Vogelschutz: Die Fluglotsen von Toronto
Millionen Zugvögel fliegen entlang der Großen Seen. An den Fenstern der kanadischen Metropole endet für viele die Reise. Aktivisten helfen den Tieren. Sie haben schon viel erreicht – und könnten Vorbild sein.
Um Besucher davon zu überzeugen, dass Toronto ein ernsthaftes Problem hat, muss Michael Mesure nur vom Schreibtisch in seinem Büro in Downtown aufstehen und in die Kammer nebenan gehen. Dort öffnet er den Deckel einer großen Kühltruhe, die bis an den Rand gefüllt ist mit toten Vögeln. 400 oder 500 mögen es sein, sie stecken in durchsichtigen Plastiktüten. Aktivisten von Mesures Organisation „Flap“ haben die Tiere in den vergangenen Wochen auf den Straßen von Kanadas größter Stadt eingesammelt.
Behutsam nimmt der muskulöse 50-Jährige einige Vögel heraus. Einen Rosenbrust-Kernknacker zum Beispiel und eine wood thrush, verwandt mit der Wanderdrossel. Die meisten sind kaum größer als seine Hand. „Schauen Sie, ein Kanadawaldsänger, ein Männchen. Wirklich schön sind die“, sagt er und deutet auf das Gefieder des Tieres. Die Oberseite ist blaugrau, die Unterseite gelb mit schwarzen Flecken auf Höhe der Brust. Beide Augen sind von leuchtend gelben Ringen umschlossen.
Mesure liebt Vögel, seit er ein kleiner Junge war. Er findet Trost darin, dass die Tiere aus seiner Truhe wenigstens nicht im Müll landen, sondern für Forschungszwecke ans Royal Ontario Museum ein paar Blocks weiter nördlich gehen. Trotzdem sei ihr Tod tragisch: „Der Kanadawaldsänger ist sogar eine bedrohte Art.“ Im Sommer leben diese Vögel in den feuchten Mischwäldern zwischen British Columbia und Nova Scotia. Den Winter verbringen sie im warmen Mittel- und Südamerika, manche schaffen es bis nach Brasilien. Dann, auf der Rückreise, lassen sie erneut die Grenzen vieler Länder hinter sich. Nur um, wie Mesure sagt, „fast am Ende dieser unglaublichen Reise gegen eine Scheibe zu knallen und zu sterben“.
Viele zehntausend Mal passiert das jedes Jahr in Toronto. Es trifft rund 170 Arten, vor allem Sing-, aber auch Greifvögel. Das hat zum Teil mit der Lage der Stadt am Ufer des Lake Ontario zu tun, einem der fünf Großen Seen, die durch Flussläufe miteinander verbunden sind. Zugvögel orientieren sich unter anderem an Wasserwegen, und die lokale Vegetation ist attraktiv für sie. Manche legen hier einen Zwischenstopp ein. Durch den Großraum, die Greater Toronto Area (GTA), führen gleich zwei wichtige Zugwege.
An wenigen Orten der Welt ist das Problem so genau dokumentiert
Früher stellte sich den Tieren kaum etwas entgegen, bloß 30 000 Einwohner hatte Toronto Mitte des 19. Jahrhunderts. Heute leben 5,6 Millionen Menschen in der GTA. Von den Einwanderern, die ins multikulturelle Kanada strömen, lässt sich jeder zweite hier nieder. Mehr Einwohner bedeuten mehr Häuser – und mehr Häuser bedeuten, jedenfalls in der zeitgenössischen Architektur, mehr Glas. Für Zugvögel sind die Fenster eine Falle. Sie fliegen scheinbar Bäume und grüne Flächen an, die sich darin spiegeln oder durchs Glas zu sehen sind, und treffen mit voller Wucht auf das unerwartete Hindernis. Die Folge: schwere Verletzungen am Kopf, an Augen und Organen, Hirnblutungen. Einheimischen Tieren passiert das seltener, sie sind offenbar besser an die Situation angepasst.
