Eine Vorlesegeschichte: Der Zirkus-Traum
Franzi und Fips sitzen ganz dicht an der Manege, den Bären und der Messer-Jongleurin. Doch irgendetwas ist diesmal anders …
Akrobaten schwingen an Seilen durch die Luft, es gibt einen Aufschrei
"Hey, wieso sind wir schon wieder im Zirkus?“, wundert sich Philipp. Und irgendetwas wirkt dieses Mal auch ein bisschen unheimlich.
Erst gestern war er ja mit Mama und Papa und seiner Schwester Franziska in dem großen Zirkus gewesen, der in ihrer Stadt Halt gemacht hat. Fips und Franzi, wie die Geschwister gerufen werden, sind neun und sechs. Alle zusammen waren sie in der Abendvorstellung gewesen, als es draußen längst dunkel war und die bunten Lichter des Zirkus schon von Weitem leuchteten.
Franzi findet die Tier am schönsten
Fips liebt am meisten die Artisten und Jongleure und auch die Zauberkunststücke. Franzi dagegen findet die Tiere am schönsten, vor allem die wilden, die unter Trommelwirbeln durch einen Gittergang kommen. Diesmal hatte es Schneetiger gegeben, drei weißgraue Tiger, die mit drei Löwen durch die Manege sprangen und vom peitschenknallenden Dompteur auf einem Podest zu einer Katzenpyramide verlockt wurden.
Mama und Papa hätten das Wort „verlockt“ wahrscheinlich zu milde gefunden. Mama konnte sich später auch eine Bemerkung zu „Drill“ oder „Dressur“ und „Käfighaltung“ nicht verkneifen.
„Im Zoo“, meinte Franzi, „gibt es auch Käfige! Trotzdem sind die Tiere meist lustig. Nur die Löwen und Tiger liegen immer so faul rum und pennen. Aber hier im Zirkus haben sie mega gut miteinander gespielt!“ Franzi zog ihre Nase voller Sommersprossen kraus und nickte bekräftigend mit ihrem Lockenkopf, während Fips sie kurz katerhaft anfauchte. Auch er mag Tiger und Löwen, aber wirklich nur hinter Gittern. Mehr begeistern ihn Seiltänzerinnen hoch oben unterm Sternenzelt der Zirkuskuppel oder ein Clown, der laut niest und sich die rote Gumminase putzt, während er fünf Bälle oder Keulen um sich herumwirbelt oder auf der Clownsglatze balanciert.
Mit Essen spielt man doch!
Fips kann selbst bereits mit drei Mandarinen jonglieren, das ist lustiger als nur immer mit Bällen und provoziert Papa jedesmal wie einen Papagei zu dem Satz „Philipp, mit Essen spielt man nicht!“. Tut man aber doch. Weshalb sogar der Papa-Papagei lachen muss. Und der ganze Zirkus, das fanden auch Mama und Papa, war eine coole Show.
Nur jetzt, beim zweiten Mal, kommt es Fips im Zirkus so vor, als verändere sich manchmal der Raum. Plötzlich schrumpft das große blaue Zelt mit den goldenen Sternen, und einer der Sterne fliegt auf ihn zu und nimmt ihn auf und mit sich. Da fliegt Fips selber durch den hohen, weiten Raum, um gleich danach, mit einem Paukenschlag der Kapelle, erneut auf seinem Sitz vor der Manege zu landen. Und neben ihm hockt Franzi und flüstert in all dem Lärm der Menschen und Musikanten, in das sich auch ein Brummen und Knurren von Tieren mischt, das Wort „Tiger“.
„Siehst du welche?“, fragt Fips.
„Nein, ich glaube, die Tiger sind heute die Bären“, sagt Franzi. Sie scheint etwas enttäuscht. Tatsächlich trotten zwei braune Bären vor ihnen durchs Rund. Es gibt kein Schutzgitter mehr, und die beiden Bären tragen um ihre Hälse schwere Glocken, die klingen wie Kuhglocken. Ein Dompteur lässt die Bären Männchen machen, sich im Kreis drehen und ruft sie mit ein paar heiseren Worten zu sich heran.
Aufrecht tapsen die beiden zu dem Mann und legen ihre Pfoten um ihn. In dieser bärenstarken Umarmung ist der schmale Dompteur nun nicht mehr zu sehen. Dazu gibt es einen Trommelwirbel.
Plötzlich ist der Dompteur verschwunden
Dann treten die Bären wieder auseinander, und der Dompteur bleibt verschwunden. Franzi und Fips springen auf, wie kann das sein? Aber vielleicht war das nur eine Zirkuszauberei. Jedenfalls geht die Vorstellung weiter. Doch als die Akrobaten an ihren Seilen und Schaukeln durch die Luft schwingen, gibt es einen jähen Aufschrei im Publikum, denn einer der Artisten, den die Hand eines anderen verfehlt, stürzt herab in die Manege.
Nun hallen die Zuschauerschreie in Philipps Kopf. Er sucht seine Eltern, aber er und Franziska sind allein in der Vorstellung. Der Zirkusdirektor im schwarzen Frack und weißen Spitzhut, den die Clowns als Don Giovanni vorgestellt haben, wischt mit einer kurzen Handbewegung durch die Luft, und wieder herrscht Stille. Don Giovanni tritt zur Seite, und man sieht: Die Mitte der Manege, wo eben der Artist herabgestürzt war, ist leer.
