Medizin im alten Rom: Die Ärzte von Pompeji
Im antiken Imperium kümmerten sich mehr Mediziner um die Kranken als in manch modernem Staat. Die kaiserlichen Kassen reagierten mit Sparmaßnahmen.
Es war kein guter Tag im Leben des Aulus Pumponius Magonianus. Vielleicht war es sogar sein letzter. Am 24. August des Jahres 79 explodierte gegen Mittag der nahe gelegene Vesuv, riesige Mengen Asche und Bimsstein gingen wie ein Trommelfeuer auf die Dächer und Straßen der Provinzstadt Pompeji nieder.
Wer dem Grummeln des Berges zuvor keine Beachtung geschenkt und sein Heil bis dahin nicht in der Flucht gesucht hatte, dessen Aussichten waren sehr schlecht. Die Stadt und mindestens 2000 ihrer Bewohner wurden buchstäblich vom Erdboden verschluckt.
Für Archäologen war dieser Tag Jahrhunderte später jedoch ein Glücksfall. Er erlaubte ihnen Einblicke in die römische Welt vor 2000 Jahren, die sich nirgendwo sonst derart konserviert hatte. Schon bei einer der ersten Grabungen stießen sie auf ein vergleichsweise bescheidenes Haus, der Name des Besitzers, eben jener Magonianus, stand an der Außenwand. Welchem Gewerbe er nachging, da sind sich die Wissenschaftler einig: Er war Arzt.
Damals gab es mehr Ärzte pro Kopf als heute in der Türkei
Das war keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal in einer Stadt, die von Altertumsforschern auf 10 000 Einwohner geschätzt wird. Tatsächlich fanden sich ein Dutzend mutmaßlicher Arzthäuser. Geht man davon aus, dass nur zwei Drittel Pompejis ausgegraben wurden, käme man auf 18 für die gesamte Stadt.
Natürlich sagt das nichts über die Qualität der Behandlung aus, doch verglichen mit heutigen Statistiken praktizierten in Pompeji mehr Mediziner als aktuell in der Türkei mit 17 oder Albanien mit 13 Ärzten auf 10 000 Einwohner. Sollten sich mehrere Kollegen ein Haus geteilt haben, ist Großbritannien mit 28 Ärzten für 10 000 Einwohner nicht viel besser ausgestattet.
Einmal mehr erstaunt also der Zivilisationsgrad, den die Römer erreichten, ein Standard, der nach dem Untergang des Imperiums für Jahrhunderte verloren ging. Ebenso modern muten die Probleme an, die mit der Gesundheitsversorgung einhergingen. Sie wurde für die kaiserlichen Kassen offensichtlich zu teuer.
So ist aus der ansonsten ereignisarmen Herrschaft des Kaisers Antoninus Pius ein halbes Jahrhundert nach dem Untergang von Pompeji ein Edikt überliefert, nach dem die Zahl der steuerbegünstigten Arztstellen pro Gemeinde zu reduzieren war. Betroffen waren Mediziner, die sich von kommunalen Lasten befreit wohl zur unentgeltlichen Behandlung ärmerer Mitbürger verpflichteten. Der Medizinhistoriker Ralph Jackson vom British Museum sieht darin ein Indiz für die angespannte Kassenlage im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Gespart werden sollte künftig an der öffentlichen Gesundheitsversorgung.
Blieben die niedergelassenen Ärzte, mit denen Pompeji vielleicht überdurchschnittlich gut versorgt war. Schließlich lag die Stadt am Golf von Neapel nicht weit von Baiae, dem mondänsten Badeort des Imperiums, so etwas wie ein antikes Saint-Tropez. Aber dessen Glanz muss nicht bis hierhin gestrahlt haben. Ein anderer Augenzeuge, Plinius der Ältere, war als Kommandant der Flotte am Golf stationiert; er dachte bei Pompeji an schlechten Wein, von dem man einen furchtbaren Kater bekam. Wenn der Ort vor der Katastrophe für etwas berühmt war, dann als Produzent für Garum – die beliebte Fischsauce hatte vor 2000 Jahren den gleichen kulinarischen Stellenwert wie heute Ketchup. Nicht zu vergessen die Zuschauerausschreitungen im örtlichen Stadion 20 Jahre vor dem Untergang, von denen in antiken Chroniken berichtet wird. Vieles spricht also dafür, dass es sich um eine ziemlich durchschnittliche Provinzstadt handelte.
Archäologen entdeckten mehr als 60 chirurgische Instrumente
Die Praxis des Aulus Magonianus befand sich in guter Lage – in der Via dell’ Abbondanza, gleich hinter dem Forum, dem spirituellen und ökonomischen Zentrum, und noch im verkehrsberuhigten Teil der Stadt. Ob Magonianus jenen furchtbaren Augusttag im Jahre 79 überlebte und rechtzeitig rauskam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Die drei Skelette, die man in einem Nebenzimmer, sowie unter und vor der Treppe zu den Wohnräumen im Obergeschoss entdeckte, bezeugen allerdings, dass es hier Menschen gab, die es nicht mehr geschafft haben.