Ob der Vogelschlag in Toronto verheerender ist als etwa in Chicago am Lake Michigan oder in Europas Metropolen, lässt sich schwer sagen. An wenigen Orten der Welt ist das Problem, das überall dort existiert, wo mit Glas gebaut wird, so genau dokumentiert wie hier. Und keine andere Großstadt hat bisher mehr dafür getan, es zu lösen.
Dass Toronto international zum Vorbild werden könnte, ist vor allem das Verdienst von Michael Mesure und seinen Helfern. Früher verkaufte Mesure Kunst und Antiquitäten. Ende der 80er Jahre erzählte ihm jemand von den Vögeln, die jeden Morgen vor den Wolkenkratzern im Financial District von Wachpersonal oder Putzkräften aufgelesen werden. Mesure glaubte es nicht, bis er es selbst sah. Er sagt, das ginge den meisten so: „Viele haben mal einen toten Vogel vorm Fenster gefunden, das wirkt wie ein Einzelfall, da kann man sich die Ausmaße, die das Ganze hat, nicht vorstellen.“
Jeden Morgen machen sich bis zu 60 Vogelschützer auf zur Patrouille
Bald darauf begann er, häufiger im Morgengrauen durchs Zentrum zu ziehen und verletzten Tieren zu helfen – anfangs in der Überzeugung, die nächtliche Beleuchtung sei das Hauptproblem. Heute weiß er: Das Licht lockt die Vögel zwar an und hinterlässt sie desorientiert, der Aufprall aufs Glas findet in der Mehrzahl aber erst am Tage statt. 1993 gründeten Mesure und eine Handvoll Mitstreiter Flap, das „Fatal Light Awareness Program“. Es war die erste Organisation weltweit, die sich ausschließlich diesem Thema widmete. Seitdem hat Flap 70 000 Vögel gesammelt, 40 Prozent konnten gerettet werden.
Derzeit schwärmen in Toronto regelmäßig bis zu 60 Freiwillige in verschiedenen Vierteln aus, sie steuern Gebäude an, die als besonders schlimm gelten. Die meisten starten kurz vor Sonnenaufgang, manche sind bis zum Mittag unterwegs. Mit dabei haben sie Kescher, Handschuhe und Beruhigungsmittel. Noch lebende Vögel werden in Papiertüten verstaut und möglichst rasch in ein Wildtierzentrum gebracht.
Schwerpunkt ist die Zeit des Vogelzugs, von Mitte März bis Juni und von Mitte August bis Ende Oktober. Unter den Aktivisten gebe es Hausfrauen ebenso wie Anwälte und Schulkinder, sagt Mesure. „Ein Freiwilliger kann am Tag 20 Tiere finden, zu Spitzenzeiten sogar 100. Im Herbst sind es mehr als im Frühjahr, auch das Wetter spielt eine Rolle.“ Sein traumatischstes Erlebnis war ein Thanksgiving-Wochenende, als an einem einzigen Gebäudekomplex innerhalb von sechs Stunden mehr als 500 Vögel herunterkamen. Während des laufenden Vogelzugs hat Flap – Stand: 30. Oktober – 1561 tote und 384 verletzte Tiere gezählt.
Michael Mesure läuft nur noch selten Patrouille, er konzentriert sich jetzt auf Öffentlichkeitsarbeit. An diesem Mittwochmittag spaziert er durch Downtown, um gefährliche, aber auch sehr vogelfreundliche Gebäude zu zeigen.
