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Der ehemalige Polizist Ferdinand Schmitt vor dem Haus Zum Renngraben 8, in dem Hanns Martin Schleyer gefangengehalten wurde. Schmitt hatte den richtigen Hinweis gegeben - doch der versandete.
© p/dpa

40 Jahre Deutscher Herbst: Die größten Pannen im Kampf gegen die RAF

Einige Male standen die Ermittler kurz davor, Top-Terroristen der RAF zu verhaften - und scheiterten doch. Schuld waren die Bürokratie - und eigene Fehler.

Die Wohnung im dritten Stock des wuchtigen Hochhauses war gediegen eingerichtet. Im Flur ein spanisches Schränkchen und ein runder Teppich, Herbstblumen in einer Vase, im Wohnzimmer eine Couchgarnitur. Nur ein Zimmer sah ganz anders aus: vollkommen kahl, an den Wänden klebte Rauhfasertapete. Auf dieser Tapete hingen feinste Teile eines Tesafilms.

Die Klebestreifen hatten ein Plakat fixiert, auf dem eine Maschinenpistole und der Begriff RAF prangten. Es gibt ein Foto, auf dem Hanns Martin Schleyer vor diesem Plakat sitzt, der Arbeitgeberpräsident. Er hält ein Schild in den Händen. Aufschrift: „Gefangener der RAF“.

Die Adresse der Wohnung ist inzwischen berühmt-berüchtigt. Köln, Erfstadt-Liblar, Zum Renngraben 8. Hier hielt die Rote Armee Fraktion Schleyer gefangen, hier hatte sie einen Wandschrank mit dickem Schaumstoff ausgekleidet und mit Handfesseln aus Ketten. In diese Wohnung schleppten die Entführer den Arbeitgeberpräsidenten, nachdem sie am 5. September 1977 seine vier Begleiter erschossen hatten. Hier nahmen sie am 14. September ein Video auf, in dem Schleyer die Bundesregierung bat, die Forderungen der Entführer zu erfüllen. Freilassung von elf RAF-Gefangenen, darunter die Führungsfiguren Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe.

Sieben Tage vor dem Video erfuhr die Polizei von der Wohnung.

Aber nichts passierte. Hanns Martin Schleyer wurde am 19. Oktober 1977 tot im Kofferraum eines Audi in Mülhausen gefunden. Erschossen als Reaktion auf die Befreiung der entführten Passagiere der Lufthansa-Maschine „Landshut“. Das Kidnapping war der letzte Versuch, die Gefangenen freizupressen. Er ging schief.

Schleyer zahlte dafür mit seinem Leben.

Er hätte befreit werden können. Seine Bewacher hätten festgenommen werden können, im Optimalfall. Aber er blieb in Zum Renngraben 8, weil der entscheidende Hinweis im Dickicht der unzähligen Hinweise auf die Entführer hängen blieb. Die Ermittlungen liefen bürokratisch und chaotisch ab.

Der Hausmeister des Gebäudes Zum Renngraben 8 hatte den Tipp zu der Wohnung gegeben. Das Bundeskriminalamt hatte ja permanent mitgeteilt, nach welchen Kriterien Terroristen vorzugsweise Unterkünfte aussuchen: anonymes Hochhaus, Tiefgarage, Autobahnausfahrt in der Nähe, Kaution und Miete werden bar bezahlt. Alle Merkmale trafen auf diese Adresse zu. Die Mieterin Annerose Lottmann-Bückelers hatte bar bezahlt, das hatte der Hausmeister mitbekommen. Adresse, Name der Mieterin und ihre Zahlungsweise teilte er in der Polizeidienststelle Erftstadt mit. Kurz darauf schaute sich ein Hauptmeister den Wohnblock an und war elektrisiert. Alles passte ins Raster.

Hätte ein BKA-Beamter „Annerose Lottmann-Bückelers“ in den BKA-Fahndungscomputer „Pios“ eingetippt, dann hätte wohl kurze Zeit später ein Spezialeinsatzkommando vor der Wohnungstür in der dritten Etage gestanden. Unter diesem Namen waren schon mehrere RAF-Frauen aufgetreten, darunter Monika Helbing. Sie hatte, vermutete das BKA später, die Wohnung gemietet. Die echte Annerose Lottmann-Bückelers hatte viermal einen neuen Personalausweis beantragt. Schon deshalb galt sie als mutmaßliche RAF-Unterstützerin – man spekulierte, sie habe ihre Ausweise an die Terroristen weitergegeben.

Der Hinweis verkommt als "heißer Tipp auf einer kalten Liste"

Doch niemand gab den Namen der Mieterin in „Pios“ ein. Die Polizei hatte zwar Tausende Beamte in Einsatz, um Schleyer zu finden, aber keine Fahndungsstrukturen. Es gab kein System, das einerseits die Flut der Hinweise bewältigen und gleichzeitig wichtige Tipps in entscheidende Kanäle weiterleiten konnte. Auch Kompetenzen waren unklar. So blieb der entscheidende Hinweis irgendwo unbeachtet hängen.