„Allez hopp, bitte Musik!“ Einer der Clowns wirft dem Direktor aus der Kulisse eine Geige, dann einen Bogen zu, und Don Giovanni beginnt in dem großen schweigenden Rund eine sanfte, langsam anschwellende Melodie zu spielen. Währenddessen tanzt eine junge Frau in einem spiegelnden Goldanzug ins Scheinwerferlicht, dreht sich ein paar Mal im glitzernden Kreis und fängt von den Clowns immer mehr Bälle auf. Giovannis Gefidel wird immer schneller im Takt der auf- und abfliegenden Bälle, in die sich auch bunte Keulen mischen. Fips kann gar nicht mehr zählen, wie viele Teile die Jongleurin so am Wirbeln hält.
„Da, schau nur!“ Franzi ist wieder aufgesprungen und deutet zur Manege. Sie hat als Erste bemerkt, dass einige der Jonglierkeulen inzwischen zu blitzenden Messern geworden sind, welche die Jongleurin allein an den Griffen zu fassen versucht.
Die Hände bluten
Und schon ist es passiert. Kein Aufschrei diesmal. Aber die Hände der Jongleurin bluten, auch ihr goldener Anzug ist jetzt rot verschmiert. Don Giovanni tritt vor die Jongleurin, lässt seine Geige sinken, und nun sehen Franzi und Fips, dass er schwitzt und ihm die weiße Schminke mitsamt den schwarzen Augenrändern verläuft. Er nimmt kurz seinen Hut ab und fährt sich mit einer Hand über Gesicht und Haar.
„The show must go on!“ Diesen Satz des Zirkusdirektors hat Fips schon in seinem Grundschulenglisch gelernt. Also geht die Show weiter, indem eine lackierte Kiste auf einem Gestell in die Manege gebracht wird. Don Giovanni öffnet eine Klappe, die Kiste ist leer. Eine Assistentin steigt von oben in die Kiste, wieder öffnet der Direktor die Klappe, und man sieht die Frau etwas eingezwängt in der Kiste liegen. Klappe zu, zwei Eisenketten werden drumherum gelegt. Und eine blutrote Samtdecke obendrauf. Dann kommen die Sägen und Schwerter.
Fips und seine kleine Schwester kennen das. „Die zersägte Jungfrau“ oder so ähnlich heißt die Nummer. Sie haben das auch schon draußen auf Jahrmärkten gesehen, beim Eis- und Zuckerwatteschlecken. Der Trick muss was mit der Kiste zu tun haben. Denn bisher hat die zerstochene und zersägte Jungfrau das immer überlebt.
Ein Blick wie ein Laserstrahl
Aber plötzlich sind sich Fips und Franzi da nicht mehr sicher. Fips sieht, wie Don Giovanni der Schweiß in die Augen rinnt, wie seine Hand mit dem Schwert zittert. Er sieht auch, dass Giovannis Blick, als er das erste Schwert in die Kiste rammt, starr ins Publikum gerichtet ist. Ein Blick wie ein Laserstrahl, der auf einen zweiten Laser zu treffen scheint. Auf einen stärkeren, bösen Blick.
Fips stößt Franzi neben sich an und entdeckt unter den Zuschauern zwei Reihen weiter einen Mann in einem schwarzen Frack, ohne Hut, ohne Schminke, aber mit einem sehr bleichen Gesicht und dunklem Haar. Dieser Mann, der dem Zirkusdirektor ähnlich sieht, starrt herüber zu Don Giovanni.
„Natürlich“, schreit der Zirkusdirektor jetzt auf, „du bist es, Silvio! Ich erkenne dich da vorne im Parkett, du bist zurückgekehrt! Der gernegroße Silvio! Immer warst du mein neidischer Bruder, neidisch, weil du weniger gut musizieren, jonglieren, zaubern konntest als ich!“ Der Zirkusdirektor schnauft. „Jetzt glaubst du, dein böser Blick könnte mir hier die Vorstellung vermasseln, aber …“
„Oh ja“, zischt der Mann im Publikum zurück, „das wird deine letzte Vorstellung sein. Du wirst als Totstecher im Gefängnis landen!“
Der Mann namens Silvio fixiert seinen Bruder mit einem höhnischen Lachen, als der Zirkusdirektor mit einem Zittern der Hand gerade das zweite Schwert erhebt.
Fips springt auf und turnt über den Rand der Manege
„Halt, lass das Schwert!“ Es ist Philipps Aufschrei. Er springt hoch, turnt rüber zum Rand der Manege und stellt sich mutig zwischen die Blicke der feindlichen Brüder.
„Fort mit dir, geh mir aus den Augen!“, brüllt der Mann im Parkett. Doch Fips spürt in sich eine Zauberkraft und blickt in die glühenden, rötlich unterlaufenen Augen des Fremden. Ohne mit der Wimper zu zucken. Fips denkt, ich bin wie die Schlange Ka aus dem „Dschungelbuch“, die den magischen Blick hat. Aber ich bin eine gute Schlange!
So hält er den Blick des anderen aus – bis dieser mit einem Zornschrei sich abwendet und aus dem Zirkus stürzt, hinaus in die Nacht.
„Hey, was schaust du mich so an?“, fragt jetzt Franziska, die sich am Morgen in ihrem Bett gegenüber von Philipp den Schlaf aus den Augen reibt. Dann lacht sie ihren Bruder verwundert an. Der große Fips, den sie manchmal auch Fipsi nennt, lächelt etwas benommen zurück.
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