahr die weltpolitische Klimaänderung richtig eingeschätzt hatten. In seiner Beurteilung der wichtigen Rolle Russlands ist sich Bahr bis zu seinem Tod treu geblieben. Noch Ende Juli traf er in Moskau mit dem früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow zusammen und äußerte sich verständnisvoll über die russische Besetzung der Krim. Und bis zum Schluss warb er in Vorträgen und Diskussionen dafür, sich in die russische Situation hineinzuversetzen.

Projektionsfläche für Verschwörungstheorien

Freilich gab Egon Bahr auch immer wieder eine ideale Projektionsfläche für Verschwörungstheorien ab. Seine politischen Gegner arbeiten sich an seiner Vita ab. Obwohl Enkel einer jüdischen Großmutter, nahm er von 1942 bis 1944 als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil, zuletzt als Fahnenjunker-Unteroffizier. Als seine Herkunft offenbar wurde, versetzte man ihn wegen „Einschleichens in die Wehrmacht“ als „nichtarischen“ Rüstungsarbeiter zu Rheinmetall-Borsig. Später, viel später, hat er mit entwaffnender Offenheit gesagt, er habe einfach überleben wollen. Was blieb, war, dass sich gegen ihn genauso antisemitische wie antikommunistische Vorurteile richteten. Bahr war kein Diplomat, sondern Journalist. Das machte ihn auch für die Traditionalisten im Auswärtigen Amt suspekt. Er liebte das Geheimnisumwitterte. Dem Publizisten Michael Jürgs hat er verraten, mit welchen Tricks er bei den Moskauer Gesprächen sowjetische Zugeständnisse erreicht hatte – etwa indem er vorgab, bestimmte Positionen im Auftrag des deutschen Außenministers zu vertreten, obwohl er sich in diesen Punkten überhaupt noch nicht abgestimmt hatte. Die Ergebnisse gaben ihm recht.

Bis ins hohe Alter erhalten geblieben ist ihm auch die Fähigkeit, jedem seiner Zuhörer das Gefühl zu geben, gerade im Moment dieses einen Gesprächs ganz besonders ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Dann klang seine Stimme verschwörerisch, und nur wer seine Augen beobachtete, merkte, dass dieser unscheinbare, in sich zusammengefallene kleine Mann auch ein genialer Selbstdarsteller war, der sein Talent nutzte, den Gesprächspartner für sich einzunehmen.

Versöhnend war er im Alter geworden, mit einer Ausnahme: Herbert Wehner, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden der Ära Brandt, hat er nie dessen Rolle beim Sturz des ersten sozialdemokratischen Regierungschefs 1974 verziehen. Wolfgang Prosinger, Autor dieser Zeitung, hat noch in den letzten Tagen den anderen Egon Bahr erlebt. Er wollte mit Bahr für einen Artikel über den 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß am 6. September sprechen, wollte ihn nach Erinnerungen an den politischen Gegner befragen. Und er hatte erwartet, Bahr werde nun mächtig vom Leder ziehen, schließlich war Strauß der wortmächtigste Gegenspieler seiner Politik, der Ostpolitik.

Aber das Gegenteil geschah. Charmant und gewinnend sei dieser Strauß gewesen im persönlichen Umgang, gebildet, schlagfertig, und ein Antidemokrat gewiss nicht, berichtete Bahr. Neben Willy Brandt habe es nur einen Politiker in der Bundesrepublik gegeben, der eine so große Eignung zur Kanzlerschaft gehabt habe – eben dieser Franz Josef Strauß. Natürlich, damals im Wahlkampf gegen Helmut Schmidt, 1980, habe dieser Strauß „schon geholzt“. Aber das sei nun einmal der Tribut an den politischen Alltag gewesen. Und dann sagte Bahr: „Wir haben das verdaut, ohne dass uns übel wurde“.

Geholzt haben beide Seiten

Zwei Tage vor seinem Tod meldete sich Egon Bahr, um die verwendeten Gesprächspassagen, wie das so üblich ist, zu autorisieren. Ja, die Zitate seien korrekt wiedergegeben, sagte Bahr, er habe nur noch einen kleinen Wunsch – ob man nicht nach dem Satz vom politischen Alltag noch einfügen könne: „Das galt auch umgekehrt.“ Geholzt hätten schließlich beide Seiten.

Dass Egon Bahr ein deutscher Patriot, ein leidenschaftlicher Berliner war, also all das, was seine politischen Gegner ihm geradezu denunziatorisch absprachen, konnten Leserinnen und Leser des Tagesspiegels vor einem Jahr erfahren. Da hatte sich Egon Bahr in der von dieser Zeitung und der Stiftung Zukunft Berlin angestoßenen Debatte zum 20. Jahrestag des Bonn-Berlin-Gesetzes zu Wort gemeldet und fast im Stile eines politischen Vermächtnisses sein Glücksgefühl angesichts des vereinten Berlins geschildert. Egon Bahr hat diese Stadt, um deren Einheit er sich so verdient gemacht hat, genossen bis zu seinen letzten Stunden.

Zur Startseite