Später räumte BKA-Präsident Horst Herold kleinlaut ein, dieser Hinweis sei „als heißer Tipp auf einer kalten Liste“ verkommen. Gleichzeitig suchten Massen von Polizisten nach Schleyer. Autobahnen wurden gesperrt, sogar die Hinweise eines Wünschelrutengängers nahm die Polizei ernst. Schleyers Versteck fand aber auch er nicht.

In der Polizeistation Erfstadt waren sich Beamte dagegen sicher, dass sie Schleyers Versteck bereits gefunden hatten. Der Chef der Dienststelle fuhr manchmal mit seiner Frau am Hochhaus Zum Renngraben 8 vorbei. Mit der Hand wies er zu dem Wohnblock. „Dort sitzt er“, sagt er seiner Frau.

Er hatte Recht. Es prüfte nur niemand nach.

Fall Nummer zwei: Die RAF geht in die Luft

Observiert, aber nicht festgenommen: Adelheid Schulz, Christian Klar und Willy Peter Stoll auf dem Flugplatz Michelstadt.
Observiert, aber nicht festgenommen: Adelheid Schulz, Christian Klar und Willy Peter Stoll auf dem Flugplatz Michelstadt.
© Imago/Zuma/Keystone

Der beigefarbene Mercedes 230 mit dem amtlichen Kennzeichen HP-AM 627 fuhr in Richtung Darmstadt, aber er fuhr seltsam. Mal gab der Fahrer Gas, mal drosselte er das Tempo. Kein Zweifel, die drei Insassen, zwei Männer und eine Frau, alle Mitte 20, hatten den Verdacht, dass sie verfolgt wurden. Damit lagen sie völlig richtig. Sieben zivile Polizeiautos folgten ihnen, schon seit der Abfahrt vom kleinen Flugplatz Michelstadt im Odenwald. Doch nach 90 Minuten war Schluss mit der Verfolgung. Unvermittelt, in einer wilden Aktion, bog der Mercedes an einem Bauernhof in einen Feldweg ab. Die sieben Polizeiautos rauschten vorbei, die Observation war zu Ende. Zurück blieben 13 verdatterte Ortspolizisten und Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) in den abgehängten Autos. Zurück blieben Filme mit gestochen scharfen Fotos von den drei Geflüchteten. Die Fahnder hatten das Trio heimlich auf dem Flugplatz abgelichtet. Doch diese Filme mussten erst mal entwickelt werden, noch lagen sie in den Autos.

Der 6. August 1978 ist ein dramatischer Pannentag

Und nicht bloß die ausgetricksten Polizisten vor Ort, auch die Beamten in der Einsatzzentrale für diese Aktion waren sicher, dass ihnen nun leider Randfiguren der RAF entwischt waren.
Dieser 6. August 1978, ein strahlend schöner Sonntag, war ein übler, aber letzlich nicht dramatischer Pannentag. So schien es im ersten Moment.
Wie übel die Pannen waren, wie dramatisch die Folgen, das stellte sich erst heraus, als die Fotos genau analysiert waren.
Entwischt waren den Polizisten:
- Christian Klar, gesucht wegen des Anschlags auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback, später wegen neunfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
- Willy Peter Stoll, beteiligt an der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer, wenige Wochen nach der geglückten Flucht von Michelstadt bei seiner Festnahme von der Polizei erschossen.
- Adelheid Schulz, gesucht wegen der Schleyer-Entführung, später wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Polizei hatte am 6. August einen Teil der RAF-Elite entwischen lassen. Warum?

Letztlich aus einem banalen Grund: Die BKA-Fahnder hatten Klar, Stoll und Schulz schlichtweg nicht erkannt. Sie sahen auf dem Flugplatz zwei gut gekleidete Männer und eine elegante Frau, Typ smarte Jungmanager. So sollten Top-Terroristen herumlaufen? Unvorstellbar. Also ließen sie das Trio zum Rundflug in einen Hubschrauber einsteigen, ließen es wieder abfahren und fotografierten nur. Und dann folgten sie den gut gekleideten Verdächtigen. Sie wollten über sie zum Kern der RAF vorstoßen. Allerdings folgten sie nicht unauffällig genug.

