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Kultur: Eine blutige Geschichte

Butz Peters und Klaus Pflieger beschäftigen sich mit den Verbrechen der RAF.

Die neue Mieterin heißt Barbara Marquardt, so steht es in ihrem Pass, den sie am 10. August 1977 vorlegt, als sie den Mietvertrag unterschreibt. Eine Wohnung im Kölner Unicenter, Luxemburger Straße 124–136, einem der größten Wohnhäuser Europas. Barbara Marquardt erhält Wohnung 2601. Einerseits eine anonyme Adresse. Andererseits auch eine besondere, jedenfalls für Kinogänger mit Interesse am Thema Rote Armee Fraktion (RAF). Zwei Jahre zuvor wurden hier Teile des Films „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ nach Heinrich Bölls Roman gedreht.

1977 war das Thema RAF bitterer Ernst. Barbara Marquardt war in Wirklichkeit das RAF-Mitglied Adelheid Schulz, und die Wohnung 2601 diente als Zentrale für die Vorbereitung des blutigen Höhepunkts der schlimmsten RAF-Phase: der Entführung von Arbeitgeber-Präsident Hanns Martin Schleyer. Drei Wochen später lagen sein Fahrer und drei Personenschützer tot in ihrem Blut, Schleyer war Gefangener der RAF.

Butz Peters schildert die Geschichte der Wohnung, er liefert den Link zu „Katharina Blum“, eines von sehr vielen Details seiner ausgezeichneten Dokumentation „1977 – RAF gegen Bundesrepublik“. Peters ist einer der besten RAF-Kenner, er schrieb das umfassende Werk „Tödlicher Irrtum – Die Geschichte der RAF“ und das Buch „Der letzte Mythos der RAF“ über das Debakel von Bad Kleinen, bei dem RAF-Mitglied Wolfgang Grams einen GSG-9-Kommissar erschoss und dann Selbstmord verübte.

In seinem neuen Buch konzentriert er sich auf jene Phase, die für die RAF die „Offensive 77“ darstellte, das Jahr, in dem sie mit größtmöglicher Kraft angriff und letztlich kläglich scheiterte. Aber bis dahin waren Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, und Schleyer tot. Und im Gefängnis von Stammheim starb die RAF-Führungs-Crew Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe durch Selbstmord. Es gibt eine Chiffre für die Schlussphase dieses Terror-Jahres: „der deutsche Herbst“.

Aber nur eine weitere Nacherzählung des Jahres 1977 wäre überflüssig. Für Peters liefert das Jahr 1977 nur den Kern seines Buchs. Vor allem aber dokumentiert er die Fortsetzung dieser Geschichten. Er bettet sie ein in die Erkenntnisse, die es Jahrzehnte später gibt. Die RAF löste sich 1998 selber auf, aber als Thema ist sie unverändert aktuell.

Die unzähligen Details, aber auch diese Einordnung sind die Stärke des Buchs. Wer in den vergangenen Jahren alle Zeitungstexte zur RAF gelesen hat, braucht es nicht. Wer aber komprimiert wissen möchte, wie sehr die RAF in noch jüngster Vergangenheit das Land beschäftigte, wird wunderbar bedient.

Verena Becker stand ja 2010 plötzlich wieder vor Gericht. Die frühere RAF-Terroristin war 1977 wegen mehrfachen Mordversuchs zu lebenslanger Haft verteilt und 1989 begnadigt worden. Zuvor aber, das kam Jahre später heraus, hatte sie beim Verfassungsschutz ausgepackt. Nun geht es um die Frage, ob sie vom Rücksitz eines Motorrads aus Generalbundesanwalt Buback erschossen hat. Neue Ermittlungergebnisse und die akribischen Recherchen von Bubacks Sohn hatten sie auf die Anklagebank gebracht.

Was wurde aus jenen RAF-Mitgliedern, die 1977 das System stürzen wollten? Ergraute Männer und Frauen, Hartz-IV-Empfänger oder bereits Rentner. Peters beschreibt sie als Leute, die ideologisch immer noch in ihrer Welt aus RAF-Zeiten eingebunkert sind. Rolf Heißler, inzwischen 59 Jahre alt, erwiderte bei einer Veranstaltung auf die Frage, ob er mit den Hinterbliebenen der RAF-Attentate Kontakt aufgenommen habe, mit der Gegenfrage: „Warum sollte ich?“

Die Kontakte der RAF zur Stasi, die Geschichte der RAF-Aussteiger in der DDR, alles ist Teil von Peters’ Chronik. Der Jurist erklärt aber auch, weshalb der Rechtsstaat selbst RAF-Topleute wie Brigitte Mohnhaupt begnadigen kann, ohne dass die frühere RAF-Chefin auspacken oder auch nur bereuen muss.

