Geschichte: Die Nacht von Stammheim
Am 18. Oktober 1977 bringen sich drei führende RAF-Mitglieder in ihren Zellen um. Ein Mythos entsteht. Wie kamen die Waffen ins bestgesicherte Gefängnis Europas? Und was wusste der Staat? Manche Fragen sind bis heute offen.
Die Nacht von Stammheim hat Horst Bubeck verschlafen. Er war daheim im Bett, bei seiner Frau. Es gab Zeiten, aufgewühlte Zeiten, man glaubt es kaum, da haben sich diese beiden Sätze tatsächlich gelesen wie ein Alibi; Zeiten, in denen das Undenkbare ernsthaft für möglich gehalten wurde, weil Unvorstellbares passiert war, weil Ereignisse kulminierten in jener Nacht, an Orten, die nur schwer einsehbar waren.
Es waren Zeiten, in denen nicht wenige dem Staat, der gerade die größte Krise seiner Geschichte durchlief, alles zutrauten. Und Horst Bubeck war Teil dieses Staates. Die Nacht von Stammheim war die Nacht, in der der Deutsche Herbst endete. Es war, auch wenn zwei Jahrzehnte des Terrors noch folgen sollten, in jenen frühen Morgenstunden des 18. Oktober 1977, der Anfang vom Ende der Rote Armee Fraktion. Und es war der Beginn eines Mythos. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die führenden Köpfe der RAF, hatten sich in ihren Zellen im siebten Stock des Hochsicherheitstraktes von Stuttgart-Stammheim das Leben genommen. Jeder für sich allein. Und doch im Kollektiv.
Horst Bubeck war der Erste, der davon erfuhr.
Um 7 Uhr 40 an jenem 18. Oktober 1977 erreichte ihn, Bubeck, stellvertretender Vollzugsdienstleiter von Stammheim, der erste Anruf in seinem Büro. Fast im Minutenrhythmus kamen die Todesnachrichten aus dem siebten Stock: Baader erschossen, Raspe erschossen, Ensslin erhängt.
Was sich zutrug in jener Nacht, ist hinreichend rekonstruiert, jedenfalls gründlich genug befreit von jenen Zweifeln, die vor allem im linksradikalen Milieu lange Zeit die These vom Mord an den Gefangenen stützten. Interessanterweise wurde im inneren Zirkel der RAF, obwohl durchdrungen von enormer autosuggestiver Kraft, an diese Version ohnehin nie geglaubt: Baader, Ensslin, Raspe, hieß, nach einer äußerst kurzen Zeit der Irritation, die in jenen Kreisen durchaus zufrieden stellende Erklärungsvariante, hätten „ihre Situation“ bis zum letzten Moment selbst bestimmt. Die Ikonen der RAF – stets Herr ihrer selbst und nie in auswegloser Situation. Immer nur Täter, niemals Opfer. „Das Projektil sind wir“, hatte Andreas Baader einmal gesagt. Nun hatten sie die Projektile gegen sich selbst gerichtet.
Doch der Mythos der Nacht von Stammheim ist damit nicht verweht.
Wie auch? Er nährt sich selbst, so wie es häufig ist bei spektakulären Todesfällen, dem Mord an John F. Kennedy etwa oder dem Tod von Lady Di. Es ist die Spielwiese der Wichtigtuer, der Verschwörungstheoretiker, all jener, denen die von Interessen geleitete Wahrnehmung wichtiger ist als die Wahrheit. Da gab es viele beim Thema RAF, sehr viele. Die 70er Jahre waren die Zeit des ideologischen Kampfes, bereits in den ersten Stunden nach Bekanntwerden der Nachricht wurden die Toten von Stammheim instrumentalisiert. Doch der Mythos nährt sich, auch weil das Unfassbare just in jener Situation geschah, in der der Staat eigentlich die totale Kontrolle über jene Gruppe hätte haben sollen, die sich selbst zum Staatsfeind Nummer eins erklärt hatte, die, unfassbar auch das, aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Stammheim heraus zudem noch Taktgeber für den Terror draußen sein konnte. Ausgerechnet Stammheim! Modernstes Gefängnis Europas, eigens errichtete Trutzburg gegen den Terror. Horst Herold, der damalige Chef des Bundeskriminalamtes, hat die Todesnacht von Stammheim unlängst „eine Katastrophe für den Staat“ genannt. Das war sie – ein Dokument einer bis dato nie und auch danach nie wieder gekannten Ohnmacht. Oder war die nur vorgeschoben?