Gefunden wurde auch eine beträchtliche Anzahl von Glasfläschchen, Kassetten, kleinen Kochtöpfen und Mörsern, wie sie zur Herstellung von Medikamenten nötig sind. Darüber hinaus entdeckten die Archäologen mehr als 60 chirurgische Instrumente, auch ein sogenanntes speculum uteri, ein vergleichsweise kompliziertes Gerät mit Schraubgewinde, wie es Gynäkologen verwendeten. Was nicht bedeutet, dass Magonianus ausschließlich als Frauenarzt praktizierte, Fachärzte waren im alten Rom unbekannt.
In den anderen potenziellen Arzthäusern gruben die Archäologen ebenfalls eine Vielzahl verschiedenster Instrumente aus, von der Knochensäge über das Skalpell bis hin zu den unterschiedlichsten Sonden. Sie fanden eine Pinzette mit dem Stempel des Herstellers, eines gewissen Athangeus. Bemerkenswert an dem Fund ist, dass auch in Mainz und Trier Instrumente mit dem gleichen Stempel gefunden wurden, offenbar gab es spezialisierte Hersteller medizinischen Geräts mit Kunden überall im Imperium. Ähnliche Stempel wurden auch auf die Verpackung von Augensalben geprägt, die in der Antike getrocknet aufbewahrt und vor Gebrauch etwa in Öl gelöst werden mussten. Die Stempel nannten den Namen des Herstellers und gaben Aufschluss, wogegen die Salbe zu helfen versprach. Eine Art antiker Beipackzettel.
Ob es zivile Krankenhäuser gab, ist nicht sicher
Nicht weit von Magonianus praktizierte ein Mann namens Philippus. Wegen der Vielzahl kleiner Räume und der dort überall aufgefundenen Instrumente wurde sogar spekuliert, ob es sich um so etwas wie eine Klinik gehandelt haben könnte. Das wäre eine Sensation, denn für die Existenz ziviler Krankenhäuser gibt es bislang keinen Beleg.
Unbekannt blieb der Arzt, den man zwischen der Palästra, einer Art Trainingsplatz, und dem Stadion fand, kurz vor dem dortigen Stadttor. Die Skelette von 17 Menschen wurden dort freigelegt, offenbar in letzter Minute hatten sie versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Einer von ihnen trug fünf zylindrische Büchsen bei sich, darin unterschiedliche Sonden und Medikamente, außerdem ein Kästchen mit chirurgischem Besteck.
Für Plinius waren Mediziner bösartige Geschäftemacher
Von der anderen Seite des Golfs beobachtete Plinius der Ältere die Katastrophe. Wenn er den pompejanischen Wein kannte, ist es immerhin möglich, dass ihm auch der sterbende Arzt oder einer von dessen Kollegen nicht fremd war. Wahrscheinlich ist es nicht. Plinius, Autor einer Naturgeschichte, ging eigentlich nicht zum Arzt.
Für ihn stand fest, dass die Mediziner „ihr Geschäft mit unserem Leben treiben“, und zwar recht auskömmlich. Plinius nennt Zahlen, wonach es unter Ärzten wahre Großverdiener gab, 250 000 Sesterzen im Jahr wären keine Seltenheit. Ein stattliches Vermögen, wenn man bedenkt, dass 100 000 Sesterzen zum Aufstieg in die Oberschicht einer Provinzstadt berechtigten. Und das, obwohl sich die Heilkunst von Tag zu Tag wandele, die Ärzte dabei „durch unsere Gefahren lernen“, denn „einzig dem Arzt ist es vergönnt, vollkommen straflos einen Menschen umzubringen“, wie Plinius schimpfte.
Er ließ dabei keinen Zweifel, woher seine Skepsis rührt – und war sich darin mit zeitgenössischen Dichtern einig: Es gab im alten Rom keine Approbationsordnung, Mediziner mussten sich keiner Prüfung unterziehen, Scharlatanerie war alltäglich. Außerdem dürfte die Behandlung äußerst schmerzhaft gewesen sein, wenn der Chirurg etwa den Blasenhaken einführte, mit dem man wohl Harnsteine entfernte. Als Betäubungsmittel gab es Bilsenkraut oder Mohnsaft, deren Anwendung war aber riskant und schwer zu dosieren, weshalb der Operateur vor allem auf Tempo setzte. Und auch wenn Umschläge mit Wein, Honig oder Essig durchaus blutstillend und bakterizid wirkten, gegen schwere Wundinfektionen half, wenn überhaupt möglich, oft nur die Amputation. Trotzdem wagten sich römische Ärzte an Augen- und Schädeloperationen, eine Tortur für die Patienten.
Scharlatanerie war unter den Medizinern alltäglich
Die Skepsis des Plinius speiste sich aber noch aus einer anderen Quelle. Wie römische Philosophen vor ihm hegte er ein tiefes Misstrauen gegen griechische Wissenschaft, das sich bis zur Fremdenfeindlichkeit steigerte. Bedauerlich, denn das medizinische Wissen seiner Zeit kam nun einmal aus der damaligen griechischen Welt. Auch die besten Ärzte stammten von dort. Sie konnten sich auf ihren berühmten Landsmann berufen: Hippokrates, dessen Schriften noch Jahrhunderte nach seinem Tod im Jahr 370 vor Christus zur damaligen medizinischen Standardliteratur zählten.