Schwächen hat das Buch in Kleinigkeiten. Peters beschreibt zum Beispiel den Baader-Meinhof-Prozess als Chaos, bei dem Angeklagte die Richter obszön beschimpften und ihre Rechtsanwälte wilde verbale Attacken führten. Stimmt ja auch, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Dieser Prozess hatte auch Tage, an denen alles gesittet und ruhig ablief.

1982 stießen – offiziell – Pilzsucher auf das vergrabene RAF-Zentraldepot bei Heusenstamm. Dort lag eine Hinweisliste auf weitere Erddepots. Die Liste führte die Fahnder zu den weiteren Verstecken. Allerdings waren das nicht 18, wie Peters schreibt, sondern nur elf. An einem, dem Depot „Daphne“ im Sachsenwald bei Hamburg, wurde der RAF-Killer Christian Klar festgenommen.

Peters schreibt zwar nüchtern, im Stil einer Dokumentation, aber durch die vielen Details liest sich das Buch sehr flüssig. Dankenswerterweise hat er auf jenen abgehackten Stil verzichtet, den er partiell noch im „Tödlichen Irrtum“ und in seinem Bad-Kleinen-Buch hatte.

Es war ein Satz, der Klaus Pflieger elektrisierte. Und er bereitete ihm tiefe Genugtuung. Peter-Jürgen Boock, Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), gestand dem Bundesanwalt Pflieger 1992 in einer Vernehmung, dass er bei der Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer geschossen hatte. Vier Begleiter starben am Tatort. Boock hatte immer behauptet, er habe kein Blut an den Fingern. Pflieger hatte im Prozess gegen Boock wegen des Falls Schleyer die Anklage vertreten, der „Spiegel“ hatte den Eindruck erweckt, Boock werde dabei Opfer eines unfairen Verhaltens der Staatsanwaltschaft. Das frühere RAF-Mitglied erhielt trotzdem lebenslang. Und nun, Jahre später, dieses Geständnis. Boock hatte gemerkt, dass Leugnen keinen Sinn mehr macht. RAF-Aussteiger hatten über ihn ausgepackt.

Pflieger, inzwischen pensioniert, beschreibt das Geständnis als einen seiner beruflichen Höhepunkte. Mit seinen „Erinnerungen eines Staatsanwalts“ ergänzt er die Literatur über Terrorismus und Extremismus. Pflieger war Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft, Chef der Staatsanwaltschaft Stuttgart und württembergischer Generalstaatsanwalt. Er war beteiligt an diversen RAF-Ermittlungen und -Prozessen, aber auch Verfahren gegen Rechtsextreme. Oktoberfest-Attentat, tödlicher Brandanschlag von Rechtsradikalen in Mölln, Brandanschlag auf eine Synagoge in Lübeck, aber auch ein Mord des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) – alles seine Fälle. Er schildert die Probleme, die Erfolge, die frustrierenden Momente aus Sicht eines Strafverfolgers.

Pflieger hegte früh Bedenken gegen den Vietnamkrieg und Umweltzerstörung. Er liefert eine differenzierte Darstellung, keine persönliche Heldengeschichte. Dazu noch einen Hauch Gesellschaftskritik. Die rigiden Maßnahmen des Staates im Jahr 1977, als die RAF mit maximalem Einsatz kämpfte, sind für ihn überzogene Reaktionen des Rechtsstaates. Er warnt sehr deutlich vor einer Wiederholung dieser Reaktionen, auch in Zeiten islamistischen Terrors.

Pflieger schreibt keine fesselnde Kriminalgeschichte, er hat einen eher nüchternen Stil. Kein Unterhaltungsbuch, aber eine informative Quelle über RAF-Terror und rechtsextreme Gewalt.









Klaus Pflieger:

Gegen den Terror.

Erinnerungen eines Staatsanwalts. Verrai

Verlag, Stuttgart 2016.

403 S., 19,80 €.

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