30 Jahre danach bewegt noch immer die Frage die Gemüter, wie geheim jene finale Kommandoaktion tatsächlich war, bei der die führenden Köpfe der RAF Hand an sich selbst legten. Wer wusste wie viel? Oder anders: Wer wollte es so genau nicht wissen? In der Tat: Kein Gefängnis der Welt kann auf lange Sicht den Selbstmord eines zum Äußersten entschlossenen Häftlings verhindern. Eine konzertierte Aktion indes schon. Und: ein Staat, angespannt bis zum Zerreißen, herausgefordert, als ob es um seine Existenz ginge – kann es sein, dass dieser Staat ausgerechnet in diesen Wochen der Eskalation nicht so genau hinschaut? Der Terror im Terrorjahr ’77 mit den Morden an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und dem Bankier Jürgen Ponto hatte mit der Entführung Schleyers und der Entführung der „Landshut“ eine weitere Eskalationsstufe erreicht.
War das, was in jener Nacht in Stammheim passierte, also jener „Selbstmord unter staatlicher Aufsicht“, wie es das ehemalige RAF-Mitglied Karl-Heinz Dellwo mittlerweile mutmaßt? Dann hätte jemand von den per Anwaltspost in die Zellen geschmuggelten Waffen gewusst – und mit dem Suizid derer kalkuliert, die erkennen mussten, dass sie den selbst angezettelten Krieg verloren hatten. Dellwo hat Indizien gesammelt, die ihn schlussfolgern lassen, dass der Waffenschmuggel in jenen Tagen nicht verborgen hätte bleiben können.
Oder war es am Ende doch jener innerlich aufgeriebene, im siebten Stock in Stammheim bis zur Groteske konfus agierende Rechtsstaat, der Fehler um Fehler beging und so das Undenkbare erst möglich machte?
Wann die Todesnacht von Stammheim exakt begann, ist unklar. Viel spricht dafür, dass sie um 0 Uhr 38 ihren Auslöser hatte, jenen Moment, in dem der Deutschlandfunk erstmals die Nachricht von der erfolgreichen Geiselbefreiung in Mogadischu vermeldete, das Stürmen der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch Spezialkräfte der GSG 9. In Zelle 716 verfügt Jan-Carl Raspe über ein kleines Transistorradio. Raspe, der Technikfreak, wird zum Transporteur der fatalen Niederlage für den Führungszirkel der RAF. Die Hoffnung auf Freiheit ist gestorben. Mit der geglückten Aktion durch die GSG 9 war für die Gefangenen von Stammheim auch diese Erpressung gescheitert, nachdem sich die Regierung von Helmut Schmidt zuvor in den sechs Wochen während der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer unnachgiebig gezeigt hatte.
Ob Andreas Baader in seiner Zelle tatsächlich ein letztes Mal das Kommando zum kollektiven Selbstmord gab, etwa mit jenen zwei Schüssen, die er zunächst in seine Matratze und in die Wand von Zelle 719 abfeuerte, ist nicht sicher. Es ist auch nicht wichtig, eine Fußnote allenfalls – für jene, die auf RAF-Binnenlogik spezialisiert sind. Viele hätten Baader diese Tat zu jener Zeit nicht zugetraut. Er galt als Aufschneider, als jemand, der die von anderen abgeforderte Radikalität an sich selbst nie so konsequent exekutiert hatte, etwa bei Hungerstreiks. Doch nur kurze Zeit später schießt Baader ein drittes Mal, er hat den Lauf der Waffe an seinen Hinterkopf gepresst und drückt mit dem Daumen ab. Es soll wie eine Hinrichtung aussehen. Auch Raspe schießt sich in dieser Nacht in den Kopf, blutüberströmt, aber noch am Leben, wird er am anderen Morgen gefunden. Er stirbt im Krankenhaus, wenige Minuten nach seiner Einlieferung.
