Gastronomie und die Folgen der Krise: Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei
Was bleibt? Was kommt? Was muss sich ändern? Ein kritischer Blick auf den langersehnten, schwierigen Neustart der Gastronomie.
Es war die Woche, in der Nils Henkel entlassen wurde und Tim Mälzer die Sprache wegblieb. Beides galt bisher in der Branche als völlig unmöglich, denn weder würde jemand den Rheingauer Top-Koch mit seinen fast schon drei Sternen loswerden wollen noch Mälzer, die Fernseh-Quasselstrippe, jemals nach Worten ringen. Corona hat beides erzwungen, und die deutschen Gastronomen nahmen es als Menetekel: Wenn die beiden schon ...
Was war passiert? Mälzer war bei Markus Lanz mit dem notorischen Schwarzseher Karl Lauterbach aneinandergeraten und hatte sich sagen lassen müssen, dass die Normalisierung der Gastronomie wohl mindestens zwei Jahre dauern werde.
Die Ungewissheit ist groß
Bei Henkel lagen die Dinge komplizierter, denn hier ist die Ursache eher in der finanziell heiklen Sinnsuche der Top-Gastronomie zu suchen, die in der Presseerklärung deutlich anklang. „Eine durchschnittliche Belegung von zehn Gästen im letzten Jahr in unserem Gourmetrestaurant hat uns zu dieser Entscheidung gezwungen“, hieß es von den Eigentümern der Burg Schwarzenstein, „durch die Corona-Krise geht uns nun endgültig die Puste aus.“
Das ist genau das Problem, mit dem jeder Gastronom auch in Berlin zu kämpfen hat: Überlebe ich finanziell? Und ist mein altes Geschäftsmodell überhaupt noch tragfähig? Denn klar ist ja auf absehbare Zeit, dass der Vorkrisen-Umsatz nicht mehr erzielt werden kann, außer eventuell durch exorbitante Preiserhöhungen, die kaum ein Gast mitmachen wird.
Ein "weiter wie gehabt" wird nicht funktionieren
Ein Dilemma sieht so aus: Wenn im Raum nur noch die Hälfte der Plätze besetzt werden darf, bleibt als Ausweg abends eine zeitlich gestaffelte Doppelbelegung. Dann aber fallen schon aus Zeitgründen die einträglichen langen Menüs weg, und die Küche muss viel schneller arbeiten, kann aber wohl aus Schutzgründen auch nicht mehr mit voller Mannschaftsstärke antreten.
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden.]
Nebeneffekt: Gäste unter Zeitdruck machen vermutlich geringeren Umsatz. Und für die vielen Spitzenrestaurants, die ohnehin – siehe Schwarzenstein – kaum Geld verdienen, ist jeder Umsatzverlust tödlich.
Es wird nicht jeden gleich treffen. Kleine Bistros in 1a-Lage, deren Geschäftsmodell auf hauteng gestellten und ständig belegten Tischen basiert, werden kaum weitermachen können, außer mit einem extrem generösen Vermieter.
Große, geräumige Luxusrestaurants, die ohnehin genug Platz zwischen den Gästen haben, stehen vermutlich besser da – aber es gibt sie allenfalls noch in Hotels.
Luxusrestaurants verdienen ohnehin kaum Geld - jeder Umsatzverlust ist tödlich
Sie aber stehen vor dem Problem, dass der Gästekontakt minimiert werden muss, denn das stellt nahezu all ihre Rituale in Frage: Das Anreichen der Grüße aus der Küche, die Plauderei mit dem Sommelier und den Zeigefinger in der Weinkarte, die edle, womöglich unzureichend sterilisierte Tischwäsche, das zeremonielle Angießen der Sauce.
Auch dass die Küchenmannschaft nach und nach zu den Gästen kommt und das jeweilige Gericht hautnah vorstellt, ist aktuell kaum noch denkbar.
[Neueröffnungen trotz Corona: Lesen sie hier , wo die 13 spannendsten neuen Restaurants in Berlin eröffnet haben. (Abo)]
Ein totaler Bann liegt natürlich auf den Salz- und Pfefferstreuern, was aber eher die Gasthäuser und Kantinen treffen wird, denn aus besseren Restaurants sind sie ja schon lange verschwunden. Man kann sich also vorstellen, dass fürs Erste ein modifiziertes Selbstbedienungskonzept ausprobiert wird, womöglich am Eingang gesteuert von einer „Gäste-Ampel“, die es bereits gibt. (Erste Reaktionen auf den Neustart finden Sie hier). Die Zeichen stehen auf Veränderung
Aber ist das überhaupt mit dem Anspruch gehobener Kochkunst vereinbar? Und was wird überhaupt aus dieser Kochkunst?
Offensichtlich scheint unter den genannten Voraussetzungen zu sein, dass die extrem personalwendige und kleinteilige Luxusküche, die auf der Arbeit mehrerer Köche an einem einzigen Teller beruht, kaum in dieser Form überleben kann.
