A la carte am Ende?: Der Koch als Bestimmer
In Berliner Szenelokalen heißt es neuerdings: Gegessen wird, was auf den Tisch kommt! Dankbar, nicht mehr auswählen zu müssen, bestellen die Gäste das eine, feste Menü. Ein Trendbericht.
Das Restaurant, über das gerade alle reden, sieht gar nicht aus wie ein Restaurant. Von außen ist die Glasfront mit weißen Vorhängen verhangen, statt eines großen Schildes über der Tür klebt ein ganz kleines im Schaufenster. Wer rein will, muss klingeln, als wollte er in eine Flüsterkneipe. Und drinnen: stehen keine Tische. Stattdessen zieht sich ein langer, mit Spots beleuchteter Holztresen durch den abgedunkelten Raum, der die offene Küche umrahmt.
Was das Restaurant aber von den allermeisten unterscheidet, merkt man erst, wenn man an einem der 26 Plätze sitzt. Es gibt keine Speisekarte. Nur ein Menü. Zehn Gänge für 80 Euro, Wasser inklusive. Natürlich serviert man Alternativen für Vegetarier und Veganer, nimmt Rücksicht auf Allergien und Unverträglichkeiten. Ansonsten gilt: Keine Ausnahmen. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt.
Wie im Theater
Da ist man streng im Nobelhart & Schmutzig, der ambitioniertesten Neueröffnung des Jahres. Nur ein Menü anzubieten, war von Beginn an klar, erzählt Billy Wagner, der flamboyante Wirt. „Ich will, dass die Leute ein Thema mitkriegen – von Anfang bis Ende.“ Brutal lokal nennt er den Stil. Nur was gerade in der Gegend wächst, kommt auf den Teller und zwar direkt von ausgewählten Bauern. Wenn dort der Rosenkohl aus ist, nehmen sie einen neuen Gang ins Menü, statt woanders Rosenkohl kaufen.
Lange war die Berliner Gastronomie relativ trendresistent. Das hat sich in den vergangenen Jahren gründlich geändert. Eine Neueröffnung kommt ohne markantes Alleinstellungsmerkmal nicht aus. Gutes Essen allein reicht nicht mehr, man braucht auch eine gute Geschichte. Und aktuell scheint das feste Menü die beste Erzählung zu bieten.
Im schwer angesagten Dóttir, wo die 27-jährige Victoria Eliasdottir mit ihrer nordischen Küche für Furore sorgt, gibt es ebenfalls nur vier Gänge für 58 Euro, die im Wochentakt wechseln. Sonst nichts. Auch im Pauly Saal, im Studio Tim Raue und im Zeitgeist hat der Gast nur bei der Zahl der Gänge die Wahl. Die große Karte, früher Zeichen guter Gastlichkeit, scheint hoffnungslos out zu sein. Und der Trend ist kein Berlin-Ding. Im August eröffnete der Drei-Sterne-Koch Kevin Fehliner in Hamburg The Table. Dort serviert er nur ein Menü und das auch noch nur zu zwei Uhrzeiten. Man kann um 19 und um 20 Uhr kommen. Wie im Theater.
Kuratiertes Essen
Und im Nobelhart & Schmutzig? Da kann man kommen, wann man will, kriegt aber ebenfalls eine sorgsame Inszenierung geboten. Der Raum ist dunkel wie ein Club, auf einem Dual-Plattenspieler aus den 70er Jahren läuft die erste Platte von The XX. Eine Bedienung mit einer Art Kimono reicht heiße Tücher. Dann zwei Keramikteller, darauf ein Mini-Kohlrabi mit Blättern und Butterbröseln und geräucherter Aal mit süßlichem Essig-Gelee und scharfen Sprossen. Die seien in Friedrichshain gezogen worden, erklärt die Bedienung. Und man solle bitte mit den Händen essen. Wäre auch gar nicht anders möglich. Besteck ist nämlich noch nicht am Tisch. Die Botschaft des ersten Akts: Hier geht es nicht nur um regionale Küche. Hier geht es um etwas Grundsätzliches.
Den nächsten Gang, eine kalte Karottensuppe mit Kamille und Rahm, würde wohl kaum einer bestellen, wenn sie auf einer Speisekarte stehen würde. Das wäre allerdings ein Jammer. Sie schmeckt erstaunlich: süß, frisch, vollmundig. Eine Spannung, die komplett ohne weitere Gewürze entsteht. Oder das Rote Bete-Püree mit Fenchel, noch ein Höhepunkt des Menüs. Das ist die Mission: „dass die Leute nicht in ihren Gewohnheiten und Vorlieben stecken bleiben“, wie Billy Wagner es formuliert.
Das schmeckt nicht jedem. Heinz Horrmann, Grandseigneur der Gastrokritik, fühlt sich von dem Konzept auf den Seidenschlips getreten: „Der Gast soll bekommen, was er sich wünscht und nicht, was der Restaurateur glaubt, ihm aufzwingen zu müssen“, schrieb er.