In Zelle 720 schneidet Gudrun Ensslin ein Lautsprecherkabel ab, knüpft es zur Schlinge und erhängt sich an ihrem Zellenfenster. Es ist „der Tod Ulrike Meinhofs“, schreibt Willi Winkler in seinem Buch „Die Geschichte der RAF“. Das ist er – ein finaler Akt verzweifelter, RAF-interner Symbolik, mit dem Ensslin den Weg ihrer Intimfeindin geht. Die „Stammheimer“, so sieht es Dellwo, unternahmen „einen letzten Tritt gegen die Macht, von der sie sich völlig befreit sahen“. Der Interpretationsraum ist damit geöffnet. Dellwo, nach der Botschaftsbesetzung von Stockholm selbst bereits in Haft, sieht darin Jahre später die Botschaft an die verunsicherten RAF-Genossen: „Beendet es oder findet einen Inhalt für euch!“ Beides gelingt nicht. Der Terror geht weiter, in zweiter, in dritter Generation, selbst von einsitzenden RAF- Mitgliedern als sinnentleert empfunden. Mehr als zwei Jahrzehnte sollen noch vergehen bis zur Auflösungserklärung der RAF im Jahr 1998.
Nur Irmgard Möller überlebt die Nacht von Stammheim, schwer, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Mit einem Messer hat sie sich viermal in die Brust gestochen. Noch nach ihrer Freilassung, Ende 1994, nennt sie die Version vom versuchten Selbstmord“ eine „Schweinerei“. Möller will in jener Nacht im Schlaf überfallen worden sein, geblendet von grellem Licht. Sie ist davon nie abgerückt und stürzt Jahre später noch die einstigen Kampfgenossen in Interpretationsnöte. Wer vom Selbstmord überzeugt ist, gilt als „verhetzt“.
Für Horst Bubeck, den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter, gibt es am Morgen des 18. Oktober wenig Zeit zum Nachdenken. Er führt Telefonate im Minutentakt, peinlich darum bemüht, dass Ministerien, Bundesanwaltschaft, Bundeskriminalamt die Nachricht vom Tod der Stammheimer nicht aus den Medien erfahren. Erst später schaudert er bei der Vorstellung, dass die in den Zellen versteckten Waffen auch gegen ihn und seine Kollegen hätten gerichtet werden können. Doch einstigen RAF-Mitgliedern erscheint gerade diese Variante absurd. „Die Wärter bedrohen?“, fragt einer, „wir machen uns doch nicht lächerlich“. Noch immer ist die Logik der damaligen Zeit schwer zu decodieren. Welten prallten aufeinander – eine Bedrohung der Wärter, etwa für einen Ausbruchsversuch, wäre nach RAF-Logik schon deshalb Unsinn gewesen, weil der Staat alle Beteiligten, Täter und Geiseln, jederzeit bereitwillig geopfert hätte.
Horst Bubeck erinnert sich an die Anspannung der Stammheimer RAF-Häftlinge in jenen Tagen der Schleyer-Entführung. Ein Showdown-Szenario entwickelte sich mit einem gereizten Baader, der von der Möglichkeit redete, dass es Tote geben könne, mit einer nervösen Ensslin – vielleicht hätte man es spüren können, aber das ist die Betrachtung mit dem Wissen um das Ende. Mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten verschärfte sich die Haftsituation, die zuvor zu Propagandazwecken als „Isolationsfolter“ bezeichnet worden war. Doch erst mit Beginn der Schleyer-Entführung, sagt Bubeck, „hatten sie die Haftbedingungen, die sie vorher immer behauptet hatten“. Bubeck weiß noch, wie Ensslin in jenen Tagen beim Besuch eines Anwalts davon gesprochen habe, dass für den Fall, dass ihr etwas zustoße, wichtige Unterlagen in einem orangefarbenen Schnellhefter zu finden seien. Die Szene ist merkwürdig, denn Ensslin bittet Bubeck, ihr den Schnellhefter zu reichen, und der merkt dabei, dass er leer ist. Wird in diesem Moment augenscheinlich eine falsche Spur gelegt, um im Nachhinein von Anwaltsseite behaupten zu können, Unterlagen seien vernichtet worden?