Auch ihre typischen Produkte stehen in Frage, denn niemand weiß, ob demnächst all die komplizierten Lieferketten wieder funktionieren und bretonische Langustinen und schottische Jakobsmuscheln aus den Nordmeeren in die Stadt bringen. Damit könnte endgültig die Stunde der neuen, sehr einfachen Regionalküche à la „Nobelhart & Schmutzig“ schlagen, wo der Zeitaufwand für die Beschaffung einzigartiger Produkte aus der Umgebung oft höher ist als für die eigentliche Zubereitung. Doch auch hier haben sich die Nebel noch längst nicht gelichtet: Werden die spezialisierten Bauern finanziell überleben – und die für sie notwendige kleinteilige Lieferlogistik?
Am Ende, und das ist vielleicht sogar eine gute Nachricht, wird das Können der Köche entscheiden, die nicht mehr mit Showeffekten und Luxusentfaltung blenden können, sondern sich mit „nur noch“ guten, normalen Produkten beweisen müssen.
Neue Standbeine müssen gefunden werden
Viele Ideen, die allein nicht tragen, aber im Rahmen eines Mischkonzepts funktionieren können, sind gerade in der Corona-Krise ausprobiert worden. Auch Top-Köche waren sich nicht zu schade, fertiges oder weitgehend vorbereitetes Essen zum Mitnehmen an der Tür zu verkaufen oder sogar zu liefern – das wird kaum verschwinden und sicher nicht wieder den großen Lieferdiensten und den Pizzabäckern überlassen bleiben.
Shop-in-Shop statt Restaurant, Flexibilität statt eines gusseisernen Konzepts, einfachere, preisgünstige Mittagsangebote, die auf Wunsch auch ins Home-Office gebracht werden, dazu Online-Kochkurse und andere Mittel der Kundenbindung – all das funktioniert in gewissem Rahmen und bringt Geld in die Kasse.
Allerdings ändert es nichts daran, dass das Hauptgeschäft der Gastronomie nun einmal darin besteht, Menschen zusammenzubringen und ihnen eine schöne, kommunikative Zeit zu bereiten.
Die Szene rückt zusammen und zeigt sich solidarisch
Wirte, Köche, und Kellner haben in der Corona-Krise aber auch eine Idee davon bekommen, dass die Zeit des Einzelkämpfertums vorbei sein könnte. #facesbehindplates ist ein Kürzel, das für die neue – und hoffentlich anhaltende – Solidarität steht, von der die Branche im tiefen Tal der Krise erfasst wurde.
Es gehört zum „Berlin Food Kollektiv“, einem aus der Not geborenen Zusammenschluss Berliner Gastronomen, die mit einer Überzeugung antreten: „Die Antwort auf die Krise liegt in der Kooperation.“ Die Faces, also die Gesichter hinter den Tellern gehören Szenestars wie Billy Wagner, Sebastian Frank oder Tim Raue, die sich allesamt schon mit plakativen Konzepten gegen die Krise hervorgetan haben.
„Anders als vor allem wirtschaftlich fokussierte Interessenverbände legen wir den Fokus auf verbindende Inhalte und den Blick in eine wünschenswerte Zukunft“, heißt es auf der Website. Es gehe um „enge Zusammenarbeit anstelle von Konkurrenz, um Themen wie Nachhaltigkeit, Produktqualität, Inklusivität“ und darum, die kulturelle und soziale Funktion der Gastronomie in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen.
Erste Aktion: Hotels und Restaurants sollen auf ihren Instagram-Kanälen und anderswo jene Menschen zeigen, die bei ihnen arbeiten, die bei ihnen aufräumen oder für sie Werbung machen und von denen sie beliefert werden.
[Berlin steht still - genug Ideen, was man machen kann, gibt es trotzdem. Im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint finden Sie jeden Morgen Tipps für die Zuhause-Bleib-Zeit. Jetzt kostenlos abonnieren: checkpoint.tagesspiegel.de]
Vieles hängt daran, wann Touristen wieder Berlin besuchen werden
Das mag ein Ansatz sein und dazu beitragen, dass auch die Distanz zwischen den Sterneköchen und den anderen schwindet, die einfach nur entspannt kochen wollen. Denn es muss ja in jeder Situation Vorreiter geben, von denen später die gesamte Branche profitiert – da ist es nicht hilfreich, wenn, wie bisher, der eine über den anderen lästert, wenn die Gasthausleute sich über „alberne Pinzettenküche“ erheben und die Pinzettenköche andersherum über die anderen, die doch angeblich nur auftauen und frittieren können.
Denn am Ende entscheidet sich das Schicksal der Berliner Gastronomie vor allem an der Frage, ob die Touristen zurückkommen, die früher das teure Gourmet-Essen ebenso gesucht haben wie das lebhafte Kneipengewusel oder die legere Weinbar und ohne die die Stadt schlicht zu viele gastronomische Betriebe hat.
Da hilft nur Zusammenarbeit aller mit allen, und es helfen viele gute neue Ideen. Von „Burg Schwarzenstein“ heißt es übrigens, man arbeite an einem neuen Konzept, das „leger, vielseitig und kosmopolitisch“ sein werde. Nun ja, das können wir in Berlin sicher auch, und womöglich besser.