Griechische Mediziner wirkten im ganzen Römischen Reich, nicht selten als Sklaven, die es trotz ihres minderen rechtlichen Status zu Wohlstand und Ansehen bringen konnten. Die Schriften des Plinius änderten daran ebenso wenig wie die Tiraden des alten Cato, der seinen Zuhörern weismachen wollte, es gebe eigentlich nichts, wogegen eine anständige Portion Kohl nicht helfen würde.
Es war Julius Cäsar, der als Erster die Anwerbung griechischer Ärzte förderte, ihnen Steuererleichterungen und sogar das Bürgerrecht versprach. Noch intensiver betrieb sein Nachfolger Augustus diese Politik, der erste Kaiser. Augustus war es auch, der mit seiner Heeresreform aus der römischen Legion eine Berufsarmee machte, deren Existenz bald alle Lebensbereiche beeinflusste. Dabei erkannte er schnell, dass die Kampfkraft der Truppe nicht bloß vom Training und einem auskömmlichen Sold abhing. Er darf als Begründer eines Sanitätswesens gelten, wie es die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte.
Das Legionslazarett in Xanten fasste 60 Krankenzimmer
Die Organisation unterstand dem praefectus castrorum, dem zweithöchsten Offizier einer Legion. Es gab Chirurgen und Augenärzte in der Truppe, in nahezu jedem Legionslager im gesamten Imperium fanden Archäologen mindestens Spuren des Valetudinariums, des Legionslazaretts. Das in Xanten zum Beispiel war aus solidem Kalkstein errichtet, mit architektonischem Schmuckwerk und Säulen an der Eingangsfront versehen. Darin waren 60 Krankenzimmer untergebracht, jedes mit exakt 14,3 Quadratmetern Grundfläche für vermutlich drei Patienten. Da in vielen derartigen Lazaretten 60 Zimmer nachgewiesen wurden, handelte es sich wohl um ein Standardmaß. Die Valetudinarien lagen in der Regel neben dem Stabsgebäude, also in einem ruhigeren Teil des Lagers. Die Legion unterhielt sogar eigene Heilbäder. Das Sanitätswesen war hierarchisch gegliedert, vom Vizebefehlshaber über den Arzt im Offiziersrang bis runter zum Sanitäter, dem Capsarius, benannt nach der Capsa, einem zylindrischen Behälter, in dem er das Verbandszeug transportierte.
Allein schon für diese anspruchsvolle Organisation war das Imperium auf den Import von Ärzten angewiesen, weil es unter Römern kaum genügend geeignete Bewerber geben konnte. Und wenn auch bis heute kein einziges den Valetudinarien vergleichbares ziviles Krankenhaus entdeckt wurde, so gab es für andere Bevölkerungsschichten vielleicht keine gleichrangigen, aber ähnliche Einrichtungen, etwa die Krankenstationen in den großen Latifundien, den römischen Landgütern. Mit Humanismus hatte das nichts zu tun, eher mit Ökonomie, befanden sich unter den dort arbeitenden Sklaven doch schwer zu ersetzende Fachleute. Und noch eine weitere Gruppe auf der untersten Stufe der sozialen Hierarchie durfte auf medizinische Betreuung hoffen: die Gladiatoren. Sie mussten ihre Knochen zur Volksbelustigung hinhalten, ein guter Gladiator aber konnte zum wertvollen Star aufsteigen. So gab es selbst in ihren Kasernen eine Arztstation.
Auch um die Gladiatoren kümmern sich Ärzte
Es war denn auch der berühmteste Arzt der römischen Epoche, Galenos von Pergamon, genannt Galen, der sein Gewerbe jahrelang in einer solchen Kaserne ausübte, bevor er zum Leibarzt des Kaisers Marc Aurel aufstieg. Galens Diagnostik, seine sogenannte Säftelehre – bevorzugt betrachtete er Blut und Urin, um seine Aussagen treffen zu können –, blieb für Jahrhunderte das Maß aller Medizin, auch wenn sich etwa der Aderlass, das Abzapfen von Blut, für geschwächte Patienten fatal auswirken konnte. Galen wurde 50 Jahre nach dem Ausbruch des Vesuvs geboren, entging so dem Furor des strengen Medizinkritikers Plinius.
Der versuchte als Flottenkommandant in letzter Minute, Flüchtlingen aus Pompeji per Schiff zu Hilfe zu kommen, zu spät, er musste abdrehen. Plinius der Ältere starb im Angesicht der Katastrophe ganz in der Nähe am Strand vor der Villa eines Freundes. Es wurde über giftige Vulkangase spekuliert. Die Symptome deuten aber eher auf einen Herzinfarkt. Ob ein Arzt bei dem 56-Jährigen war, ist nicht überliefert.
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