Torontos Straßensystem ist schachbrettförmig angelegt. Typisch für viele neighbourhoods sind schmale, viktorianische Reihenhäuser aus Backstein. Zugleich besitzt die Stadt eine Unmenge Häuser, die über 30 Meter messen: 2200 sind es in der GTA. Mehr zählt in Nordamerika nur New York. Toronto gilt oft als kleine, beschaulichere Variante der US-Metropole. Ausschlaggebend sei weniger die Höhe, sagt Mesure, sondern eher die Bauweise dieser Hochhäuser mit ihren großen, durchgehenden Glasfronten und spiegelnden Fassaden. „Die meisten Zusammenstöße passieren auf den ersten 16 Metern, etwa auf Baumhöhe.“
Jedes Tier wird in eine Datenbank aufgenommen, mit Datum und Fundort
Der Vogelschützer überquert die Queen Street West, eine der Hauptschlagadern im Stadtkern, viel befahren von Autos und den nostalgisch anmutenden Straßenbahnen. Er betritt einen Wolkenkratzer und klopft gegen die Scheiben des verglasten Innenhofs. Dort ist ein japanischer Garten angelegt, in der Mitte fließt Wasser in einen Teich. So idyllisch wie das wirkt, ist es nicht. „Die Vögel werden vom Grün und vom Plätschern angezogen, fliegen hinein, nehmen das Spiegelbild des Gartens im Glas wahr und stoßen dagegen.“ Nicht nur in Kanada ist es schick, Gebäude und deren unmittelbare Umgebung zu begrünen, um ihnen einen ökologischen Anstrich zu geben. Ausgerechnet diese Häuser sind, wenn nicht zugleich der Vogelschutz bedacht wird, besonders tödlich.
Als Mesure wieder aus dem Wolkenkratzer hinaustritt, sind draußen Möwen zu hören. „Die warten auf verwundete Zugvögel, um sie zu fressen.“ Das sei ein Grund, warum Vogelschlag oft unsichtbar bleibe. Auch Krähen und Katzen können verletzte Tiere blitzschnell wegschleppen.
Wenn Flap eines geschafft hat, dann, das Problem sichtbar werden zu lassen. Umstrittenen Schätzungen zufolge gibt es allein in Nordamerika jährlich bis zu einer Milliarde Vogelschlag-Opfer. In Toronto wird jedes aufgelesene Tier in einer Datenbank verzeichnet, mit Datum und Fundort. So sind über einen einzigartig langen Zeitraum einzigartig viele Fakten zusammengekommen. Unklar bleibt, was für Auswirkungen der Vogelschlag auf die einzelnen Populationen hat. An Glasscheiben verenden junge und gesunde Tiere ebenso wie alte und schwache, und von den in Toronto gefundenen Arten wird jede achte offiziell als bedroht eingestuft. Trotzdem sind Experten der Ansicht, die Zerstörung natürlicher Lebensräume wiege weitaus schwerer als diese Unfälle.
Michael Mesure findet, dass man so oder so etwas unternehmen müsse. Seine Lobbyarbeit hat die Aufmerksamkeit für das Thema stark erhöht und mündete 2010 in eine städtische Verordnung. Diese schreibt nun vor, dass zumindest die ersten zwölf Meter aller Neubauten in Toronto vogelfreundlich gestaltet sein müssen.
Seit 2010 müssen alle Neubauten vogelfreundlich sein
Mit einem Greifvogel-Aufkleber, wie man ihn in Deutschland oft sieht, ist es nicht getan: Weder nehmen Singvögel die Silhouette als Feind wahr, noch sind sie in der Lage, von einem schwarzen Klecks auf die Existenz einer Scheibe zu schließen. Damit ein Vogel versteht, dass es kein Durchkommen gibt, braucht es ein relativ enges Muster aus Linien oder Punkten mit starker Kontrastwirkung. Zwischen (vertikalen) Spalten sollten zehn, zwischen (horizontalen) Reihen fünf Zentimeter Abstand sein. Die Entwicklung von Glas, das für den Menschen durchsichtig ist, für Vögel aber ein Muster erkennen lässt, steht noch am Anfang. Ansonsten gilt zum Beispiel: Je mehr Streben ein Fenster hat, desto besser. Milchglas hilft garantiert. Auch Markisen sind von Vorteil – so wie Lampen, deren Lichtkegel auf den Bereich, wo es Helligkeit braucht, fokussiert sind, anstatt die Beleuchtung zu streuen.
Der Chef der regionalen Architektenvereinigung beklagt sich auf Nachfrage nicht über die Vorschriften. Es gebe weder einen Verlust an Kreativität noch einen Anstieg der Kosten, sagt er. Die Architekten hätten eng mit der Stadt zusammengearbeitet, sie fühlten sich als Pioniere. Schließlich würden andere kanadische Städte Torontos „vogelfreundliche Entwicklungsrichtlinien“, die der Verordnung vorangingen, gerade kopieren.