Vielleicht ist ein anderes Ereignis die Schlüsselszene. Während der SchleyerEntführung verlangten die Gefangenen, mit dem Staatsminister im Kanzleramt, Manfred Schüler, zu sprechen. Bubeck erinnert sich, wie Baader, offenkundig enttäuscht darüber, dass aus Bonn lediglich ein Ministerialbeamter geschickt wurde, kurz vor dem Treffen mit den Worten „Ich muss schiffen“ noch einmal zur Toilette ging und dort länger als nötig blieb. Ist Baader in jenem Moment vom Plan einer Geiselnahme abgerückt, weil, RAF-Logik, der entsandte Beamte ihm dafür nicht hochkarätig genug erschien? Karl-Heinz Dellwo glaubt, dass Schüler vom Besuch in Stammheim abgeraten wurde, weil in jener Zeit längst bekannt war, dass in den Zellen Waffen vorhanden waren. Wenn ja, woher?
Beweisen kann Dellwo das nicht. Doch er präsentiert eine Indizienkette. Volker Speitel spielt dabei eine tragende Rolle. Speitel, Kurier der RAF, hatte zusammen mit Dellwos Bruder Hans-Joachim für den Waffentransport nach Stammheim gesorgt, die Pistolen waren in ausgehöhlten Leitzordnern der Verteidiger geschmuggelt worden. Speitel, der später als Kronzeuge in RAF-Prozessen fungierte und schon 1979 mit einer neuen Identität ins Ausland gebracht wurde, hatte sich, auch das merkwürdig genug, bei seiner Einreise von Dänemark nach Deutschland just zu Zeiten der Schleyer- Entführung widerstandslos festnehmen lassen. Umtriebig wurde in jenen Wochen versucht, die Szene abzuschöpfen, dem in den Niederlanden festgenommenen Knut Folkerts etwa hat man eine Million Mark für Hinweise auf den Aufenthaltsort Schleyers angeboten. Speitels Vernehmungen durch die Bundesanwaltschaft aber datieren offiziell erst auf die Zeit nach der Todesnacht von Stammheim, exakt auf den 18. Oktober. Karl-Heinz Dellwo findet das „aberwitzig“. „Ausgerechnet zu Speitel, von dem bekannt war, dass er der Verbindungsmann zu den Illegalen war, soll keiner gegangen sein und ihm was angeboten haben?“, fragt Dellwo in seinem Buch „Das Projektil sind wir“ (Edition Nautilus).
Vielleicht war das gar nicht mehr nötig. Vielleicht waren jene letzten Tage im Deutschen Herbst tatsächlich Chaostage, schwer zu durchschauen in ihrer vielschichtigen Irrationalität. Vielleicht aber hatte der Anschein des Chaos auch Methode. In Stammheim, wo sich die RAF- Häftlinge – technisch seltsam gut ausgestattet – über ein ausgetüfteltes Kommunikationssystem von Zelle zu Zelle verständigen konnten, war in Zeiten des Baader-Meinhof-Prozesses abgehört worden. Schwer vorstellbar, dass ausgerechnet während der Schleyer-Entführung, in jenen Wochen des akuten Staatsnotstandes, darauf nicht zurückgegriffen worden sein soll. War es so, dann hätte die Nacht von Stammheim ihre heimlichen Zeugen gehabt.
Mythen nähren sich aus solchen Möglichkeiten.
Andreas Baader wird 1972 verhaftet und wegen mehrerer Sprengstoffanschläge und vierfachen Mordes am 28. April 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Gudrun Ensslin gilt neben Baader und Meinhof als Gründungsmitglied der RAF. 1972 verhaftet, kriegt sie wie Baader fünf Jahre später lebenslänglich.
Jan-Carl Raspe gilt als Bombenbastler der RAF.
1972 zusammen mit Baader verhaftet, auch für ihn lautet 1977 die Strafe lebenslänglich.
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