Pflege von Angehörigen: Die unsichtbare Not
Pflegende Beschäftigte werden häufig alleingelassen. Das Thema darf in Betrieben kein Tabu mehr sein.
Die Deutschen werden immer älter. Der Pflegebedarf steigt. Laut Statistischem Bundesamt wurden im Dezember 2017 3,41 Millionen Menschen als „pflegebedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuches“ erfasst. „Nach fundierten Hochrechnungen wird diese Zahl bis 2054 auf bis zu fünf Millionen Menschen wachsen“, sagt die Pflegeexpertin Daniela Sulmann vom Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP). Mit gravierenden Folgen für die alternde Gesellschaft. Denn viele Betroffene müssen den oft anstrengenden Pflegealltag mit dem Beruf vereinbaren. Schon heute werden rund 1,4 Millionen Bedürftige ausschließlich von Verwandten zu Hause versorgt, die dabei nicht selten an ihre Grenzen stoßen. Angesichts der demografischen Entwicklung wird sich die Lage weiter verschärfen. „Das Thema Pflege wird in den kommenden Jahren für immer mehr Familien spürbar sein“, sagt Sulmann.
Führungskräfte sind oft uninformiert
„Pflegesituationen entstehen ganz oft plötzlich, dann müssen die Angehörigen sehr schnell dazulernen“, sagt die Leiterin der AOK Pflege Akademie Katharina Graffmann-Weschke, wo Betroffene Beratung und Hilfe finden. Zum Beispiel in praktischen Kursen im Programm „PfiFf – Pflege in Familien fördern“. Angehörige können dabei in Krankenhäusern und Pflegestützpunkten Schulungen belegen, die die richtige Versorgung von Schlaganfallpatienten oder den Umgang mit Demenzkranken vermitteln. Außerdem lernen sie, mit welchen Tricks man Menschen mit Schluckstörungen das Essen erleichtert. „Wichtig ist auch, dass sie andere Betroffene kennenlernen und merken, dass sie nicht allein in solch einer schwierigen Situation stecken“, sagt Graffmann-Weschke.
Beschäftigte haben unterschiedliche Rechtsansprüche, im Pflegefall eines nahen Angehörigen Arbeit zu reduzieren oder sich freistellen zu lassen. Doch die vom Gesetzgeber angestrebte „Vereinbarkeit von Pflege und Beruf“ erweist sich in der Praxis als schwierig. Viele Möglichkeiten werden nicht wahrgenommen: „Sowohl bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern besteht Informationsbedarf zu den gesetzlichen Regelungen. Vielleicht passen die Angebote auch teilweise nicht zur Lebenswirklichkeit der pflegenden Erwerbstätigen“, berichtet Daniela Sulmann mit Blick auf die Ergebnisse einer bundesweiten Studie des ZQP zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aus dem Jahr 2018. Befragt wurden Personalentscheider in 401 Unternehmen, die mindestens 26 Beschäftigte haben. „Bei 59 Prozent der Firmen“, sagt Mitautorin Sulmann, „war den Personalverantwortlichen kein Mitarbeiter bekannt, der eines der genannten gesetzlichen Vereinbarkeits-Angebote genutzt hatte.“ Immerhin jeder vierte Befragte gab an, dass mindestens einer seiner Angestellten die zehntägige Freistellung zur Pflegeorganisation in Anspruch genommen hat. Bei den anderen Angeboten lagen die Zahlen noch erheblich niedriger. Ebenfalls erstaunlich: 42 Prozent der Führungskräfte wüssten von keinem Angestellten in ihrer Firma, der Angehörige pflegt.
Viele Arbeitnehmer fürchten berufliche Nachteile
Mögliche Hinweise, warum viele Arbeitnehmer davor zurückscheuen, sich im Unternehmen als Pflegende zu offenbaren, liefert eine frühere Befragung des ZQP zum Thema Vereinbarkeit von Beruf und Pflege aus dem Jahr 2014. Mehr als 80 Prozent der Befragten nahmen an, dass Angestellte aus finanziellen Gründen Angebote wie die Familienpflegezeit nicht nutzen. Mehr als die Hälfte der Befragten vermutete, dass die Angst vor beruflichen Nachteilen oder die Sorge um den Arbeitsplatz pflegende Angehörige davon abhalten würde, im Betrieb über das Thema zu sprechen.
Pflegebedürftigkeit sei leider immer noch ein Tabu, das nur unter Freunden und Familie besprochen werde, sagt auch Katharina Graffmann-Weschke. „Über demente oder kranke Verwandte redet man nicht gern in der Firma. Das muss sich ändern“, fordert sie. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollte sich nicht nur auf die Kindererziehung, sondern auch auf die späte Familie beziehen.
Bei ihrer Zusammenarbeit mit vielen Unternehmen habe sie aber festgestellt, dass die Kommunikation und die Sensibilisierung für das Thema zunehmen. Der Grund? „Immer mehr Menschen, auch Personalchefs, haben inzwischen selbst persönliche Erfahrungen mit pflegebedürftigen Angehörigen“, sagt Katharina Graffmann-Weschke.