Überraschung erwünscht
Möglicherweise hat der Nörgler da die Rechnung ohne den Gast gemacht. Viele scheinen genau das zu wollen: sich mal nichts wünschen zu müssen, die Entscheidung abzugeben, überrascht zu werden. Das sieht man bei der Getränkefrage. Es gibt zwar eine buchdicke Weinkarte – aber kaum jemand verlangt nach ihr. Das Gros der Gäste wählt die Weinbegleitung, die Wagners Paradedisziplin ist.
Das kuratierte Essen und Trinken trifft offenbar einen Nerv. Überraschend ist das schon in Zeiten atomisierter Ernährungsgewohnheiten, wo in einem Gespräch über Essen spätestens nach drei Sätzen Worte wie Gluten, Laktose oder Histamine fallen, und jeder, der kein Veganer ist, meint, betonen zu müssen, wie selten er doch Fleisch esse. Vielleicht liegt genau hier der Reiz des festen Menüs. Da freut sich eine kulinarische Müdigkeitsgesellschaft, dass endlich mal jemand sagt: Das wird jetzt gegessen.
Das junge Publikum möchte ein Gesamterlebnis
Sicher ist es auch eine Generationenfrage. Das Publikum im Nobelhart & Schmutzig oder im Dóttir ist deutlich jünger als in anderen Restaurants dieser Preisklasse. Und deutlich hipper. Es scheint eine andere Erwartung an das Essen zu haben. Statt einer großen Auswahl will es eine spitze Aussage, ein Gesamterlebnis. So funktionieren auch viele Supperclubs oder Pop-up-Dinner, bei denen immer ein Themenmenü serviert wird, oft nur ein einziges Mal.
Isst man etwa bei Dylan Watson in seinem Supperclub Ernst in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Wedding, bekommt man 22 Gänge, streng an der Saison orientiert. Nur was ganz frisch und perfekt gereift ist, serviert der 24-Jährige Kanadier, der das Kochen in einem japanischen Drei-Sterne-Restaurant gelernt hat und einen entsprechend hohen Produktfetischismus pflegt. Die Entscheidung abzugeben, hat in Japan eine lange Tradition. Bestellt man Omakase, was so viel heißt wie „Ich vertraue dem Koch“, übernimmt eben dieser die Auswahl der Gerichte. Der Gast erwartet im Gegenzug ein innovatives Menü mit den besten Zutaten.
Ein Menü ist besser kalkulierbar
In der internationalen Spitzenküche ist das Konzept-Menü schon länger eine eigene Kunstform, von Ferran Adriàs El Bulli bis zum Kopenhagener Noma, dem wichtigsten Restaurant der letzten zehn Jahre. Dort bekommt man einen Einblick in den Originalitätszwang in der Spitzengastronomie: Im Noma brät der Gast sich sein eigenes Spiegelei. In New York begleiten Kellner einzelne Gänge mit Kartentricks. Legendär ist Heston Blumenthals Gericht „Sound of Sea“: Auf einen stilisierten essbaren Strand – Seeigel, Austern, Algen – sowie molekular nachempfundenen Meeresschaum und Sand kommt eine Muschel, in die ein iPod eingebaut ist mit Meeresrauschen. Wer so viel Brimborium um einen einzigen Gang erfindet, will auch sicherstellen, dass der nicht nur zweimal am Abend über den Pass geht.
Auf solche Spezialeffekte verzichtet das Dóttir in Berlin-Mitte schon aus Prinzip. Edelprodukte kommen hier kaum auf die Teller. Stattdessen Kabeljau aus der Ostsee, neue Kartoffeln aus Brandenburg, ein mit Dill mariniertes Lamm mit Nordseekrabben und Knäckebrot. Es gehe ihr um den „clean taste“, erklärt Victoria Eliasdottir. Der Geschmack der Produkte solle möglichst unverfälscht sein, wie in der nordischen Küche üblich. Dafür braucht man die allerbeste Ware.
„Der anstrengendste Tag ist der Dienstag“, sagt Eliasdottir. Da kocht sie zum ersten Mal das Menü, das sie eine Woche vorher zusammengestellt hat. Durch den wöchentlichen Rhythmus hat sie mittlerweile viele regelmäßige Gäste. „Mich hat überrascht, wie offen die Leute doch sind. Beschwerden, dass es keine Auswahl gibt, bekommen wir selten.“
Das Beste am festen Menü: Sie muss fast nichts wegwerfen, kann die Waren präzise einkaufen. A la Carte wäre das nicht möglich, weil man nie genau weiß, was die Gäste bestellen. Da bleibt immer was übrig. Für die Küche ist ein Menü auch einfacher zu bewerkstelligen. Bei 50 Gästen pro Abend bräuchte sie bei einer umfangreicheren Karte einen vierten Koch. Oder sie müsste die Gerichte vereinfachen.
Könnten all die Restaurants mit ihrem festen Menü wieder verschwinden, wenn der Neuigkeitswert sinkt? Wollen die Leute wieder Speisekarten, wie es sie manchmal heute noch beim Chinesen gibt, mit 500 Positionen? Dagegen spricht einiges. Diverse Italiener haben schon lange Erfolg damit. Die Lavanderia Vecchia etwa oder die Hosteria del Monte Croce. Seit mittlerweile 30 Jahren serviert das Lokal in der Mittenwalder Straße genau das – ein festes Menü. Keine Ausnahmen. Jeden Abend voll.
Felix Denk
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