Mesure freut sich, auch wenn der Effekt der Verordnung bisher kaum abzuschätzen ist, „und die Bauunternehmen haben viel Macht“. Ihn stört aber, dass bestehende Gebäude von der Regelung ausgenommen sind. Dabei ließen sie sich leicht umrüsten. Das örtliche Unternehmen „Convenience Group“ bietet unter dem Namen „Feather Friendly Technology“ individuell zugeschnittene Folien mit Mustern an, die den Vogelschlag um 90 Prozent reduzieren. Sie werden aufs Fensterglas geklebt wie teilweise transparente Werbung auf Busse und halten mindestens sechs Jahre. Einige Gebäudebesitzer haben sie nach gutem Zureden und öffentlichem Druck schon installiert. Nicht zuletzt die Stadt: Die Fenster der City Hall, einem Bau von 1965, der aus zwei Türmen besteht, sind jetzt vogelfreundlich.
Eine Folie mit Mustern auf der Scheibe reduziert den Vogelschlag drastisch
Mesure zeigt dieses vorbildliche Beispiel, und dann ein problematischeres. An der Ecke King Street und Wellington steht das Toronto-Dominion Center (T-DC), Kanadas größter Gebäudekomplex. In den sechs Hochhäusern arbeiten 21 000 Menschen. Errichtet wurden sie ab 1967 nach Entwürfen von Mies van der Rohe. Das T-DC ist ein Schmuckstück, dunkel schimmern seine Türme, gut sichtbar von weither. Leider ist es auch ein Vogelfriedhof. An einem gläsernern Korridor auf Straßenhöhe wurden hier mittlerweile Folien angebracht, mit einem relativ dezenten Punktmuster. Das ist soweit alles. Wohl, weil der Besitzer die Kosten scheut – und die ästhetischen Folgen.
Wer weiß, ob überhaupt etwas passiert wäre, hätte die Umweltschutzorganisation „Ecojustice“ nicht einen Prozess angestrengt. Auch die Eigentümer jenes Komplexes, gegen den – unter den Augen von Michael Mesure – einst in kurzer Zeit 500 Vögel flogen, hat sie verklagt. Beide Male berief sich Ecojustice auf Kanadas „Environmental Protection Act“. Dabei legte man das Gesetz kreativ aus: Das von der Fassade reflektierte Sonnenlicht galt den Anwälten als verbotene Strahlung. Zwar konnte Ecojustice keinen Sieg erringen, denn den Eigentümern wurde angerechnet, dass sie in der Zwischenzeit Maßnahmen zum Vogelschutz eingeleitet hatten. Trotzdem ist Albert Koehl, Jurist bei der Organisation, zufrieden. Die Gerichte hätten bestätigt, dass Vogelschlag ein Problem ist – und die Gebäudebesitzer dafür verantwortlich sind. „Wir versuchen nun, die Regierung davon zu überzeugen, dass auch sie aktiv wird“, sagt Koehl.
Wie sieht die Situation in Deutschland aus? Verlässliche Zahlen zum Vogelschlag gibt es hierzulande kaum. Lars Lachmann vom Naturschutzbund erzählt, dass der Flughafen BER, obwohl noch gar nicht eröffnet, schon viele Vogelleben gekostet hat. „Ich vermute, dass vor allem Frankfurt und Hamburg betroffen sind, aufgrund ihrer Architektur.“ Für Städte wie diese sei eine Verordnung nach Torontoer Vorbild empfehlenswert. Im Einzelfall gibt es bei Neubauten in Deutschland bereits Auflagen zum Vogelschutz. Eine pauschale Regelung existiert jedoch nirgendwo.
Michael Mesure hat noch eine Bitte an die Deutschen. Flap – Inspiration für Aktivisten in vielen nordamerikanischen Städten –, reicht es nicht mehr, nur Vogelkollisionen in Toronto zu zählen. Auf der Website der Organisation kann und soll nun jeder Vogelschlag melden. Weltweit.