Viermal kam das vermeintliche Filmteam für Rundflüge

Dass mit diesem Trio aber etwas nicht stimmte, hatte das BKA früh erfahren. Anfang Juli hatten sich zwei Männer, wie sich später herausstellte: Klar und Stoll, bei der Firma „Heli West“ in Koblenz gemeldet, die Hubschrauberflüge anbietet. Der Pilotin Karin Rieger stellten sie sich als Filmteam vor, das Flugaufnahmen für einen Krimi benötigte. Höhepunkt sollte die Befreiung einer entführten Familie aus dem 30 mal 35 Meter großen Innenhof eines spanischen Kastells sein. Der Hof sei von zwölf Meter hohen und vier Meter dicken Mauern umgeben. Karin Rieger wusste nicht, dass diese Maße, fast bis auf den Meter genau, auf die Haftanstalt Frankenthal in Rheinland-Pfalz zutrafen. Und dort saß nicht eine verschleppte Familie, sondern der RAF-Terrorist Stefan Wisniewski, beteiligt an der Schleyer-Entführung. Die Befreiung von Wisniewski war das eigentliche Ziel. Viermal kam das vermeintliche Filmteam, inzwischen ergänzt um Adelheid Schulz, um Rundflüge über Burgen und Schlösser der Umgebung zu unternehmen. Beim zweiten Flug drehte der Hubschrauber auf Anweisungen des Trios schon Schleifen über Ludwigshafen-Edigheim, wo man schön in den Innenhof von Frankenthal sehen konnte. Doch die erfahrene Pilotin Rieger, die schon viele Filmleute geflogen hatte, war früh misstrauisch geworden. Ihr Filmteam verzichtete auf die übliche Regiebesprechung vor dem Start, der angebliche Kameramann – Christian Klar – benutzte für die Luftaufnahmen unüblich eine Videokamera. Und Fragen nach technischen Details konnte er nicht beantworten.

Die Pilotin schaltete die Polizei ein, BKA-Beamte rückten mit einer Bildermappe von Verdächtigen an, und Karin Rieger blätterte sich durch. Nach ihrer späteren Darstellung tippte sie auf einmal auf ein Foto mit einem korrekt gescheitelten Mann im Rollkragenpullover. „Der hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem meiner Passagiere“, will sie gesagt haben. Es war das Bild von Christian Klar. Der betroffene BKA-Beamte dagegen erinnerte sich anders. „Die Bildvorlage verlief negativ“, sagte er aus. Karin Rieger habe „mal auf dieses, mal auf jenes Bild getippt“. Immerhin forderten die BKA-Beamten den Flugauftrag, unterschrieben von Christian Klar alias Horst Gerstner. Mit einem Schriftvergleich hätte man Klar identifizieren können. Aber der Auftrag kam per Post zum BKA – nach dem 6. August, nach der gescheiterten Verfolgung. Auch ein anderes Indiz machte die Terroristenfahnder nicht hellhörig. Die Frau des angeblichen Filmteams, die sich als „Frau Möller“ vorgestellt hatte, besaß eine auffallend hohe Stimme. Diese Auffälligkeit teilte Karin Rieger den Beamten mit. Die hohe Stimme ist ein besonderes Merkmal von Adelheid Schulz.

"Frau Möllers" Mietquittung hatte Adelheid Schulz unterzeichnet

„Frau Möller“ hatte der Pilotin ihre Adresse hinterlassen. Eine Wohnung in Mannheim. Als BKA-Ermittler die Unterschrift auf einer Mietquittung untersuchten, wurden sie fündig. Gezeichnet hatte in Wirklichkeit Adelheid Schulz. Dumm nur, dass das BKA dies erst nach der gescheiterten Observation feststellte. Aber das BKA war zumindest auf einen Großeinsatz gegen RAF-Randfiguren eingestellt. Am 6. August in Michaelstadt wollten die Jungfilmer wieder mit einem Hubschrauber abheben. Ziel: Burgen. BKA–Beamte verteilten sich auf dem Flugplatz, sogar eine Bedienung der Flughafen-Gaststätte war eingeweiht. Laut Regieanweisung des BKA sollte die Bedienung dem Trio Getränke und Gläser hinstellen, wenn die Drei vor dem Start noch kurz zur Flugvorbereitung mit dem Piloten auf der Flughafenterrasse sitzen. In dem Moment, in dem sie servierte, würde sie einen Telefonanruf erhalten. „Bitte schenken Sie sich selber ein“, würde sie dann sagen. Das Kalkül des BKA: Die Verdächtigen würden nun selber an die Gläser fassen und Fingerabdrücke hinterlassen.

Sie wischen die Gläser mit den Fingerabdrücken ab

Als das Trio Cola trank, beobachteten BKA-Beamte an Nebentischen jede Bewegung. Und natürlich fotografierten sie heimlich. Nur die Nummer mit den Fingerabdrücken ging schief. Die drei wischten mit ihren Ärmeln die Gläser ab. 110 Minuten kreiste der Hubschrauber über Hessen und Baden-Württemberg. 110 Minuten hätten die Beamten Zeit gehabt, zu tun, was in jedem „Tatort“ passiert wäre – an den Mercedes des Trios einen Peilsender festzukleben. Doch nichts geschah. Der Mercedes fuhr unmarkiert los. Wenigstens hatte das BKA-Kommando während des Flugs das Kennzeichen des Mercedes überprüfen lassen. Treffer: Denn HP-AM 627 gehört zu einem Mercedes Diesel. Das Fahrzeug, das die BKA-Beamten verfolgten, war aber ein Benziner. Irgendwann bog der Benziner rasant in einen Feldweg.

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